Indiens IT-Industrie ist das Kronjuwel seiner Wirtschaft. Vor zwanzig Jahren noch ein Software-Zwerg, erreicht die Industrie heute eine Wertschöpfung von 160 Milliarden Dollar. Es war die Furcht vor einem weltweiten Verlust der elektronisch gespeicherten und transportierten Daten im Jahr 2000 (Y2K) gewesen, die indische Programmierer zu globalen Nothelfern machte. Zu Tausenden korrigierten sie die Computerprogramme, um zu verhindern, dass diese mit dem Jahr 00 wieder bei 1900 beginnen würden.
Schrumpfende Löhne und Entlassungen
Obwohl nur einige Millionen stark in der Zahl der Beschäftigten und auf einige Dutzend Firmen konzentriert, waren es diese, die in den letzten zwanzig Jahren die besten Arbeitgeber waren, sowohl in der Zahl der Jobs wie in der Höhe der Saläre. Allein Indiens grösstes IT-Unternehmen, Tata Consultancy Services (TCS), hat im letzten Jahrzehnt Jahr für Jahr 30 bis 50‘000 Leute angestellt – netto.
Nicht mehr. Bereits seit einigen Jahren haben sich die Neu-Anstellungen und Abgänge immer mehr angenähert. Die Löhne, die bisher jeden Studienabgänger in die obere Mittelklasse katapultiert hatten, sind heute nur noch halb so hoch, trotz Teuerung und Inflation. Und dieses Jahr haben eine Reihe von Firmen zum ersten Mal grössere Entlassungen angekündigt.
Trübe Prognosen
Sieben grosse Software-Firmen werden laut dem Wirtschaftsblatt Mint im Verlauf des Jahres 56‘000 Leute freistellen, darunter mit Infosys and Wipro die Nummern zwei und drei der Branche. Der IT-Industrieverband NASSCOM rechnet mittelfristig mit einem Schrumpfen der Beschäftigtenzahl um 40 Prozent.
Headhunter-Firmen werden von Bewerbungen überflutet, denn meist sind es mittlere und obere Kaderstellen, die unter die Guillotine kommen. Einzig die indischen Ableger grosser amerikanischer Firmen wie IBM, Accenture, Microsoft und Cisco sind offenbar genügend gut gerüstet für die Zukunft.
Zu wenig eigene Forschung
Doch auch sie sind nur deshalb so erfolgreich, weil sie besonders eifrig am Ast sägen, auf dem sie sitzen. Denn sie bilden den Kerntrupp in der Entwicklung digitaler Wissenssysteme – Artificial Intelligence oder AI. Auch sie entgehen nicht dem schier unaufhaltsamen Trend der Ersetzung von menschlicher Arbeit durch Technologie. Wofür vor zehn Jahren noch fünfzig Intelligenzarbeiter nötig gewesen seien, so hiess es in einem Bericht, brauche es heute nur noch fünf – plus smart systems.
Die plötzliche Ernüchterung in der indischen IT-Industrie ist allerdings nicht nur die Folge der Digitalisierung von Wissen und Arbeit. Das bisher bessere Abschneiden der amerikanischen IT-Unternehmen gerade in Indien (IBM beschäftigt hier mehr Leute als TCS) ist ein Hinweis, dass der beispiellose Boom der letzten zwanzig Jahre die einheimische IT-Industrie eingelullt hat. Die weltweite Nachfrage nach Back Office-Leistungen war so gross, dass wenig Kapazitäten für Forschung und Entwicklung geschaffen wurden, um eigene Software-Architekturen zu schaffen.
Fixierung auf die Troubleshooter-Nische
Die Inder spezialisierten sich auf Computerlösungen, die auf den Bedarf ausländischer Kunden massgeschneidert waren – Sicherheits- und Verifizierungssysteme, Applikationen, Unterhalt von Datenbanken etc. Diese Verzettelung auf Kundenwünsche verzögerte die Entwicklung generischer Lösungsansätze für ganze Branchen.
Statt als Anbieter aufzutreten, blieben viele Troubleshooter. Das typische Bild indischer IT-Ingenieure ist immer noch das eines kleinen Teams, das sich irgendwo auf der Welt in einer Firma einnistet, unter sich bleibt, im Hotel Curry-Reis und Dal kocht und nach einigen Monaten plötzlich wieder verschwunden ist.
Reduzierte Einreisekontingente in Kundenländer
Vielleicht ist es diese weltweite schemenhafte Präsenz, die der indischen IT-Industrie nicht nur sagenhafte Intelligenz andichtet, sondern auch etwas Bedrohliches, trotz oder gerade wegen ihres leichten Fussabdrucks. Dies mag erklären, dass Inder in den letzten Monaten in den USA zum Ziel von tätlichen Angriffen – bei einigen mit Todesfolgen – geworden sind. Und wer erinnert sich nicht der Angstgespenste, die in einem deutschen Wahlkampf in Slogans wie „Kinder statt Inder“ mündeten.
Donald Trump liess sich jedenfalls nicht zweimal bitten, auch diese populistische Zitrone kräftig auszupressen. Immer wieder mussten neben Mexikanern und anderen bad hombres auch Inder antreten, um als Sündenböcke für Jobverluste dazustehen. Sie waren es, die mit Ausweisung und Einreiseverboten geteert und gefedert wurden. Wie befürchtet kam es bei der jüngsten Ausgabe der Einreisekontingente für „temporäre Wissensarbeiter“ (Visum H1-B) zu einer drastischen Verkürzung. Andere Kundenländer ziehen nach – Grossbritannien, Singapur, Australien.
„We need to be local“
Wie schnell die Zeit läuft. Vor zehn Jahren machte der amerikanische Journalist Thomas Friedman den Ausspruch eines Infosys-Gründers – Nandan Nilekani – zum Titel eines Buchs: The World is Flat. Heute lässt sich Nilekanis Nachfolger Vishal Sikka so zitieren: „In the fast-changing world of today we need the ability to be local.“
Er lässt auch gleich Taten folgen. In den nächsten zwei Jahren wird Infosys zehntausend Stellen für amerikanische Bürger schaffen, die meisten in Indiana, dem Heimatstaat von Vizepräsident Mike Pence. Es ist ein Staat, bemerkte ein indischer Journalist, der praktisch Vollbeschäftigung hat. Wipro kündigte an, in den USA vier Forschungszentren einzurichten.
Schwachpunkt Hardware
Dies allein wird allerdings nicht genügen, um die indische IT-Industrie an der globalen Spitze zu halten. Alle Firmen planen massive Umschulungen für digitale Systeme, Robotik und AI. Hier zeigt sich allerdings ein zweiter Schwachpunkt der einheimischen IT-Industrie. Im Software-Rausch der Y2K-Jahre verpasste es Indien, auch in die elektronische Hardware-Technologie einzusteigen. Dessen Elektronik-Exporte etwa, vor zehn Jahren noch gleich hoch wie jene Vietnams, erreichen heute nur noch ein Zwanzigstel dieses Landes (dessen Wirtschaft zehnmal kleiner ist).
Bei digitalen Steuerungsprozessen verschmelzen Software und Hardware ohnehin immer stärker. Es ist kein Zufall, dass die erfolgreichsten Technologiefirmen (IBM, Microsoft, Google) diese grobe Klassifikation längst aufgegeben haben. Dasselbe gilt für das „zweite Bein“ in Form der digitalen Lösungsangebote für ökonomische Prozesse. Accenture, SAP und Oracle sind wirtschaftliche Beratungsfirmen, die gleichzeitig die dafür benötigten digitalen Lösungssysteme entwickelt haben. Auch hier ist es der indischen Industrie bisher nicht gelungen, bei der Weltspitze mitzureden.
Neue Inspirationen für Bangalore?
Unternehmer wie Sikka, der von SAP zu Infosys kam, meint, dass die Chance für die indische Industrie noch intakt ist. Die massive Präsenz der weltweit führenden US-Technologiefirmen auf dem Platz Indien mit ihrem riesigen Talent-Pool ist ein fruchtbares Biotop. Nun steht die IT-Industrie aber vor der Herausforderung, aus technischen Fixern Innovatoren zu machen – und zwar blitzschnell. „This is the last year we can be ahead of the curve“, sagte Sikka kürzlich der Times of India. „Next year we’ll be abreast. The year after, it will be too late.“
Nur mit einer Neuausrichtung kann Bangalore, immer noch das Symbol für den Aufstieg des Landes zur Wissensmacht, verhindern, dass aus dem indischen Silicon Valley bald ein Silent Valley wird. Die bisher gepäppelten Wissensarbeiter müssen lernen, mit disruptions – zum Beispiel einer Entlassung – zu leben.
Eine Entlassung hat vielleicht auch ihr Gutes. Ich las kürzlich, dass in Bangalore Techies inzwischen als Taxifahrer arbeiten. Es erinnerte mich an einen Taxifahrer, den ich letztes Jahr in Delhi traf. Auch er hatte seinen Job als Datenmanager in einer Finanzfirma verloren. Auf seiner Konsole waren sechs Smartphones installiert, jedes für einen anderen Service-Anbieter. Er verdiene gutes Geld, erklärte er mir. Nun denke er daran (und er blickte dabei auf seine Konsole), ein eigenes Start-up-Unternehmen für Fahrdienst-Plattformen zu lancieren.