„Afghanistan hat die Ketten der Sklaverei zerrissen“, schrieb der pakistanische Premierminister Imran Khan nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban. Es war ein seltsamer Kommentar von einem demokratisch gewählten Politiker, der Demokratie plötzlich mit Sklaverei gleichsetzt und eine mittelalterliche Strafjustiz als Befreiung preist; und es kam aus dem Mund eines ehemaligen Cricket-Stars, bei dem die Bezeichnung „Playboy“ nichts gemein hatte mit seiner sportlichen Tätigkeit.
Dennoch – der Tweet war gleichzeitig präzis, und der stilistische Fehlgriff in der Wahl des Bilds war beabsichtigt. So illustrierte er noch deutlicher die Vernebelungsstrategie, die Pakistan seit Jahrzehnten verfolgt, wenn es darum geht, den radikalislamischen Untergrund als Mittel seiner Nachbarschaftspolitik einzusetzen. Es braucht eine deplatzierte und löchrige Metapher, so dass der verdutzte Leser sofort weiss, was in Wirklichkeit dahinter steckt – und gleichzeitig die offizielle „Deniability“ gewahrt bleibt.
Das sprachliche Gegenstück zu Khans Theaterdonner kam, wie kann es anders sein, aus indischem Mund. Der Sieg der Taliban, meinte der indische Botschafter in Kabul gegenüber dem TV-Kanal des Indian Express, „war eine pakistanische Invasion mit einem afghanischen Gesicht“. Es war der Generalstab in Islamabad, der den Nachschub mit Waffen und Nahrung, Einsatzplänen und Aufklärungsdaten sichergestellt hatte.
Ein Sieg des Ziehvaters
Im Durcheinander von Uniformen und Stammesklamotten, der Vielzahl von Kommandanten und Rebellengruppen, so die indische Lesart, war es für den Militär-Geheimdienst ISI ein Leichtes, den Taliban die islamischen Guerillas beizumischen, die sonst in Kaschmir eingesetzt werden. Die New York Times berichtete letzte Woche von der Besetzung des Kabuler Hauptquartiers der afghanischen Sicherheitsdienste und des Ministeriums für Kommunikation. Laut Augenzeugen seien es Männer gewesen, die wie pakistanische Zivilbeamte aussahen.
Pakistan konnte zudem mit der Ambiguität der ethnisch-nationalen Identität der Paschtunen spielen. Pakistanische Paschtunen, oft mit den gleichen Stammes- und Clanbezeichnungen wie ihre Cousins jenseits der Grenze, kamen leicht als afghanische Taliban durch. Besonders drastisch zeigt sich dies bei den Haqqani-Brüdern, einem Paschtunen-Clan aus der Khyber-Region mit verwandtschaftlichen Beziehungen in den afghanischen Provinzen Nangarhar und Kunar. Trotz ihrer engen Beziehungen zu pakistanischen Politikern und Militärs sitzen sie nun in Kabul. Einer ihrer Führer, Sirajuddin Haqqani, wird als künftiger Verteidigungsminister Afghanistans gehandelt.
Der Fall Kabuls – und des ganzen Landes – an die Taliban ist auch ein grosser Sieg für deren Ziehvater Pakistan. Er bringt Afghanistan eine zweite Chance, sich unter dem Banner des Islams wieder zu einen, und Pakistan braucht einen verlässlichen Freund an seiner Westgrenze. Nur dies kann den Erzfeind Indien daran hindern, hinter seinem Rücken zu einem Zangenangriff anzusetzen, den es als existenzgefährdend ansieht. Mit einem verbündeten „Bruderstaat“ hat Pakistan endlich die „strategische Tiefe“, die ihm an seiner Ostgrenze zu Indien operationelle Freiheit sichert.
Religion statt Demokratie
In den neunziger Jahren, als sich die siegreichen Mudschaheddin immer mehr zerstritten und das Land zu einem ethnischen Flickenteppich zu zerfasern drohte, setzte Islamabad auf die Karte einer religiös-politischen Gruppierung in Kandahar, die sich bescheiden als „Islamschüler“ bezeichnete. Es lieferte Geld, Waffen, junge Männer aus den Flüchtlingslagern, Rückzugsgebiete und Logistik. Und weil es auch den USA sein Territorium für den Nachschub von Geld und Waffen für den Krieg gegen die Sowjetunion zur Verfügung gestellt hatte, konnte es die Islamisten und die Amerikaner gegeneinander ausspielen.
Es war aber nicht nur „strategic depth“, die Islamabad mit einem Klientelregime in Kabul erreichen wollte. Ein stabiles Afghanistan war nur möglich, wenn sich die zahlreichen Stammesgruppen unter einer gemeinsamen Plattform zusammenfinden – und eine solche bot nur die gemeinsame Religion (und nicht die Demokratie, wie es der Westen nach 2001 erfolglos versucht hat).
Noch gefährlicher als ein instabiles Regime in Kabul war für Pakistan das Spaltpotenzial der Paschtunen. Sie bilden (mit ca. 40 Prozent der Bevölkerung) nicht nur die grösste und traditionell dominierende afghanische Ethnie. Ihr wichtigstes Siedlungsgebiet liegt zudem im Osten des Landes und greift auch tief in die pakistanischen Grenzregionen hinaus.
Die Durand-Linie
Bereits die englische Kolonialmacht hatte ihre Mühe mit den Paschtunen gehabt. Sie glaubte, die Lösung gefunden zu haben, als sie deren Stammlande in zwei Teile trennte. Sie kam mit dem afghanischen König Abdur Rahman 1893 überein, mitten hindurch eine Grenzlinie zu ziehen – die nach dem britischen Emissär so genannte Durand Line. Sie stellte sicher, dass wichtige strategische Übergänge wie der Khyber-Pass in ihrer Hand blieben.
1947 übernahm Pakistan diesen Grenzverlauf. Es anerkannte die Durand-Linie als Landesgrenze und schuf in dessen Rücken die North-West Frontier Province, um die Paschtunen-Stämme in den nationalen Verband zu integrieren. Doch Afghanistan anerkannte diese Grenzziehung nicht und die Durand-Linie blieb eine unmarkierte Grenze. Als ich 1994 mit einem Team der Uno-Organisation für die Beseitigung von Landminen von Pakistan aus nach Khost in Afghanistan fuhr, merkte ich erst am Verhalten der entgegenkommenden Lastwagen, dass wir in Afghanistan waren: Sie fuhren rechts, während in Pakistan wie zur Kolonialzeit Linksverkehr galt.
Jede afghanische Regierung spielte mit dieser Verweigerungstaktik und unterstützte damit Forderungen tribaler Irredentisten für ein autonomes, wenn nicht unabhängiges Pakhtunistan. Mit der Schaffung einer national-islamischen Bewegung unter den Paschtunen mit dem Namen Taliban versuchte Pakistan, diese Strömung zu unterlaufen. Doch selbst als diese zwischen 1996 und 2001 in Kabul die Macht ausübten, zögerten sie (trotz Zusicherungen) einen formellen Grenzvertrag hinaus, bis es zu spät war und sie wieder als Flüchtlinge in Pakistan landeten.
Unter paschtunischer Führung
Die pakistanische Regierung beschloss nach dieser bitteren Erfahrung, ohne Einwilligung des afghanischen Präsidenten Karzai (ebenfalls einem Paschtunen) Tatsachen zu schaffen. Sie baute einen doppelten Drahtzaun (mit Stacheldrahtrollen dazwischen) von 2800 Kilometern Länge. Pikant daran ist das Detail, dass einer der Zäune 13, der andere 11,6 Fuss Höhe aufweist. Jener auf der afghanischen Seite ist der niedrigere – was die Afghanen quasi als Hieb mit der Messlatte empfanden: Die Grenze nach Afghanistan, so lautete der Verdacht, soll wohl leichter überschritten werden können als jene nach Pakistan!?
Wie pricklig die Situation für Pakistan selbst bei den zunehmenden Erfolgen ihrer Taliban-Schützlinge wurde, zeigt der Fall von Abdul Ghani Baradar, dem vermutlichen neuen Premierminister der „Neuen Taliban“. Der Taliban-Mitbegründer und frühere Minister in Kabul wurde 2010 von Pakistan in „Schutzhaft“ genommen. Grund: Er hatte mit Präsident Karzai über die Köpfe seiner pakistanischen Schutzherren Kontakte geknüpft. Erst als 2018 klar wurde, dass die USA Afghanistan verlassen würden, wurde ein Taliban-Endsieg plötzlich wahrscheinlich. Baradar wurde freigelassen, weil er einer der wenigen war, der den amerikanischen Unterhändlern die Stirn bieten konnte.
Eine islamische Nation unter paschtunischer Führung – das ist Pakistans Idealvorstellung für ein neues Afghanistan. Nun soll sie sich erfüllen. Für die afghanische Gesellschaft soll ein gemeinsamer religionspolitischer Boden geschaffen werden; und die Absetzbewegungen der Paschtunen können mit ihrem Übergewicht in der neuen Regierung neutralisiert werden.
Und der „Islamische Staat Khorasan“?
Doch es gilt immer noch die chinesische Weisheit: Sieh dich vor, wenn deine Wünsche wahr werden! Im pakistanischen Kalkül gilt dies sowohl für die islamische wie die ethnische Karte. Die Frage, wer den Koran richtig interpretiert, hat das Potential eines Spaltpilzes – das zeigen reformerische Impulse islamischer Regierungen ebenso wir der Salafismus mit seiner fundamentalistischen Forderung einer Rückkehr zu den „Wurzeln“ des Korans.
Bereits unter dem Militärregime von Pervez Musharraf flatterte 2008 die Fahne der islamischen Revolution über der „Roten Moschee“ im Herzen von Islamabads Regierungsbezirk und erklärte ihm den „Jihad“. Die Abspaltung radikalislamischer Taliban und die Gründung einer „Tehrik Taliban Pakistan“(TTP) wurde vom pakistanischen Staat wenn nicht gefördert, so doch toleriert – und mutierte rasch zum Feind, der diesem den Garaus machen wollte.
Eine sektiererische Abspaltung mehr und nun ist es der „Islamische Staat Khorasan“, der sowohl Taliban wie Pakistan als Ungläubige denunziert. Genauso wie die Taliban über die Durand-Linie nach Afghanistan einsickerten, können sich in Zukunft IS-Zellen zurück nach Pakistan verschieben – und die dreizehn Fuss Stacheldraht werden dabei kein unüberwindliches Hindernis darstellen.
Dasselbe gilt für die Schwächung der Pakthunistan-Bewegung. Nun sind es afghanische Paschtunen, die ihren Brüdern in Pakistan zu Hilfe kommen können. Und inzwischen stellen die Paschtunen in Grossstädten wie Karachi eine demografisch potente Bevölkerungsgruppe, die sich unter dem Banner eines freien Pakhtunistan politisch zu organisieren beginnt. Auch dies ist die Folge der ethnischen „Trumpfkarte“, die der Militärgeheimdienst ISI in Afghanistan ausgespielt hat – und die jetzt im eigenen Land zu stechen droht.