Mit einer Verspätung von fast sechs Monaten hat der lange geplante jemenitische Versöhnungskongress begonnen. Er ist ein entscheidender Teil der gesamten Politik, die den Übergang des alten Regimes unter Ali Abdullah Saleh in eine neue politische Zukunft bewerkstelligen soll. Die Hoffnung ist, dass diese Zukunft demokratischer werde, als es die diktatoriale Vergangenheit war, die unter Ali Abdullah Saleh 33 Jahre lang gedauert hatte.
1962 dem Mittelalter entronnen
Es ist daran zu erinnern, dass Jemen auch vor Abdullah Saleh nie eine demokratische Regierung besessen hatte. Das Land hatte nach der Revolution von 1962 gegen das mittelalterliche Regime der Imame und nach dem der Revolution folgenden Bürgerkrieg (1962-70) einige fehlgeschlagene Versuche unternommen, demokratische Regime einzurichten. Militärische Staatsstreiche (1974, 1977 und 1978) hatten ihnen ein Ende bereitet.
Der nun eröffnete Versöhnungskongress ist durch Vermittlung der UNO und der Staaten des Arabischen Kooperationsrates am Golf zustande gekommen. Den Vermittlern war es nach Monaten der Verhandlungen gelungen, Präsident Ali Abdullah Saleh 2012 zum Rücktritt zu bewegen. Seine Macht war seit den Massendemonstrationen der «jemenitischen Revolution», die Ende Januar 2011 begann, herausgefordert. Die Revolution der Jugend hatte dazu geführt, dass das Land und die Armee sich spalteten. Der von den Vermittlern erkämpfte Rücktritt des Präsidenten erlaubte es, einen vollen Bürgerkrieg knapp zu vermeiden.
Eine Übergangslösung
Es wurde eine Übergangsperiode von zwei Jahren festgelegt, in welcher der bisherige Vizepräsident die Macht übernahm. Das erste der zwei Jahre hätte dazu dienen sollen, die tiefen Spaltungen in der Gesellschaft Jemens zu überwinden mit der Wiedervereinigung der Armee und der Versöhnung der feindlichen Stämme der Wüstenregionen. Doch dieses Ziel wurde nicht wirklich erreicht. Die Armeeoffiziere sind noch immer gespalten in Anhänger des alten Präsidenten und deren Feinde, die sich zu Beschützern der Demonstranten erklärt haben.
Die Fraktion Ali Abdullah Salehs wird durch den Sohn des Ex-Präsidenten und zwei seiner Neffen angeführt, welche die Präsidialgarde (die bestausgerüstete militärische Einheit) und die Sicherheitskräfte kommandieren. Versuche des Übergangspräsidenten, Abdrabbo Mansur al-Hadi, sie ihrer Kommandos zu entheben, sind fehlgeschlagen. Seine Anordnungen wurden ignoriert. Dies hat dazu geführt, dass die Gegenfraktion unter dem Panzergeneral Mohsen al-Ahmar sich ihrerseits auch nicht auflöste. Beide militärischen Parteiungen besitzen ihre Verbündeten unter den Politikern und den Stämmen.
Können die Politiker sich versöhnen?
Trotz der unvollendeten militärischen Aussöhnung hat sich der Übergangspräsident unter Zureden durch die Vermittler, besonders des Abgesandten des Sicherheitsrates, Jamal Benomar, dazu entschlossen, die geplante Versöhnungskonferenz einzurufen. Die Hoffnung scheint zu sein, dass im Falle von Fortschritten der Versöhnungskonferenz auch die Militärs sich dazu bequemen könnten, ihrerseits ihre Fehden zu Ende zu bringen.
Dies zeigt, wie viel vom Gelingen der Konferenz, die sich über die nächsten sechs Monate hinziehen soll, für das Land abhängt. Sollte sie fehlschlagen, bedeutete dies, dass ein voller Bürgerkrieg auch im Jemen kaum mehr zu vermeiden wäre.
Berge von Problemen
Doch die Aufgaben der Konferenz sind herkulisch. Jemen leidet unter der Spaltung in Anhänger Ali Abdullah Salehs und deren Feinde, wobei die Feinde ihrerseits unterteilt sind in Offiziere, Politiker, Religionsgelehrte und Stammesführer, die zu den bisher führenden Schichten gehören. Ihre Gefolgschaften bestehen aus meist jugendlichen Revolutionären, die ursprünglich versucht hatten, das Regime durch Strassendemonstrationen zu Fall zu bringen – ein Versuch, den sie heute als fehlgeschlagen erkennen müssen.
Jemen kennt gleichzeitig schwere regionale Spannungen, die sich im Laufe der letzten Jahre zu separatistischen Strömungen verdichtet haben. Dies sind der seit 2004 bestehende Aufstand der zaiditischen Houthis im Norden und die auf Autonomie oder sogar Unabhängigkeit ausgehende Hirak-Bewegung im Süden Jemens.
Die Armee hatte in vielen stets als «erfolgreich» bezeichneten Feldzügen gegen die Houthis versucht, ihrer mit Gewalt Herr zu werden. Doch es misslang ihr, und die Houthis sind heute stärker als je, weil sie von den Unruhen im Zentrum profitieren konnten. Sie beherrschen heute voll die nördliche Provinz Saada sowie grosse Teile der angrenzenden Provinzen, Amran, Jawf, Hajja und kleinere Teile der Provinzen Sanaa und al-Mahwit. Ihr Einfluss ist nahe an die Hauptstadt herangerückt.
Zaiditen, das frühere Staatsvolk Jemens
Die Zaiditen sind ein Zweig der schiitischen Glaubensrichtung des Islams. Doch als sogenannte Fünfer-Schiiten unterscheiden sie sich stark von den Zwölfern, die in Iran herrschen. Die traditionellen Herrscher Jemens bis zur Revolution von 1962 waren die zaiditischen Imame, die sich auf diese Stämme des Nordens stützten.
Weil die Zaiditen zu der schiitischen Variante des Islams gehören, sind die saudischen Behörden und Religionsautoritäten, die sich selbst als die Vorkämpfer der sunnitischen Ausrichtung sehen, seit Jahren der Ansicht, die Erhebung der Houthi Zaiditen in ihrem Nachbarland Jemen werde von Iran aus gesteuert. Beweise dafür gab es lange Zeit keine, doch im vergangenen Januar meldeten die jemenitischen Behörden und Sprecher der USA, ein Schiff mit Scud-Raketen sei aufgebracht worden. Man nehme an, es sei von Iran ausgesandt worden. Iran dementierte. Der Sicherheitsrat versprach eine Untersuchung, doch Resultate wurden bis heute nicht bekannt gegeben.
Ein Glied in der schiitischen Kette?
Für die Saudis ist die Erhebung der Houthis ein Teil des innerislamischen Krieges der Schiiten gegen die Sunniten, den sie auch in Syrien, in Libanon, in Bahrain und unter den eigenen Schiiten in Saudiarabien zu erkennen glauben.
Die jemenitischen Salafiten, die dort zur Islah Partei zusammmengeschlossen sind und den Saudis nahestehen, kämpfen ihrerseits gegen die Houthis, wo sie es vermögen. In Sanaa selbst ist es zu solchen Zusammenstössen mit Zaiditen gekommen. Im Norden Jemens versuchen die Leute der Islah Partei mit saudischer Unterstützung gegen die Houthis einzuschreiten, indem sie sunnitische Stämme gegen sie mobilisieren.
Aufbegehren des besiegten Südens
Im Süden Jemens mit dem Zentrum Aden gibt es starke Ressentiments gegen Sanaa und die dortige Regierung. Die Leute des Südens fühlen sich von ihr unterdrückt. Sie können dies mit vielen Einzelheiten belegen. Ihre Stadt und die Landesteile, die einst die Südjementische Republik bildeten, wurden von Sanaa unter Ali Abdullah Saleh beinahe als Untertanengebiet behandelt, seitdem die Südländer 1994 einen Krieg verloren hatten, der ausgebrochen war, weil sie sich von Sanaa abspalten wollten.
«Hirak» (Bewegung) nennt sich ihre Koalition aus unterschiedlichen Gruppen unter verschiedenen Anführern, von denen einige eine Autonomie für den Süden fordern, andere die volle Unabhängigkeit. Diese Bewegung hat davon profitiert, dass Sanaa in den letzten Jahren weitgehend mit sich selbst beschäftigt war. Doch sie wollen nicht Krieg führen, sondern setzen auf «zivilen Ungehorsam» und Demonstrationen. Dennoch sind in den letzten Wochen mehrere ihrer Demonstranten von der jemenitischen Polizei und Armee erschossen worden.
Ringen um die Beteiligung des Südens an der Konferenz
Es waren in erster Linie die südlichen Autonomisten und Separatisten, die für die verspätete Eröffnung der Konferenz verantwortlich waren. Sie weigerten sich teilzunehmen. Ihre radikaleren Gruppen wollten über nichts anderes sprechen als ihre Lostrennung von Nordjemen und die Bildung eines eigenen Staates.
Der Übergangspräsident selbst war in dem Süden gereist, um zu versuchen, sie umzustimmen. Es ist ihm und den Vermittlern aus der UNO und aus den Nachbarstaaten schliesslich gelungen, einen Teil der Hirak-Gruppierungen zur Teilnahme zu bewegen, doch ein anderer Teil blieb fern. Drei der wichtigeren Gruppen gehören zum Lager der Fernbleibenden, drei andere nehmen teil. Zu den unversöhnlichen Separatisten gehören die Anhänger des einstigen Kriegsgegners Ali Abdullah Salehs im Krieg von 1994, Ali Salem al-Baid, der in Beirut im Exil lebt.
Der Übergangspräsident Abdrabbo Mansur al-Hadi stammt selbst aus dem Süden, doch er kommandierte in jenem Krieg die Truppen des Nordens. Um sein politisches Gewicht im Süden deutlich machen, hat Hirak in der Woche vor der Eröffnung des Kongresses im Süden einen Streik ausgerufen und Aden sowie andere Städte des Südens weitgehend stillgelegt. Auch dies ging nicht ohne Todesopfer durch Schüsse von Seiten der Polizei vonstatten.
Al-Qaeda, teilweise besiegt, legt Bomben
Um die Aufzählung der inneren Gegensätze in Jemen zu vervollständigen, sind auch noch die Leute von al-Qaeda zu erwähnen, denen nach wie vor die besondere Aufmerksamkeit der Amerikaner gilt. Auch sie konnten davon profitieren, dass Sanaa und das jemenitische Zentrum mit sich selbst beschäftigt war. Sie haben die Lage benützt, um zu versuchen, sich nicht bloss Verstecke, sondern eigene Territorien im Süden zu schaffen. Dies gelang ihnen in der südlichen Provinz Abyan, die östlich an Aden angrenzt. Doch in einem Feldzug der jemenitischen Armee von März bis Juni 2012, gestützt durch die Amerikaner und durch Stammeskämpfer, konnten sie aus den von ihnen besetzten Städten und Ortschaften des Südens wieder vertrieben werden. Die wichtigsten waren die Hafenstadt Zinjibar und die Bergstadt Jaar.
In den grossen Wüsten Ostjemens jedoch haben sie weiterhin Schlupfwinkel und Gastfreundschaft bei den Stämmen gefunden. Die Amerikaner setzen Drohnen gegen sie ein. Doch diese verursachen immer wieder zivile Opfer und sorgen dadurch dafür, dass die Qaeda-Kämpfer weiterhin bei den darüber empörten Stämmen Hilfe und Unterschlupf finden. Al-Qaeda auf der Arabischen Halbinsel (AQAP), wie ihre Organisation genannnt wird, ist nach ihrer Niederlage in Abyan zu einem Bombenkrieg in Sanaa und anderen Regierungsstädten übergegangen, dessen Selbstmordanschläge schwere Opfer unter den Armeeangehörigen forderten.
Ein ernanntes Parlament
All diese Zwiste und Gegensätze zu überwinden und daraufhin bis Ende dieses Jahres eine neue Verfassung für Jemen auszuarbeiten, so dass Anfang 2014 Wahlen stattfinden könnten: dies wäre die Aufgabe des Versöhnungskongresses. Er ist aus fast allen der erwähnten Fraktionen zusammengesetzt, nur die Qaeda-Leute wurden nicht eingeladen, und ein gewichtiger Teil der südlichen Opposition blieb fern. Die Sitzverteilung wurde in zähen Vorverhandlungen vereinbart.
Die bisherige Staatspartei des zurückgetretenen Präsidenten, die «Allgemeiner Volkskongress» heisst, erhielt mit 112 Sitzen die grösste Delegation.
Ihr folgt jene der südlichen Bewegung («Hirak») mit 85 Vertretern; sie wird jedoch durch einen bedeutenden Teil der Bewegung boykottiert.
«Islah» (Reform) erhielt 50 Sitze. Dies war die offizielle und daher früher zahme Opposition islamistischer Ausrichtung zur Zeit Präsident Salehs. Sie ist die grosse Feindin der Houthis und der südlichen Bewegung.
Die Jemenitische Sozialistische Bewegung, die einst den Süden beherrschte, erhielt 37 Sitze, die Houthis 35, eine Nasseristische Volksunion 30, eine Gruppe von fünf kleineren Parteien 20, eine weitere Gruppierung von Salafisten und Ehemaligen des Allgemeinen Volkskongresses 14, unabhängige Jugendaktivisten (Vertreter der Demonstranten der «Revolution») 40, Frauenaktivistinnen und Aktivisten auch 40, Zivilgesellschafts-, Menschenrechts- und Gewerkschaftsaktivisten 40, vom Übergangspräsidenten ernannte Stammeschefs, Geistliche und Vertreter von marginalisierten Gruppen die übrigen 62 Sitze.
Bloss reden oder auch entscheiden?
Wie der Kongress vorgehen wird, ist noch unklar. Ob er künftig in der Art eines Parlamentes abstimmen wird, um strittige Fragen zu entscheiden, bleibt abzuwarten. Und ob er bewirken kann, dass auch den Abstimmungsresultaten entsprechend gehandelt wird, ist sehr ungewiss.
Schon heute kann man sagen, dass die politischen Kräfte, die Jemen bisher beherrschten, in ihm überwiegen, während die Stimmen der «Revolutionäre», welche die Massendemonstrationen auslösten und anführten, eine kleine Minderheit sind. Ihr Kern wird im günstigsten Fall aus den drei 40er-Gruppen bestehen; vielleicht könnten sie mit den Sozialisten zusammenarbeiten und kämen mit ihnen auf maximal 157 der 545 Sitze.
Gefolgsleute des Ex-Präsidenten und Autonomiebewegungen
Der harte Kern der Vertreter des Status quo sind die 112 «Abgeordneten» der Partei des Ex-Präsidenten. Dieser ist nach wie vor der Vorsitzende seiner Partei. Er hält sich weiterhin in Sanaa auf und hat dieser Tage sogar ein Museum eröffnet, in dem Schaustücke aus seiner 33-jährigen Herrschaftszeit ausgestellt sind. Es heisst allerdings, er werde die Delegation seiner Partei nicht selbst anführen.
Potenzielle Verbündete dieser Gruppierung sind die Stammesführer und islamistische Gruppen sowie möglicherweise die verschiedenen Kleinparteien, was ihren Block auf gegen 190 Sitze anschwellen liesse.
Die Separatisten des Nordens und des Südens zusammen haben 110 Sitze inne. Falls sie zusammenarbeiteten, könnten sie das Zünglein an der Waage innerhalb des Kongresses werden. Doch Zusammenhalt und Zusammenarbeit zwischen all diesen bisher verfeindeten Parteiungen wird schwierig werden, und dies verschafft der grössten von ihnen, jener des Ex-Präsidenten, Vorteile, die sie ausnützen wird. Sie ist auch im Manövrieren erfahren und verfügt über Gelder für Korruptionsversuche.
Erste Kritik der Fernbleibenden
Zu den Persönlichkeiten von Gewicht, die sich weigern, an dem Kongress teilzunehmen, gehört der mächtige Stammeschef, Hamid al-Ahmar, der Vorsitzende der islamistischen «Islah»-Partei. Er will mit seinem persönlichen Boykott dagegen protestieren, dass die Houthis die meisten der Sitze erhielten, die der Provinz Saada zustehen. Dies ist die Provinz, welche die zaiditischen Houthis voll dominieren. Sie hat jedoch neben zaiditischen auch sunnitische Bewohner.
Auf der Gegenseite hat die Nobelpreisträgerin Tawakkol Karman ihre Teilnahme verweigert. Sie erklärte, ihre Haltung sei begründet durch die Beteiligung von Verantwortlichen unter dem Ex-Präsidenten, die «Blut an den Händen» hätten und auch wegen dem «offensichtlichen Ungleichgewicht» aufgrund ungenügender Beteiligung von Gruppen der Jugend, der Frauen und der Zivilgesellschaft.
Auch die Wirtschaft bedarf der Rettung
Um das Gesamtbild der jemenitischen Krise zu vervollständigen, muss daran erinnert werden, dass die Wirtschaftslage des Landes katastrophal ist. Die Teuerung geht primär zu Lasten der Armen und eines Heeres von Arbeitslosen. Es fehlt an Devisen, an Wasser, an Elektrizität und an Brennstoff. Eine halbe Million Kleinkinder gilt als unterernährt. Das Land ist sehr weitgehend auf Unterstützung von aussen angewiesen ist. Sie kommt, soweit es sie überhaupt gibt, fast nur aus den Erdölstaaten des Golf Rates.
Eine optimistische Einschätzung der politischen Lage könnte darin einen Vorteil zu Gunsten der erhofften Versöhnung erblicken. Die Golfstaaten sitzen am längeren Hebelarm, und sie gedenken ihren Einfluss zugunsten der dringend notwendigen Aussöhnung einzusetzen.