Seine fünf Kinder ins Findelhaus geben, ist revoltierend. Weil Rousseau Angst hatte, sie würden ihn am Schreiben stören, an seiner wichtigen Jahrhundertaufgabe!
Émile und die Findelkinder
Kinder weggeben, berichtet Heiner Hug, war damals verbreitet und erregte weniger Anstoss als heute. Das ist allerdings keine Entschuldigung, und Rousseaus wechselnde Ausreden verraten ein schlechtes Gewissen. Auch dass er damit nicht allein steht ist keine Entschuldigung. Aber ein Faktum! Unser eigenes Land war noch grausamer und redete sich wie Rousseau noch ein, Gutes zu tun. Die Schweiz hat mit dem Programm „Kinder der Landstrasse“ von den Dreissiger- bis zu den Fünfzigerjahren Kinder ihren Eltern weggenommen, ohne dass sie sie je wiedersahen, um sie bei Fremden, welche sie oft als Arbeitstiere missbrauchen, einer „besseren Erziehung“ zuzuführen, der Erziehung zu einem „guten Schweizer“. Das war schlimmer als Rousseau. Das tat ein Staat systematisch. Unser Staat. Hundertfach. Mit breiter Zustimmung unseres Volks.
Rousseau? Von dem lese ich nichts!
Auch das ist keine Entschuldigung. Von Rousseau lese ich nichts! Dieser Rabenvater soll mir nicht mit Lektionen kommen! Aber hier stossen wir wieder auf den ewigen Widerspruch: Rousseau kann als Mensch widerlich handeln – und schreibt Werke, welche Europas Einstellung zur Kindererziehung seit 250 Jahren zum Guten verändern.
Sein „Émile“ hat unsere Haltung zu den Kindern revolutioniert. Rousseau verurteilt den Zwang und fordert, Kinder natürlich aufwachsen zu lassen. Der „Émile“ hat Generationen von Pädagogen, Schulen, Lehrern, Eltern, Erziehern und Erwachsenen bis heute zu einer humaneren Einstellung gegenüber den Kindern bewogen. Zum Beispiel Pestalozzi! „Pestalozzi, der Findelkinder aufnahm, lernte von Rousseau, der die seinen als Findelkinder abgegeben hatte.“ (Spaemann) Knapper kann man den Widerspruch in diesem Jean-Jacques Rousseau nicht umschreiben. Und Albert Anker hätte für seine Bilder keine so anrührenden Schulmeister und Schulkinder gefunden, wenn nicht einer hundert Jahre früher gegen die Schulmeisterrute polemisiert hätte.
Aber unsere Kinder profitieren von ihm!
Wir alle profitieren von dieser Predigt nach 250 Jahren noch mehr als wir wissen. In meiner Schulzeit in den Vierzigerjahren gab es in den Primar- und Sekundarschulen noch schlagende und grausame Lehrer, deren Namen die ganze Stadt kannte ohne zu protestieren. Ich habe 1945 versteinert wie die ganze Klasse im Turnen einem Lehrer zugeschaut, wie er einen Fünftklässler auf den Boden warf und minutenlang in seinen Hintern kickte, weil er eine freche Bemerkung gemacht hatte. Dieser Lehrer war Schulhausvorstand! Heute ausgeschlossen. Dank Rousseaus Fernwirkung auch noch in den letzten fünfzig Jahren: Ein solcher Lehrer käme in die Zeitung und öffentliche Empörung würde seine Entlassung erzwingen.
Man kann behaupten, das hätte sich auch ohne Rousseau ergeben. Vermutlich ja, mit fünfzig odeer hundert Jahren Verspätung. Den ersten, der das anprangerte und einen epochalen Umbruch auslöste, den müssen wir verehren. Alle Späteren wie Pestalozzi haben zu ihm aufgeschaut. Auch für diese Revolution bin ich Rousseau tief dankbar. Auch darum verteidige ich seine historische Leistung mit Leidenschaft. Ohne die schrecklichen Missverständnisse zu leugnen, die sein exzentrisch-isolierte Gesellschaftstheorie über die Menschheit gebracht hat.
Rousseau und die Revolution
Kritiker sagen wie in der Pädagogik, Rousseaus Einfluss auf den Ausbruch der französischen Revolution werde überschätzt oder sie wäre auch ohne Rousseau gekommen, das habe in der Luft gelegen. Sogar Spaemann macht einen nicht sehr einleuchtenden Unterschied: „Der Kulturkritiker und Zivilisationspessimist, der Anwalt der natürlichen Güte des Menschen und Entdecker des Kindes“ habe das revolutionäre Klima vorbereitet, doch sieht er „keinerlei Einfluss von Rousseaus politischen Schriften“. Das ist manifest falsch, Rousseaus Ruf nach Freiheit war 1789 eine der grossen Inspirationen der französischen Revolution. Zum Beleg ein Zitat über Robespierre, aus dem ich hier die letzte Feststellung resümiere: Mit Robespierre betrachteten viele Deputierte der États généraux (das von Adel und Kirche dominierte „Parlament“ des Ancien Régime, das sich 1789 in die gegen den König rebellierende „Nationalversammlung“ verwandelte) Rousseau als ihren Schutzpatron. 1794 holten sie seinen Sarg zu den grossen Franzosen ins Pantheon.
Goethe, Schiller, die Romantiker, Hölderlin, Brecht...
Rousseaus Wirkung Wirkung auf die Literatur und die Grundstimmung der Epochen ist ebenso breit. Ohne Rousseau hätte Goethe seinen Werther nicht geschrieben, Schiller nicht die „Räuber“, und Schiller hat in „Die Worte des Glaubens“ den ersten Satz des Contrat social zu einem oft zitierten Vers gestanzt: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd’ er in Ketten geboren“. Die Romantiker haben Rousseau verehrt, Spaemann: „Die unbestimmt unendliche Sehnsucht der Romantik findet in dieser Theorie {{dass man aus der uns korrumpierenden Geschichte jederzeit zur Natur zurückkehren kann}} ihre anthropologische Begründung und Rechtfertigung“. Hölderlin vernahm in seiner Rheinhymne eine „Rede aus heiliger Fülle“. Stimmungsvolle Gedichte des jungen Bert Brecht vertonen Rousseaus Ideal von Natur und Anspruchslosigkeit, eines trägt in Anlehnung an den „armen Jean-Jacques“ den Titel „Vom armen B.B.“
... die Umweltschützer...
Alle diese einflussreichen Schriftsteller und Philosophen waren von der Sprengwirkung von Rousseaus Sätzen so getroffen, dass sie sie literarisch verarbeitet und verbreitet haben. Ohne dass ihr Urheber noch erkannt worden wäre, sind auf diesem Weg Rousseaus Ideen, vor allem über Freiheit, Individualismus, Natur, Natürlichkeit und Gefühlsausdruck, im 19. und 20.Jahrhundert Gemeingut der Gebildeten geworden und in Gesellschaft und Politik eingedrungen. Bis hin zu unseren Grünen! Die von Rousseau geprägte Auffassung von „Natur“ durchzieht heute die ganze Welt: in Ökologie, Ressourcen-, Energie- und Bodenverbrauch, Klimawandel...
... Kant, Marx, Lévy-Strauss, die Grünen und die Grünliberalen. Und das Nullwachstum
Ist alles das allein auf Rousseau zurückzuführen? Natürlich nicht. Aber unter den Vielen, die im Lauf der letzten Jahrhunderte an diesen polititischen, kulturellen, gesellschaftlichen, pädagogischen, ökologischen Revolutionen gearbeitet, darum gerungen, dafür geworben haben, ist er der wichtigste, der einflussreichste – der grösste.
Fünf Beispiele, die ersten vier nach Spaemann: Rousseaus Utopie, die Arbeitsteilung aufzuheben und damit Mensch und Gesellschaft die Einheit zuückzugeben, finde sich von Schiller bis Marx wieder. – Das Thema der „entfremdenden Antagonismen des Gesellschaftsprozesses haben Kant und Marx unmittelbar von Rousseau übernommen.“ - „Rousseau ist mit Recht von Lévy-Strauss zum Vater der Ethnologie erklärt worden“ (Lévy-Strauss ist 1950 der Stifter der „Ethnosoziologie“, weltpolitische Folge: Die Entwicklungsländer gerieten in den Blick des Westens.) - Viele von uns waren vor zwanzig-dreissig Jahren für Nullwachstum, nach Spaemann kritisiert schon Rousseau an der europäischen bürgerlichen Zivilisation, sie sei „auf fortschreitende Bedürfnisweckung gegründet“. - Rousseaus „Zurück zur Natur“ ist eine Richtschnur unserer Grünen und Umweltschützer, aktueller denn je. Die Grünen sind die modernen Jünger und Apostel Rousseaus. Doch auch sie unterliegen bei uns in der Schweiz dem Rousseau’schen Gesetz der Widersprüchlichkeit: Sie haben sich schon in Linke und Liberale gespalten...
VI. Der Zaun um das Gärtchen
Rousseaus Sprach- und Bilderkraft gab seinen Ideen ihre Sprengwirkung
Rousseau war in jenem sonderbaren 18.Jahrhundert, in welchem nach Jahrzehnten hochphilosophisch-abgeschiedener Diskussionen über die Freiheit plötzlich die feudalen Burgmauern brachen, einer von vielen Wegbereitern der Revolution. Nur in Wort und Schrift, aber mit einer Sprachgewalt, welche nach zwanzig Jahren die Massen aufrührte. Manche schrieben Ähnliches, aber nur er erreichte diese Sprengwirkung. Rousseau beschreibt wie kein anderer Zusammenhänge gesellschaftlichen Zusammenlebens so, dass sie wie ein Blitz Urwahrheiten erhellen und, weil sie uns so packen, heute noch zitiert werden. Heute würde man im journalistischen Jargon von „Zuspitzung“ reden.
Über Eigentum und Besitz schreibt er an den König von Polen: „Ehe die scheusslichen Worte Mein und Dein erfunden waren...“ Er konfrontiert die Bürgergesellschaft, welche diese scheusslichen Worte praktiziert, mit einer phantasierten Epoche, wo es noch kein Eigentum gibt: „Der erste, der einen Flecken Boden mit einem Zaun einhagte und zu sagen wagte ‚Das ist mir!’ und einfältige Leute fand die ihm das glaubten, war der Gründer der Bürgergesellschaft. Wieviele Verbrechen, wieviele Kriege, wieviele Mordtaten, Miseren und Gräuel hätte der Menschheit nicht jener erspart, der die Grenzpfähle ausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: Hütet euch diesem Betrüger zuzuhören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte der Erde allen gehören und die Erde niemandem!“ Ein phantastisches Bild in glänzende Rhetorik eingepackt gibt diesem Ausspruch seine mitreissende Wirkung.
Utopie mit Sprengwirkung
Stimmen tut es ja nicht! Muss es auch nicht, um seine Wirkung auszuüben. Es ist eine rückwärtsgewandt-übertreibende Utopie, dazu dienend, Rousseaus Gegenentwurf zur Gesellschaft seiner Zeit (und der unsrigen!) krass sichtbar zu machen. Es ist historisch falsch: Schon unsere frühesten Vorfahren haben ihre Höhle bestimmt als ihr Eigentum betrachtet und fremde Eindringlinge hinausgejagt. Aber die Überspitzung bringt das Urproblem dermassen auf den Punkt, dass wir plötzlich wieder eine elementare Urwahrheit sehen, die wir eigentlich kennen aber banalisiert oder vergessen haben: „Eigentum trennt Menschen“.
Ein Menschenbild ohne Eigentum ist eine Utopie. Schon dreijährige Kinder streiten im Kindergarten um ihr Spielzeug. Aber die Verteilung, die Zuweisung, der Erwerb und Verlust und das Recht auf Eigentum, insbesondere auf den Boden und kollektiv auf ein Territorium (Palästina war schon zu Moses’ Zeiten ein sprechendes Beispiel und ist es noch heute); die Ausscheidung zwischen individuellem und kollektiven Eigentum, der individuelle Verzicht zu Gunsten des letzteren, fast nie freiwillig; im besten Fall in einem „contrat social“ friedlich vereinbart, im schlechteren Fall von Fürsten und Diktatoren ungerecht verteilt und im schlechtesten durch Krieg und Gewalt entschieden: Der Umgang mit dem Eigentum schafft eine Unmenge von Problemen, welche die Menschen seit Adam und Eva zu lösen suchen, nie definitiv lösen und in immer neuen Varianten und Reformen lösen müssen.
Utopie gewaltsam: Kommunismus
Mit den Folgen der Unumgänglichkeit von Eigentum kämpft die Menschheit seit es sie gibt. So hat der Kommunismus wie sein Name sagt Rousseaus Utopie der Gesellschaft ohne Privateigentum zu verwirklichen gesucht. Vielleicht lohnte sich ein Versuch, das Eigentum zuerst (in der Phase des „Sozialismus“ nach Lenin) zu kollektivieren und am Ende der Geschichte, im „Kommunismus“ wo alles jedem „nach seinen Bedürfnissen“ zur Verfügung stehe, abzuschaffen. Als das die Kommunisten ernst nahmen und verwirklichen wollten, stiessen sie allerdings auf den Widerstand der menschlichen Urnatur, versuchten den Widerstand mit Gewalt und Diktatur zu brechen, haben damit unendliches Leid über die so zu beglückenden Gemeinschaften gebracht und sind gescheitert. Rotchina versucht das nun auf menschlicher-pragmatischere Weise, ein Experiment von globalem Interesse im 21.Jahrhundert.
Nur schon in der Schweiz...
Unsere westlich-demokratischen Gesellschaften haben die Eigentumsfrage seit 200 Jahren mit Methoden zu lösen versucht, die einem gewaltlosen, freiwillig vereinbarten „contrat social“ gleichen: Kapitalismus, Marktwirtschaft, Sozialpolitik und Rechtsstaat sind unsere Antworten, bessere haben wir bisher nicht gefunden. Nur im Paradies, wo es kein Geld und nur gute Menschen gibt, könnten wir ohne Eigentum leben, unter uns reellen Erdenbewohnern schafft es Probleme, an denen wir dauernd herumnagen und die uns von Zeit zu Zeit über den Kopf wachsen. Nur schon in der Schweiz: Zweitwohnungs-, Bauspar- und Landschaftsinitiative, Eigenmietwert, knapper Boden und Übersiedelung, Schuldenbremse, Abzocken, Minder-Initiative und Aktionärsrechte, Grossbanken „too big to fail“, Pauschalsteuern für privilegierte Anleger, Schutz der Privatsphäre im Bankkonto, der Finanzplatz Schweiz von allen Seiten angegriffen weil er internationale Beihilfe zu Steuerbetrug und Steuerhinterziehung praktizierte, Verrechnungs- oder Abgeltungssteuer, automatische Steuer-Information, Steuerabkommen, Erpressung aus Amerika mit dem Fatka-Abkommen...
Rousseau komprimiert dieses ewige Dilemma in drei Sätzen. Hätten wir es uns vor Augen gehalten, dann hätten wir das Abzocken und die Verwundbarkeit unseres Finanzplatzes früher entdeckt und nicht zu exzessiven Dimensionen ausufern lassen. Mit solchen und vielen anderen schockierenden Ideen erschreckte Rousseau seine feudal-monarchistische Gesellschaft so, dass er in Frankreich zur Verhaftung ausgeschrieben wurde und in die Schweiz flüchtete, wo er aber von Genf und Bern ebenfalls verfolgt und verbannt wurde. In Genf wurden seine Bücher verbrannt.
VII. Rousseau: Ein (subjektives) Fazit
Ja, die Indoktrinierung zur Freiheit: Rousseaus Forderung, wer sich der volonté générale nicht unterwerfe müsse dazu gezwungen werden, ist ein Postulat, von dem sich Totalitäre zu ihren Unmenschlichkeiten hinreissen liessen. Aber...
In falsche Hände geraten kann diese Forderung noch heute gefährlich werden. Höchstwahrscheinlich war es eine von Rousseau nicht beabsichtigte noch vorhergesehene noch gebilligte Schlussfolgerung, die „volonté générale“ erlaube politischen Visionären, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen und Andersdenkende hinzurichten. Aber diese Schlussfolgerung kann man aus dem „Contrat social“ tatsächlich ziehen. Das zwingt uns, diese Lesart Rousseaus noch heute und in Zukunft schärfstens zu bekämpfen. Pro- und Anti-Rousseauisten sollten sich an diesem Punkt einmal begegnen und miteinander diskutieren!
(Subjektive) Zusammenfassung:
Ich fasse diese Wirrnis in folgenden Punkten zusammen
Dass Rousseau dieses Postulat aufgestellt hat ist ein Faktum, unbestreitbar.
Dass dieses Postulat aufs schärfste widerlegt und bekämpft werden muss ist eine Aufgabe auf Dauer, auch in Zukunft.
Die totalitären Ideologen haben das Totalitäre aus Rousseaus Sätzen herausgelesen und sind von ihnen inspiriert worden.
Gesagt oder gefordert hat das Rousseau nicht. Davon, dass man Menschen die sich der volonté générale widersetzen hinrichten soll, davon steht bei ihm soweit ich sehe kein Wort, keine Andeutung.
Wir wissen nicht, wie Rousseau reagiert hätte, wenn er das hätte mitansehen müssen.
Nach allem was man sonst von Rousseau weiss: vermutlich mit Entsetzen und heftigstem Protest. Rousseaus Weltfremdheit, die zerebral-abstrakte Engnis seiner Gedankenführung, die Abwesenheit konkreter Beispiele und Erfahrungen im Contrat social machen es unwahrscheinlich, dass er an so etwas wie Hinrichten denken konnte.
Beweisen oder widerlegen kann das niemand. Ausser wenn jemand, sehr unwahrscheinlich, in seinen Schriften die explizite Aufforderung zum Hinrichten oder einen Protest dagegen findet.
Hinter den Exzessen
Rousseaus Grundüberzeugung, sein Ur-Glaube ist: Der Mensch ist von Grund auf gut.Das ist die Illusion eines weltfremden Philosophen, definitiv von Sigmund Freud entlarvt. Aber aus dieser Simplifizierung haben die Generationen im 18. und den folgenden Jahrhunderten den Mut gezogen, auf das Gute im Menschen in seiner Natürlichkeit und Spontaneität setzen zu dürfen. Ohne diese Überzeugung wären nie Demokratien geschaffen worden, welche auf die Vernunft und das Gute von friedlichen Mehrheitsentscheidungen vertrauen.
Erst nach Rousseau wurden nach schlechten Erfahrungen in reformistischen, weitgehend von diesem selben Rousseau inspirierten Revolutionen (Schweizer Freischarenzüge, Sonderbundskrieg...) die Prozeduren, Prinzipien und Institutionen gesucht und geschaffen, die nötig sind, um das in realen Gesellschaften zu konkretisieren und totalitäre Ausschweifungen ausschliessen: Parlamentsdebatten, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung. Diese Konkretisierungen liegen noch unter dem Horizont des archaischen „Pioniers in dürftiger Zeit“ Jean-Jacques Rousseau. Rousseau war aber unter dem Regime des Absolutismus einer der ersten und der wortmächtigste, der das jahrtausendealte Tabu durchbrochen hat, nur ein allmächtiger Monarch könne optimal für das Gemeinwohl sorgen. Rousseau hat mit Recht das Gegenteil behauptet, dabei aber nur das Rudimentärste gesehen und stark übertrieben. Aber Übertreibungen wie die seinen sind oft nötig, um etwas zu verändern. Und sie wirken noch wuchtiger, wenn ihre Autoren naiv glauben, dass sie wahr sind.
Im Moment wo er schrieb war er unfähig, die Realität anders als in seinen Ideen zu sehen, er schrieb einfach hin, was ohne Realitätstest in sein Hirn kam. Doch hinter den Exzessen liegen Grundideen, welche seine Generation aufwühlten und zu Revolutionen brachten. Den Contrat social haben nur Intellektuelle gelesen, aber wenn einer schreit „Der Mensch ist frei, und überall ist er in Ketten“, dann hören das Millionen, wenn es aus der philosophischen Bühne in den Alltag herunterdringt.
Schlussfolgerungen:
Wir müssen die vielen Ebenen von Rousseaus Gedanken auseinanderhalten und jede für sich beurteilen:
Rousseaus oft eckige, dogmatische, in seinen Schriften ausladend ausgebreiteten und zu totalitärer Auslegung einladenden staatspolitischen Ideen.
die Massenwirkung seiner wie man heute sagen würde „Oneliners“, seiner in wenigen Worten komprimierten Slogans, und seiner in packender Rede ausgebreiteten Bilder.
Diese „Slogans“: sickerten dreissig Jahre lang unter die Intellektuellen und dann ins gemeine Volk ein, bis die Revolution ausbrach.
die Langzeitwirkung seiner Ideen und Thesen.
Den totalitären Folgerungen, die Hitzköpfe aus Rousseaus Thesen machen können, muss man konsequent widersprechen.
Aber es hat in seinen Ideen auch viel Gutes.
Wir müssen beides unterscheiden, anerkennen und auseinanderhalten.
Und jetzt müssen wir uns unsere Gesamtmeinung über Rousseau machen, diesen Menschen, der von Widersprüchen strotzt. Wenn wir die Geschichte verändern könnten, hätten wir Europa lieber ohne Rousseau?
Der Streit wird nie aufhören
Vieles schockiert an Rousseau. In seinem Handeln die Findelkinder, in seinen Schriften das Extreme, Exzentrische und Realitätsfremde. Man soll das nicht leugnen, man muss es verurteilen und bekämpfen. Aber auch verstehen, relativieren, in seine Zeit zurückverpflanzen und in die unsrige übersetzen. Rousseaus Leistung als Bahnbrecher steht einfach auch da, unbestreitbar, mächtig, unglaublich breit und nachhaltig, man kann sie nicht leugnen. Das wird uns immer in den Zwiespalt und nie aufhörende Kontroversen stürzen. Wie C.F.Meyer über Ulrich Hutten schreibt: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“
Ich bin diesem Jean-Jacques dankbar. Ein Bahnbrecher, wie es ihn seither nicht mehr gegeben hat. Mit der breitesten Nachwirkung in Europa seit 300 Jahren. Freiheit, Natur, Natürlichkeit, Ausdruck von Gefühlen, Mut zum Individualismus, Mut gegen die Mächtigen aufzutreten - alles das hat Rousseau als erster gänzlich alleinstehend gepriesen und geübt, lieber flüchtend als den verfolgenden Obrigkeiten das leiseste Zugeständnis zu machen. Dieses 18.Jahrhundert hat uns Unersetzliches gebracht, es hat die religiöse Enge aufgebrochen, die Schwächen des Mittelalters hinter sich gelassen und der Vernunft ihre führende Stellung in der Moderne verschafft. Aber in der Rationalität fehlten die Emotionen, dieses zweite Element modernen Menschseins. Rousseau hat sich ihnen hemmungslos hingegeben und die Welt verändert.
Literatur und Quellen für diese Serie:
Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social. Verlag Hachette Littérature 1972, Le Livre de poche, Collection Pluriel. Mit zwei Essais des Herausgebers Bertrand de Jouvenel (französischer Intellektueller 1903-1987). De Jouvenel hat in diese Ausgabe viele Entgegnungen von Zeitgenossen aufgenommen, unter anderem den zitierten Protest Voltaires: « Je ne me donne point à mes concitoyens sans réserve. Je ne leur donne point le pouvoir de me tuer et de me voler à la pluralité des voix.» Rousseau hatte geschrieben, die „Klausel“, welche die Glieder dieses Sozialvertrags bindet, bedeute „l’aliénation totale (totale Hingabe) de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté...“ Thomas Maissen, NZZ 23.6.2012: Das glücklichste Volk auf Erden? Rousseau und die Schweiz.
Heiner Hug: Serie in sieben Teilen über Rousseau. www.journal21.ch, Juni-Juli 2012, Rubrik „Kultur“
Robert Spaemann: Rousseau – Mensch oder Bürger. Das Dilemma der Moderne. Klett-Kotta 2008. Zusammenstellung von vier früher erschienenen Aufsätzen über Rousseau.
Fischer Weltgeschichte Band 26, Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780-1848. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1969.