Vorweg etwas Persönliches: Dies ist eine fehlerbehaftete, unfertige, nie fertigzustellende Skizze. Hinter jeder neuen Einsicht tauchen drei neue Fragen auf. Kein Wunder, Rousseau ist der komplizierteste Mensch der neueren Geistesgeschichte Europas. Seit er seine Werke schrieb, wird über ihn gestritten. Noch heute ist er so einflussreich, aber auch umstritten wie kein anderer Grosser der europäischen Geistesgeschichte. Hier in sieben Teilen der Versuch eines Liebhabers (Amateurs), die Widersprüche in ihm und die Streitereien um ihn nicht zu beenden – das ist unmöglich -, aber sie sachlich auszubreiten und ausgewogen zu beurteilen. Dass da eine individuelle Wertung mitspielt - eine Zuneigung, ist zu merken - und unumgänglich.
Literatur und Quellen
Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social. Verlag Hachette Littérature 1972, Le Livre de poche, Collection Pluriel. Mit zwei Essais des Herausgebers Bertrand de Jouvenel (französischer Intellektueller 1903-1987). De Jouvenel hat in diese Ausgabe viele Entgegnungen von Zeitgenossen aufgenommen, unter anderem den zitierten Protest Voltaires: « Je ne me donne point à mes concitoyens sans réserve. Je ne leur donne point le pouvoir de me tuer et de me voler à la pluralité des voix.» Rousseau hatte geschrieben, die „Klausel“, welche die Glieder dieses Sozialvertrags bindet, bedeute „l’aliénation totale (totale Hingabe) de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté...“
Thomas Maissen, NZZ 23.6.2012: Das glücklichste Volk auf Erden? Rousseau und die Schweiz.
Heiner Hug: Serie in sieben Teilen über Rousseau. www.journal21.ch, Juni-Juli 2012, Rubrik „Kultur“
Robert Spaemann: Rousseau – Mensch oder Bürger. Das Dilemma der Moderne. Klett-Kotta 2008. Zusammenstellung von vier früher erschienenen Aufsätzen über Rousseau.
Fischer Weltgeschichte Band 26, Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780-1848. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1969.
I. Rousseau und die Folgen. Gute und schlechte!
Hat Rousseau dem Totalitarismus den Weg bereitet? Hat er Robespierre zum Glauben geholfen, er dürfe Tausende guillotinieren, Hitler und Stalin zu ihrer Schreckensherrschaft? Noch dreihundert Jahre nach seiner Geburt wird über diese Frage heiss gestritten. Heiner Hug hat sie schon am 25.Juni im sechsten Teil seiner Serie unter dem Titel „Der Subversive, der Revolutionär, der Utopist“ behandelt. Hier eine weitere Auseinandersetzung mit dieser provokativen Behauptung..
Totalitär? Was schrieb denn Rousseau?
Der in Heidelberg lehrende Schweizer Historiker Thomas Maissen komprimierte die These vom totalitären Rousseau in der NZZ vom 23.Juni 2012 (Studie über seine Nachwirkung in der Schweiz) in vier Sätze, welche das zentrale Konzept des „Contrat social“ von 1762 wie folgt zusammenfassen: Auf Dauer, behaupte Rousseau, trete das Gemeinwohl überall sichtlich hervor, „und es bedarf nur gesunder Vernunft, um es wahrzunehmen“. Maissen zeigt dann, wie gefährlich diese Logik ist, denn ihr Umkehrschluss heisse: „Es gibt ein unzweideutig bestimmtes Gemeinwohl, und wer es nicht wahrnimmt, ist unvernünftig. Ihn muss man also belehren, dem einheitlichen allgemeinen Willen unterordnen – oder guillotinieren.“
Wenn das stimmt, ist es hochgefährlich!
Wenn diese Sätze Rousseaus Gedankenwelt tatsächlich wiedergeben: dann ist sie hochgefährlich. Die von solchen Thesen gestützte, bei Robespierre direkt inspirierte Überzeugung hat extreme Täternaturen wie ihn und später die Faschisten, Nationalsozialisten und Stalinisten zum überzeugten oder auch nur (Stalin) vorgespiegelten Glauben verleiten können, ihre Sicht von Politik und Gesellschaft sei die absolut und einzig vernünftige - und dieser Glaube verschaffte ihnen die Einbildung oder den Vorwand, sie dürften eine Diktatur errichten und alle Oppositionellen hinrichten. Rousseaus Sätze haben ihnen auch noch das gute Gewissen verschafft, der Menschheit damit Gutes zu tun, nämlich dem Ideal dieses „Gemeinwohls“ zu dienen, welches allen Bürgern das höchstmögliche Glück bringen werde!
Diese Lesart Rousseaus ist kompromisslos zu bekämpfen. Doch Maissen fügt hinzu, sein Umkehrschluss sei „nicht die einzig mögliche Leseweise“. Schauen wir unbefangen in Rousseaus Werke hinein, dann sehen wir: Neben solch totalitärschwangeren Gedanken fordern seine Schriften Freiheit, Demokratie, Natürlichkeit und Spontaneität, Naturnähe und verständnisvolle Behandlung von Kindern. Beide Lesarten haben 250 Jahre weitergewirkt, die mit schrecklichen und die mit guten Folgen. Die letzteren haben die moderne Menschheit auf den verschiedensten Gebieten gewaltige Schritte vorangebracht.
Aber auch: Wir verdanken Rousseau unsere direkte Demokratie!
Von den weitreichenden positiven Wirkungen dieser Schriften aus dem 18.Jahrhundert zehren wir noch heute in einer Breite, die den wenigsten bewusst ist. Gerade in der Schweiz, auf welche sich Maissens Artikel über die Nachwirkungen Rousseaus konzentriert: „Rousseaus demokratische Verheissung bleibt im 19.Jahrhundert gegenwärtig... Rousseaus Anhänger betonen die direktdemokratische Mitwirkung an der politischen Herrschaft... Rousseau ist ein impliziter Wegweiser zur demokratischen Gleichheit, die über die kantonalen und nationalen Verfassungskrisen zum Bundesstaat von 1848 führt...“ Mit anderen Worten: Rousseau ist der Wegbereiter unseres Bundesstaates! Und der direkten Demokratie, die in der Welt einzigartig ist und sie inspirieren sollte, damit das 21.Jahrhundert gut endet!
Historisch verpflanzen? Das darf man nicht
Würde Rousseau seine Thesen zum „Gemeinwohl“ heute äussern, dann müsste ihm scharf entgegnet werden, daraus könne man den totalitären Staat ableiten. Er hat das aber 1762 geschrieben. Die Ankläger, die sich nur auf Rousseaus „Contrat social“ stürzen, reissen ihn aus dieser historischen, seiner reellen Umgebung heraus. Sie verpflanzen ihn in eine andere Zeit, deren Diskussionen und Argumente er nicht kannte, nicht kennen und nicht beantworten, nicht diskutieren, annehmen, ablehnen, widerlegen oder nuancieren konnte. In unsere Zeit! Sie widersprechen seinen Sätzen, wie wenn er sie gestern in der Zeitung geschrieben hätte.
Rousseau hat aber im 18.Jahrhundert gelebt. Starb 1778, die Revolution und Robespierres Terreur, also die schrecklichen Konsequenzen seiner Thesen erlebte er nicht mehr. Seine Gesprächspartner und –Gegner waren nicht Politologen von heute, sondern die in einsam-bürgerferner Höhe diskurierenden Intellektuellen des 18.Jahrhunderts.
Voltaires Ahnung...
Von ihnen allen ahnte einer, dass die „volonté générale“ und der „contrat social“ zu totalitären Schlussfolgerungen führen könnten: Voltaire! Rousseau hatte im „Contrat social“ (6.Kapitel des ersten Buchs) geschrieben, jedes Mitglied der Volksgemeinschaft müsse sich ihr mit seinen sämtlichen Rechten hingeben, denn wenn sie demokratisch beschliesse, sei sie perfekt und kein Einzelner habe mehr das Recht zu reklamieren. Voltaire sieht darin das Recht der Gemeinschaft, jemand mit Abstimmungsmehrheit zum Tod zu verurteilen, und kommentiert: „Ich gebe keiner Abstimmungsmehrheit die Macht mich zu töten!“ Er sieht das richtig.
Selbst Voltaire sah aber in diesen Sätzen nur das theoretische Risiko, dass Abstimmungen jemand zum Tod verurteilen könnten, nicht eine Aufforderung zur Gewalt gegen Andersdenkende. Und er glaubt sowieso nicht an eine nachhaltige Wirkung Rousseaus, er spottet über seine Einbildung, einen Einfluss auf den Gang der Welt zu haben: „Er (der Abbé de Saint-Pierre) war so verrückt wie du zu glauben, seine Bücher würden zu Revolutionen führen“. Hier irrt Voltaire.
Unvorsätzlich totalitär
Damit ist Rousseau aber nicht freigesprochen. Den Totalitarismus-Kritikern ist zuzugeben: Ein von der totalen Wahrheit seiner Ideen überzeugter Diktator wie Robespierre konnte aus diesen Sätzen dreissig Jahre später in der Revolution die Berechtigung herauslesen, allen, die sich seiner Vorstellung vom Gemeinwohl widersetzten, unter der Guillotine den Kopf abzuschlagen. Tausenden. Nach Heiner Hug hatte Robespierre stets den Contrat social in seiner Tasche!
Ist Rousseau auch für diese totalitäre Schlussfolgerung verantwortlich? Ein Richter würde sagen: Ja, aber es fehlt der Vorsatz. Dieser Jean-Jacques kann mildernde Umstände beanspruchen. Wahrscheinlich fehlt ihm, denke ich, jedes Gespür dafür, dass man aus seinen Sätzen diese unmenschlichen Konsequenzen ziehen kann. Aber reicht das, um ihn vom Vorwurf freizusprechen, mit dem Contrat social habe er Tatmenschen zu Unmenschlichkeiten inspiriert? Das ist hier die Frage. Sie ist unbeantwortbar. Die Tatsache, dass das so war, ist revoltierend. Die Tatsache, dass er diese Konsquenzen nicht sah, spricht ihn moralisch frei. Aber auch historisch? Anhänger Rousseau sehen das letztere, die Gegner das erste. Sie werden sich nie einigen.
II. Im Elfenbeinturm des 18.Jahrhunderts
Rousseau totalitär? Vorsätzlich nicht, aber seine hochintellektuellen Thesen können dazu führen. Er kann mildernde Umstände beanspruchen: Seine Zeit und seinen Charakter.
Seine Zeit: Philosophen diskurierten im Jahrhundert Rousseaus allein oder untereinander in einsamer intellektueller Höhe ohne Bodenhaftung über Fragen und Postulate, die erst zwanzig Jahre später politisch explodierten, als sie von Demagogen den Massen verkündet wurden. Wenn wir die Gedankenfolgen und Thesen aus dem Elfenbeinturm des 18.Jahrhunderts heute lesen, kommen sie uns gestelzt vor, ohne Blick auf Politik und Gesellschaft. Fern lag ihnen die Frage, welche Konsqeuenzen man daraus für das praktische Leben von Gesellschaft und Staat ziehen könnte.
Sophistische, abstruse Beweisführungen
Über viele Seiten ziehen sich Beweisführungen hin, die uns abstrus-unnötig anmuten. Um auf sein Thema zu sprechen zu kommen, definiert es Rousseau zuerst in den ersten Kapiteln des „Contrat“. Redet dann von der „Sklavenschaft“ bis hin zur nonchalant hingeworfenen, mit keinem Wort kommentierten Behauptung, der Herr sei genau so versklavt wie sein Sklave. Dann von der Familie, der ältesten aller Gesellschaften und der einzig natürlichen. Dann von den „ersten menschlichen Gesellschaften“. Dann vom „Recht des Stärkeren“ und nochmals ausführlicher von der Sklavenschaft. Dann äussert er das Postulat, am Anfang aller Politik müsse eine einstimmig verabschiedete Übereinkunft der Bürger stehen.
Das wäre schon revolutionär, doch ihm reicht das noch nicht zum Beweis, das Volk stehe über dem König, er muss das noch weitläufig begründen: „Ein Volk, sagt Grotius (Begründer des modernen Völkerrechts im 17.Jahrhundert), kann sich einen König geben. Nach Grotius ist also ein Volk ein Volk, bevor es sich einem König übergibt. Diese Übergabe ist ein gesellschaftlicher Akt, er setzt eine öffentliche Debatte voraus. Bevor man den Akt untersucht, mit welchem ein Volk einen König wählt, müsste man also den Akt untersuchen, der aus einem Volk ein Volk macht...“ Hier endlich, aber immer noch in rein intellektueller Diktion, wird Rousseau revolutionär: Auch die Unterordnung unter einen Monarchen braucht eine „Convention des Citoyens“! Und noch immer ist die Begründung rein rationalistisch: Bevor über das Verhältnis von Fürst und Volk beschlossen werden kann, muss zuerst das Volk beschliessen, dass es ein Volk ist! In reiner Logik demonstriert: Erst nachher kommt der Beschluss, ob man einen König wolle.
Ein revolutionäres Postulat. Endlich!
Nach dreizehn Seiten solcher Präliminarien kommt also ein revolutionäres Postulat. Nicht als politische Forderung formuliert! Aber es wird zur Revolution von 1789 führen: der absolutistische König der Franzosen darf König nur sein - und bleiben! -, wenn es einer Mehrheit seiner Untertanen passt! Im „Contrat social“ ist es noch bloss die Schlussfolgerung aus einer intellektuellen Gedankentänzerei, welche nur die auf gleicher Höhe philosophierenden Zeitgenossen wie Voltaire anspricht, aber noch lange nicht die Massen aufwiegelt. Revolutionär, politisch explosiv wurde das erst nach zwei Jahrzehnten, als sich in der französischen Nationalversammlung die Vertretung des Bürgertums (der „Dritte Stand“) zur dominierenden Mehrheit erklärte und souveräne, nicht dem Gutdünken des Monarchen unterworfene Beschlüsse fasste, die von den Nachfolgern bis zur dessen Hinrichtung 1993 radikalisiert wurden.
Und dann diskutiert Rousseau Zustandekommen und Wirkung der Beschlüsse der Gemeinschaft, Abstimmungen, Mehrheiten und die absolute Pflicht der Unterlegenen, sich jedem Beschluss zu unterziehen, samt dem ausführlichen Beweis, dass sie nur so Mitglieder der Gemeinschaft sind und ihr und sich damit Gutes tun. In diesen Sätzen ist die Beweisführung enthalten, die Voltaire so aufgebracht hat, weil Rousseau auf luftiger theoretischer Höhe auch die Pflicht statuiert, sich einem Todesurteil zu unterziehen, wenn es die Mehrheit beschliesst: „Die Klauseln dieses Gesellschaftsvertrags beschränken sich selbstverständlich auf eine einzige, nämlich die totale Übergabe jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an die ganze Gemeinschaft; denn erstens, da sich ihr jeder ganz übergibt, ist die Bedingung die gleiche für alle, und wenn die Bedingung für alle gleich ist, hat keiner ein Interesse, anderen mit ihr lästig zu fallen. Weiter, da sich die Übergabe ohne Vorbehalt vollzieht, ist die Gemeinschaft so vollkommen wie überhaupt möglich und kein Mitglied hat mehr etwas zu fordern.“ Was für eine Sophisterei!
Eine in Theorie befangene Epoche
Aber auch Rousseaus Gegner haben die Ebene abstrakt philosophierender Überlegungen nicht verlassen und ihm nur Unlogik, Widersprüche und ein unrealistisches Menschenbild vorgeworfen, in vielem mit Recht. Das totalitäre Potential wurde den Franzosen mit Ausnahme des Hellsehers Voltaire erst schrecklich sichtbar, als Robespierre mit dem „contrat social“ in der Tasche Tausende guillotinieren liess. Wie Rousseau reagiert hätte, können wir nicht wissen. Aber jedenfalls soll man ihn nicht auf etwas festnageln, das „guillotinieren“, was er nicht gesagt und nicht insinuiert hat und wogegen er sich nicht wehren kann, weil er gestorben ist, bevor das einer aus seinen Sätzen herauslas. Rousseau hat in seiner Philosophiererei Gedanken geäussert, die auf vulgärerem Niveau als Empfehlung zu Totalitärem verstanden werden konnten. Verantwortlich für Faschismus und Stalinismus ist er nicht. Die Ansicht erinnert an den Vorwurf, Nietzsche sei ein Wegbereiter Hitlers. Mit solchen Assoziationen kann man jede Geistesgrösse fertigmachen.
Ein widerspenstiger Charakter, allein in seiner Stube
Auch sein Charakter soll ein mildernder Umstand gewesen sein? Schauen wir zunächst einfach einmal hin. Auffällig ist gleich: Mit seinen philosophischen Zeitgenossen wollte Rousseau nicht wirklich Austausch pflegen! Wo er sich an andere wendet, sind es meist Anklage- oder Verteidigungsschriften. Er verbiss sich in eine intellektuelle Isolation, ging der Konfrontation mit Denkern, an denen er sich mit seinen Ideen, Gefühlen und Rebellionen hätte reiben können, aus dem Weg. Mit diesem störrischen Charakter fand er keine lebendigen Partner für Diskussionen, diskurierte mit Gestalten der Geschichte denen er nur in Büchern begegnete, mit Bodin, Grotius, Spinoza, Hobbes, Rabelais, mit Macchiavelli, den alten Römern und Athenern, den Gestalten des alten und des neuen Testaments. Mit seinen Zeitgenossen nur schriftlich. War scheu und unsicher, sobald er einem Gegner aus Fleisch und Blut gegenüberstand. Er sei in Genf einem Zusammentreffen mit Voltaire aus dem Weg gegangen weil er Angst gehabt habe, ihm in einem Streitgespräch nicht gewachsen zu sein (Heiner Hug).
Erst allein in seiner Stube liess er sich von grossen Visionen überfallen, die sich nicht selten widersprechen. Wie bei ähnlichen Charaktern entstand ein Lebenswerk, aus dem man alles und auch sein Gegenteil herauslesen kann. War er allein war mit seinen Büchern und Schriften, entfalteten sich seine Visionen, dann aber gleich ohne Hemmungen und Grenzen. Er war sein eigener Richter. Der alles vergass, was er früher entschieden bzw. geschrieben hatte.
Rousseau war ein Ex- und Egozentriker. Ein Solipsist. In seinen Schriften wimmelt es von Naivitäten, Banalitäten und Skurrilitäten, welche ein Dialog mit anderen entlarvt und korrigiert hätte. Er entzog sich echten Begegnungen wie ein krankhaft misstrauisches Kind. Doch gerade und nur dieses kindliche Trötzeln in selbstgewählter Einsamkeit erlaubte ihm Einsichten gegen alle Konventionen seines Jahrhunderts! Spaemann: „Bei Rousseau wird das Ressentiment schöpferisch“.
III. Die einsame Intelligenzbestie
Rousseau wünscht und sieht aus tiefstem Herzen eine ideale Gesellschaft, wo alle Mitglieder sowohl harmonisch einig sind wie auch ihr individuelles Menschsein bewahren. Wie ist denn das zu vereinbaren?
Zu diesem Behuf entdeckt Rousseau einen übergreifenden Begriff, der ihm die Grundlage zum ganzen „Contrat social“ verschafft: die „volonté générale“. Rousseau glaubt: So eine Gesellschaft ist möglich! Er kommt innerlich nie los vom utopischen aber, weil er das nicht sieht, verbissen verfolgten Postulat: Die Gesellschaft der Menschen kann einig und ihre Individuen frei sein! So eine Gesellschaft ist, wie wir und Rousseaus zeitgenössische Kritiker sehen, eine Illusion. Aus diesem Widerspruch, den Rousseau seinem ganzen Charakter nach nicht sehen kann, aus diesem Riss zwischen seinem Glauben und der Tatsache dass dieser Glaube eine Utopie ist, zwischen seinem Ideal und dem realen Menschen entsteht das Totalitäre in seinem Gedankengang, die verquere Schlussfolgerung „Wer das nicht mitmacht, muss dazu gezwungen werden, damit wird er ja nur zu seiner Freiheit gezwungen.“ Nur ein aller Berührung mit der Realität ferner Intellektueller kann in seinem Studierstübchen so etwas ausdenken.
Wer praktizierte Rousseaus Ideen? Robespierre und Pestalozzi!
Zu Rousseaus Zeit gab es aber noch gar keine Tatmenschen, die seine Ideen in die Praxis umsetzten, an welcher er dann ihren Wert hätte testen und ihre Folgen sehen können! Die kamen erst eine Generation später. Robespierre... und Pestalozzi! Dass er das nicht selber versuchte, wollen wir ihm nicht ankreiden, Tatmensch konnte diese Intelligenzbestie nicht auch noch sein. Rousseau war Schreibtischtäter. Auch hierin masslos. Seine Kinder hat er warum weggegeben? weil er fürchtete, „häusliche Sorgen und lärmende Kinder würden ihm die Ruhe des Geistes rauben“.
Eine Intelligenzbestie war er sozusagen genetisch. Es ist das bizarrste am Phänomen Rousseau: wie alle diese rabiaten Ideen, gute, produktive, schlechte und solche mit grässlichen Konsequenzen, allein in seinem Hirn entstanden und aufs Papier gebracht wurden. Auch seine guten Ideen formuliert er so schroff, dass er in diesem sittsamen Jahrhundert auf Unverständnis stösst. Von ein paar Jahren Anhimmelei in Paris abgesehen war Rousseau in der „guten Gesellschaft“ verfemt und bei seinen philosophischen Kollegen Objekt des Spottes. Als Rousseau „zurück zur Natur“ und ein Leben wie ein Wilder propagierte, kommentierte Voltaire: „Man bekommt Lust, auf allen vieren zu kriechen.“
Der Rebell! Ein historischer Glücksfall
Aus fremder und eigener Schuld stand Rousseau in seinem Jahrhundert allein. Allein mit seinem Hirn, seinem Denken, seinen Gefühlen, seinem Sein. Allein, als einzige Person im grossen.Jahrhundert der Aufklärung, welches auch seine Beschränkungen hatte – gegen welche Rousseau anrannte, vielleicht als einziger so umwälzend anrennen konnte. Es war die Zeit eines uns von dogmatischer Enge erlösenden Rationalismus, aber noch davon unberührt auch der Obrigkeiten, die jede Abweichung von der etablierten Ordnung schärfstens bestraften. Eine Zeit der Zensur (da denken wir auch an Lessing), der Verfolgung, Ausgrenzung und Verbannung von Andersdenkenden. Und in Alltag und Sitte beachtete jedermann in der massgebenden Gesellschaft steife gesellschaftliche Regeln und Traditionen, diskussionslos galten Zucht und Züchtigkeit, die dir ab Kinderjahren eingebläut wurden. Schaut die Porträts jenes Jahrhunderts an, die Kleidungen! die Perücken, die Krinolinen, die Einschnürung von Hals und Bauch und Beinen, und wie schon Siebenjährige in diese Erwachsenenkleider gezwängt wurden!
Rousseau war ein Rebell gegen das alles. Er wetterte schreibend hemmungs-, rücksichts- und beziehungslos gegen Unterdrückung und für Freiheit, gegen diese Künstlichkeiten und für ein natürliches, spontanes, nicht von Verstand und Zucht versteiftes sondern von Gefühlen und dem Mut sie auszudrücken geleitetes Leben.
Für ein radikales Umdenken in erstarrenden Gesellschaften braucht es radikal übertreibende Naturen, die fast immer ins andere Extrem fallen. Eine moderate Natur hätte niemals die Wucht haben können, welche die französische Gesellschaft des 18.Jahrhunderts durchgeschüttelt hat. Es brauchte einen Rousseau, der seine Gefühle ausschreit und damit in tausenden von Bürgern Lust und Mut zu fundamentalen Änderungen des Ancien Régime weckt. „Es verstösst gegen das Gesetz der Natur, dass eine Handvoll Menschen im Überfluss erstickt, während es der ausgehungerten Menge am Notwendigsten fehlt.“ Solche Aufschreie halfen die Revolution herbeiführen, die Frankreich und Europa umgepflügt hat.
Seitenblick: Rousseau und Lessing
Es geht auch anders. Lessing, der Verfasser des zeitlosen Toleranzdramas „Nathan der Weise“, ist ein Parallel- aber auch ein Gegenbeispiel. Rebell in seinen Schriften und Dramen, persönlich und politisch nicht. Stand nicht allein, gehörte zu einer ganzen Gruppe von Aufklärern, die sich verwandt fühlten. Rebell in Deutschland sein war sowieso anders, auch dort herrschten Könige, Fürsten und die kirchliche Obrigkeit aber in viele Kleinstaaten zersplittert. Eine „grosse Revolution“ wie im zentralistischen Frankreich war nicht möglich. Mit den Gleichgesinnten half Lessing der Toleranz eine Bresche schlagen und brach das Tor zu freiem Denken auf. In Deutschland wurde das eine langsame, lange Bewegung - anders als die französische Revolution, die Europa ein Jahrhundert lang konvulsivische Zuckungen beschert hat.
IV. Rousseaus Nachwirkung: Lang, tief, bis heute
Die Rebellen von Rousseaus Art haben oft erst nach Jahrzehnten Revolutionen ausgelöst, von denen die Generationen nachher lebten.
Rousseaus Contrat social beginnt mit dem Satz „L’homme est né libre, et partout il est dans les fers.“ Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 beginnt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren“. Amnesty International zitiert diesen Satz in Spendenaufrufen. Und die Bandbreite der Sektoren, in denen Rousseau schrieb, wirkte und nachwirkt, ist überwältigend. Seit Luther hat kein andrer sowohl geistige wie gesellschaftliche und politische Revolutionen ausgelöst, den ganzen Zeitgeist revolutioniert, den Nährboden für gesellschaftliche Sprünge geschaffen.
Rebellen die uns nützen
Was hat uns Rousseau gegeben? Das Positive: Die revolutionäre, im „Contrat“ mit grösster Kraft vorgebrachte Grundidee, dass die Politik das Äusserstmögliche tun muss um die „volonté générale“ zu eruieren und soweit möglich zu verwirklichen, und dass diese „volonté générale“ nur im Votum des Volkes gefunden werde, nicht in der Souveränität eines Fürsten oder Königs. Diese Idee wurde zur Inspiration der demokratischen Bewegungen in ganz Europa, zuerst im Aufstand gegen die absolute Monarchie in der französischen Revolution, dann zur Leitlinie demokratischer Politik bis heute in den Demokratien der Welt, und insbesondere bei uns: im Schweizer Bundesstaat und in unserer direkten Demokratie.
Das Negative: Rousseaus Illusion, eine total-demokratische Gemeinschaft könne bis zur Vollkommenheit verwirklicht werden, dieser naiv-unrealistische Glaube hat ihn zu doktrinären Trompetenstössen gefûhrt, welche eine totalitäre Praxis inspirieren können, wenn man sie ernst nimmt und sich gewaltsam zu praktizieren erlaubt
Rousseau, der wandelnde Widerspruch
Doch Rousseau tat das mit gewaltigen Widersprüchen. „Aller Streit um den wahren Rousseau ist vergeblich“, sagt Spaemann. Wir suchen gewohnterweise in jedem Philosophen von Plato bis Habermas seine Grundaussage, allenfalls wandelt sie sich im Lauf der Jahre. Bei Rousseau führt uns das an seiner Wirklichkeit vorbei, er ist ein wandelnder Widerspruch. Der wahre Rousseau ist nicht ein Schriftsteller sondern ein schriftstellernder Charakter. Mit übermässig vielen Widersprüchen: ein hochintelligenter, philosophisch und gesellschaftlich engagierter und ehrgeiziger Typ, aber zwiespältig, impulsiv, sich nicht um Logik kümmernd, der ohne Rücksicht auf alles was er früher und anderswo gesagt hat jeder momentanen Eingebung folgt.
Aber der „Vater aller Modernismen“
Die von ihm inspirierten Ideologien und politischen Bewegungen können sich spinnefeind sein und bekämpfen. Spaemann notiert, Rousseau sei der Vater aller Modernismen und Antimodernismen: der Revolution und der Restauration, des liberalen Rechtsstaates und der populistischen Diktatur, der antiautoritären Pädagogik und des Totalitarismus, des romantischen Christentums und der strukturalistischen Ethnologie. Am Schluss zählt Spaemann auf, wen alles Rousseau inspiriert hat: Kant, Pestalozzi, Fichte, Jean Paul, Hegel und Hölderlin, den Revolutionär Robespierre und den Monarchisten de Bonald, Chateaubriand, Marx, den Ethnologen Claude Lévy-Strauss, und die „Dialektik der Aufklärung“, also die Frankfurter Schule von Adorno und Horkheimer, den neomarxistischen Gurus der achtundsechziger Jugendrevolten...
Da und dort hört man auch, Rousseau sei überholt. Nicht zukunftsträchtig? Nur wenn man seine totalitärschwangeren Sätze im Contrat social isoliert, sie noch heute als wörtlich zu nehmende Rezepte ansieht und ihn auf diese Aussage samit ihrer extremistischen Interpretation reduziert. Und seine Grundhaltung, alles was man hinter seinen exzessiven Aussagen liest und spürt, ist heute noch und hoffentlich auf immer ein Grundelement guten menschlichen Zusammenlebens. Nicht nur bei uns im Westen, in der Welt überhaupt.