Dieser Tage versammeln sich Tausende Bewohner Bagdads auf dem zentralen Platz der irakischen Hauptstadt, dem Befreiungsplatz. Auch in vielen Provinzstädten gehen die Leute auf die Strasse.
Die Demonstranten fordern ein Ende der Korruption im Land. Sie verlangen, dass endlich die Elektrizitätspannen behoben werden, die das Leben in den modernen Glas- und Betonhäusern, aber auch in den Baracken der Vorstädte zur Qual machen. Zurzeit herrscht eine Hitzewelle mit Temperaturen von über 50 Grad.
Private Unternehmen betreiben gegen eine Monatsgebühr Generatoren. Mit ihnen kann die Luft gekühlt werden, sobald der Strom des staatlichen Netzes ausfällt. Solche Ausfälle können 18 von 24 Stunden pro Tag dauern. Doch nur reiche Leute können sich einen Anschluss an private Stromversorger leisten.
"Alles kaputt"
Es gibt zahlreiche andere Missstände. Diese reichen von der ungenügenden Versorgung mit Trinkwasser bis zu den unbezahlten Monatsgehältern der unteren Staatsangestellten. "Wir kämpfen gegen den ‚Islamischen Staat‘ und setzten unser Leben auf Spiel", wird einer der schiitischen Milizmitglieder zitiert. „Dann kommen wir nach Hause und nichts funktioniert. Alles kaputt, wie seit Jahren. Nur wegen der Korruption."
Seit dem Jahr 2004 hat der Staat angeblich 800 Milliarden Dollar für die Wiederherstellung der im Krieg von 2002 zerstören Infrastruktur investiert. Doch nichts funktioniert. Die Korruption gilt als dermassen gewaltig, dass sie all dieses Geld aufgesaugt hat. Der Staat war bisher wohlhabend dank seines wachsenden Erdöleinkommens. Doch dieses wurde im vergangenen Jahr wegen der sinkenden Ölpreise halbiert. Der Krieg gegen den „Islamischen Staat“ (IS) belastet das Staatsbudget zusätzlich. Dieses wurde aufgrund der früheren höheren Erdölpreise grosszügig veranschlagt. Doch nun fehlt praktisch die Hälfte der Einnahmen.
Abadi soll Reformen durchpeitschen
Ajatollah Sistani, der überaus einflussreiche höchste Geistliche der schiitischen irakischen Gemeinschaft, hat über seinen Sprecher und über autorisierte Prediger (er selbst tritt nicht öffentlich als Prediger auf) Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi aufgefordert, mit aller denkbarer Energie Reformen durchzuführen, um die Korruption zu bekämpfen. Mit den Massendemonstrationen, die gegenwärtig stattfinden, werden Sistantis Ermahnungen unterstrichen.
Abadi hat darauf einen weit gefassten Plan vorgelegt, um die Korruption einzuschränken, Geld zu sparen und das Gesparte für das dringendst Notwendige einzusetzen. Der Plan muss allerdings noch vom irakischen Parlament genehmigt werden. Würde er in Kraft treten, fürchten die Politiker, dass ihre Privilegien eingeschränkt werden. Natürlich treten alle öffentlich für die Bekämpfung der Korruption und für die Verwirklichung des Sparplans auf. Sie wagen es nicht, die Wut ihrer Wähler weiter herauszufordern. Dennoch ist zu erwarten, dass es im Parlament Widerstände gegen Abadis Plan geben wird. Man wird sich auf bestehende Gesetze, Regelungen und getroffene Übereinkünfte berufen, deren "Legalität" bewahrt werden soll.
Schiiten, Sunniten, Kurden
Im Irak besteht seit 2003 ein Gleichgewicht von drei Hauptgemeinschaften: den Schiiten, den Sunniten und den Kurden. Die Schiiten sind die führende Gemeinschaft, doch die beiden andern erhalten Trostpreise. Dies zeigt sich schon auf der obersten Ebene des Staatspräsidiums. Es gibt einen Staatspräsidenten, aber auch zwei stellvertretende Staatpräsidenten.
Auf einer Ebene tiefer, auf der Regierungsebene, gilt das Gleiche: Es gibt einen Ministerpräsidenten, den Schiiten Abadi. Er hat zurzeit drei Vizeministerpräsidenten: einen Schiiten, einen Sunniten und einen Kurden.
Mit Geld befriedigen
Allein die drei Staatspräsidenten - mit ihren 7000 Leibwächtern, ihren amtlichen Autos etc. - kosten den Staat, wie aus dem Budget hervorgeht, 70 Millionen Dollar im Jahr.
Die Minister stehen nicht nach. An ihrer Seite stehen zudem Stellvertreter: Vizeminister. Sie können den Gang der Dinge so lange behindern oder bremsen, bis ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Unter anderem versuchen Vizeminister, ihre Klientele in den Ministerien unterzubringen.
Um seine Vorhaben durchführen zu können, muss der Minister daher seine Vizepräsidenten zuerst befriedigen. Er tut dies meist, indem er ihnen Geld zusteckt und ihre Wünsche auf Kosten des Ministeriums erfüllt.
Abschaffung der Vizepräsidenten
Kern der Reformvorschläge Abadis ist, das Personal der Ministerien zu reduzieren. Manche Ministerien sollen zusammengelegt werden. Ferner sollen die Ämter der Vizepräsidenten und der Vizministerpräsidenten abgeschafft werden - ebenso manche der unabhängigen Kommissionen. Die Zahl der Berater, die heute für das Parlament, die Präsidentschaft und die die Regierung tätig sind, soll beschränkt werden.
Laut dem Plan sollen ausländische Investoren ins Land geholt werden. Und natürlich verspricht Abadi – was jeder Ministerpräsident seit über zehn Jahren verspricht -, dass die Energieversorgung saniert wird. Diese wurde während der amerikanischen Invasion völlig zerstört und seither nicht wieder aufgebaut.
Ein langer Weg
Politische Beobachter glauben, dass das Parlament den Plan annehmen wird. Der Druck der unzufriedenen Strasse ist zu gross geworden, besonders da er mit den Mahnungen Sistanis zusammenfällt. Der Ajatollah ist jene Person, der die schiitische Mehrheit der Iraker mehr Vertrauen schenkt als allen Politikern und Regierungsautoritäten.
Doch von der Annahme des Plans bis zu seiner Verwirklichung wird es ein langer Weg sein. Dort werden sich die Haupthindernisse einstellen, die zu überwinden wären, wenn das Land wirklich saniert werden soll. Viele der Politiker und Beamten, die heute im Parlament und in den Behörden sitzen, wollen ihre legalen aber ungerechtfertigten Privilegien nutzen und weiter ausbauen. Diese Privilegien haben sie sich selbst als Gesetzgeber zugesprochen. Manche von ihnen nutzen zudem ihre amtliche Stellung aus, um daneben halb legale oder gänzlich illegale Geschäfte zu betreiben. Es ist anzunehmen, dass sie es sein werden, die die Verwirklichung von Abadis Plan behindern wollen.
Dass die Regierung heute, nicht mehr wie früher, im Geld schwimmt, sondern dass Geldknappheit herrscht, könnte sich als Glück im Unglück erweisen. Denn die Geldknappheit dürfte die Politiker dazu zwingen, Reformen ernsthaft an die Hand zu nehmen.