Verfolgt von dem einbeinigen Bruder Nr. Fünf, unfähig zu marschieren und nur noch begleitet von sieben Getreuen, die ihn in einer Hängematte tragen mussten, war Bruder Nr. Eins im Dschungel an „gebrochenem Herzen“ gestorben, erklärte seine Witwe später, durch Selbstmord, berichteten die Medien, vergiftet, behaupteten seine Anhänger. Bruder Nr. Fünf ernannte sich zum neuen Bruder Nr. Eins und humpelte wenig später in Begleitung von nur noch vier Getreuen in die Gefangenschaft. Er starb am 21. Juli 2006 im Alter von 82 Jahren in einem Militärgefängnis an Herzversagen.
Die Kapitulation der Brüder
Im selben Jahr gaben auch Bruder Nr. Zwei und Bruder Nr. Vier den Kampf auf. Bruder Nr. Vier, dem der Yale-Historiker Ben Kiernan „Machthunger“ und gleichzeitig „absolute moralische Feigheit“ vorwarf, nahm ein Amnestie-Angebot der Regierung an und zog sich ins Privatleben zurück. Er erlitt 2007 einen Schlaganfall. Bruder Nr. Zwei schloss sich dem Trend zum Rückzug in den Ruhestand an und richtete sich zusammen mit seiner Frau in einer Villa ein. Im Vergleich zu Bruder Nr. Zwei, war den Menschen Bruder Nr. Eins geradezu wie ein Ausbund der Güte erschienen.
Schon drei Jahre zuvor hatte Bruder Nr. Drei als Erster dieser Bruderschaft gegen die Aufhebung eines bereits früher gegen ihn ergangenen Todesurteils sowie die Freigabe seines nicht unbeträchtlichen Vermögens und – so munkelt man – unter Zahlung etlicher Millionen an den neuen starken Mann in seinem Land den jahrelangen Guerillakampf aufgegeben und 1000 seiner Mitstreiter aus dem Dschungel in die ihnen von der Regierung zugestandene nördliche Grenzprovinz Pailin geführt. Er starb am 14. März im Alter von 87 Jahren an Herzproblemen und anderen Gebrechen.
Bis auf Saloth Sar, der Bruder Nr. Eins, der als Pol Pot berüchtigt geworden und schon 1998 gestorben war, müssen sich all diese Brüder seit 2006 vor dem sogenannten Khmer Rouge Tribunal für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Genozid, begangen zwischen dem 17. April 1975, als sie die Macht in Kambodscha übernommen hatten, und dem 6. Januar 1979, als sie von einer vietnamesischen Invasionsarmee vertrieben worden waren, verantworten.
Eine Utopie endet in Massenmord
Um wahre wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit zu erreichen, so hatte Bruder Nr. Vier, der spätere Präsident des „Demokratischen Kampuchea“, Khieu Samphan, als Student in seiner Dissertation über „die Auswirkungen der kolonialen und neo-kolonialen Dominanz auf Kambodscha“ argumentiert, die er 1959 an der Pariser Sorbonne eingereicht hatte, war es notwendig, das Land vollständig zu isolieren und zurück zu einer autarken Landwirtschaftsökonomie zu gehen. Um diesen utopistischen Wahn zu erreichen, folgten die Revolutionäre 15 Jahre später einem alten Muster präkolonialer Kriegsführung in Südostasien, wo regelmässig die Städte entvölkert wurden, um die Bevölkerungszentren des Feindes auszutrocknen. Sie trieben zwei Millionen Menschen in tagelangen Märschen aus den Städten auf die Felder oder in die Wälder, wo sie Reis pflanzen und Äcker anlegen mussten und schafften Privateigentum, Geld, Schulen, Gerichtshöfe, Märkte, moderne Technologien sowie Zeitungen ab.
„Wir haben keine Maschinen. Wir machen alles mit der Kraft des Volkes. Wir arbeiten vollständig autark“, prahlte Präsident Khieu Samphan damals. „Dies zeigt den überwältigenden Heroismus unseres Volkes. Nur mit den blossen Händen können wir alles erreichen.“ Das Ergebnis solcher Politik waren 1,7 Millionen Tote, gestorben an Hunger, Erschöpfung und Malaria. Weitere Tausende wurden ermordet, weil sie in den Augen „Angkars“, der Organisation, wie sich der „Ständige Ausschuss der Kommunistischen Partei“ (Pol Pots Machtzentrum) nannte, „verdächtig“ waren. Den Verdächtigen erging es wie Joseph K. in Franz Kafkas „Der Prozess“: Sie waren nicht angeklagt, weil sie schuldig waren, sondern schuldig, weil sie angeklagt waren.
Die einträglichen Geschäfte der Parteiführung
Doch während Hundertausende Khmer, Vietnamesen, Muslime oder Buddhisten unter Pol Pots Misswirtschaft und Utopismus verhungerten, liessen die Führer der Khmer Rouge von ihrem „Holzverkaufskomitee“ zwischen 1975 und 1995 rund zwei Drittel der Wälder des Landes im einträglichen Verbund mit thailändischen Firmen und Offizieren abholzen und verscherbelten Rubine und Smaragde gegen harte Währungen des Klassenfeindes. Zeitweilig sprach man in Bangkoks Unternehmerkreisen offen vom sogenannten „Ieng-Sary-Faktor“. Das Holzgeschäft soll Ieng Sary alleine weit über 50 Millionen Dollar eingebracht haben. Auf einem Konto in Hongkong soll er 20 Millionen deponiert haben. Und auf der Flucht durch den Dschungel vor Bruder Nr. Fünf, Ta Mok (Grossvater Mok), hatte der schwerkranke Pol Pot nicht nur sich tragen lassen sondern auch noch zwei Säcke, Inhalt: drei Millionen Dollar.
Nach ihrer Rückkehr vom Guerillakrieg, den sie mit der Unterstützung Grossbritanniens, Chinas, Thailands und der USA nach ihrer Vertreibung aus Phnom Penh durch die vietnamesische Armee noch 19 Jahre weitergeführt hatten, betrieben die einst so puritanischen Genossen in der de facto autonomen Khmer-Republik Pailin an der Grenze zu Thailand ein Spielkasino, Restaurants und Hotels, handelten mit Saphiren, Rubinen sowie edlen Hölzern und vergnügten sich mit billigen "Taxigirls", vietnamesischen Prostituierten.
Zurückgekehrt ins kapitalistische Leben
Von seinem Hauptsitz aus, einer weitläufigen Villa inmitten der von den Kriegen zerstörten gleichnamigen Provinzhauptstadt Pailin, bewaffnet mit einer Pistole und umgeben von Leibwächtern, spielte der einstige Aussenminister der Khmer Rouge, Ieng Sary, jahrelang den elder statesman. Einst, im Sommer 1951, hatte er im Rathaus des 15. Pariser Arondissements Khieu Thirith, die jüngere Schwester der Frau seines Kommilitonen Saloth Sar, geheiratet. Später, wurden die beiden Paare als „Kambodschas Viererbande“ berüchtigt.
Zurück in der kapitalistischen Gesellschaft, sass Ieng Sary nun seiner neu gegründeten "Vereinigten Nationalen Demokratischen Bewegung" vor, kümmerte sich um das Wohlergehen seiner Schwägerin Khieu Ponnary, die geistesgestört in einem Sanatorium dahinsiechte (Sie starb am 1. Juli 2003), besuchte gelegentlich seinen Sohn Ieng Vanuth, der als hoher Regierungsbeamter in Bangkok für die einträglichen Geschäftsverbindungen sorgte, liess sich im Landrover zu seinen Besitztümern in der Umgebung oder in seine opulente, von Leibwächtern und Stacheldraht geschützte Stadtvilla in Phnom Penh fahren und drohte regelmässig mit dem Wiederauflammen der Kämpfe, wenn er nicht in Frieden gelassen werde.
Am 16. Dezember 2009 wirkte die Erpressung nicht mehr. Das Rote-Khmer-Tribunal (offiziell: Ausserordentliche Kammern an den Gerichten von Kambodscha oder Chambres extraordinaires au sein des tribunaux cambodgiens) erhob Anklage gegen ihn und warf ihm seine Beteiligung an der Unterwerfung und Ermordung der vietnamesischen und muslimischen Minoritäten vor. Doch ehe ein Urteilsspruch erfolgen konnte, verstarb der Angeklagte.
Das Ende von Bruder Nr. Drei…
Sieben Tage nach seinem Tod wurde der Sarg mit seinem Leichnam auf einem hohen, terrassenförmig errichteten Scheiterhaufen in Ieng Sary’s Geburtsort Malai im Nordwesten des Landes unter der Aufsicht seines Sohnes und seiner drei ganz in Weiss gekleideten Töchter den Flammen übergeben. „Ist Papa okay“, stammelte die einst mächtige, heute 81 Jahre alte Witwe Ieng Thirith. Sie leidet an Alzheimer und wurde darum vom Gericht als verhandlungsunfähig entlassen. Zahlreiche Gäste fanden sich unter den rosafarbenen Baldachinen ein, um den Verstorbenen zu ehren und die orangefarbene Fischsuppe zu geniessen, den Leichenschmaus, eingefleischte Getreue, die Visitenkarten herumreichten, „Khmer-Rouge-Mitglied 1975-1995“ oder „“Tuol Sleng Gefängnisfotograf 1976-1979“, etliche Würdenträger, sein amerikanischer Anwalt Michael Karnavas, dessen Kosten die Vereinten Nationen übernommen hatten, weil sein Klient offiziell als mittellos galt. Sogar der Provinzgouverneur war gekommen, und Hunderte Dorfbewohner, 90 Mönche sangen, ehe sie herumgingen, um Almosen zu sammeln, Wasser, kleine Geldbeträge, ein paar Orangen, frittierte Kakerlaken und viele Päckchen Instantnudeln. Es war das buddhistische Ritual, das die Khmer Rouge gnadenlos verboten hatten.
…und der Hoffnung auf Gerechtigkeit
Viele haben mit dem Tod Ieng Sarys verloren. Das Gericht, das nach sieben Jahren und mehr als 170 Millionen Dollar, zum grössten Teil von ausländischen Geldgebern finanziert, bisher erst einen Mann verurteilt hat: Kaing Guek Eav, bekannter als Duch, der im Sicherheitszentrum S-21 (das in der ehemaligen Tuol-Svay-Prey-Oberschule in Phnom Penh eingerichtet gewesen war) die Folterung und Ermordung von 13 000 Gefangenen beaufsichtigt hatte. Von den vier angeklagten Khmer-Rouge-Führern bleiben nur noch der Chefideologe des einstigen Regimes, Nuon Chea, und das Staatsoberhaupt Khieu Samphan, beide ebenfalls weit über 80. Auch Chhit Choeun oder Oeung Choeun oder Ek Choeun oder wie immer er tatsächlich heissen mag, der vom buddhistischen Mönch zum Guerillageneral und Schlächter Ta Mok konvertiert war, starb auch schon vor sieben Jahren.
Verloren haben vor allem die Opfer. „Dieser Tod schränkt den Aufgabenbereich des Gerichts weiter ein und reduziert die Suche der Opfer nach der Wahrheit und nach Gerechtigkeit erheblich“, erklärte Elisabeth Simonneau Fort, eine Anwältin der Opfer.
Sogar Ieng Sarys Anwalt verlor. Wie viele Anträge hätte er vor Gericht noch stellen können? „Diese wunderbaren Anfechtungen und Berufungen“, bedauerte Karnavas das Dahinscheiden seines Falles.