Nadine Picaudou tritt der Versuchung entgegen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Namen Allahs verübte Gewalt als Ausdruck eines „grünen Faschismus“, einer fundamental antidemokratischen Religion, zu deuten. In ihrem “Essay über die muslimische Moderne“ beleuchtet die Professorin für arabische Zeitgeschichte an der Pariser Sorbonne Momente der innerislamischen Debatte, semantische Veränderungen zentraler Begriffe und Verschiebungen der religiösen Autorität um die Wende zum 20. Jahrhundert.
Text-Fundamentalismus als Dogma
In dieser Zeit, so die These Picaudous, fanden die entscheidenden Schritte der Ideologisierung statt, auf welche sich der politische Islam unserer Zeit beruft.
Um die Anfänge einer „neuartigen Deutung der Religion“ aufzuzeigen, holt Picaudou weit aus. Im Hedschas, dem Westen der Arabischen Halbinsel, forderten im 18. Jahrhundert einzelne der aus dem Sufismus bekannten Bruderschaften die Rückbesinnung auf die im Koran und den Biographien des Propheten überlieferte islamische Gründungszeit. Diese Ordensbrüder strebten nicht mehr nach asketischem Rückzug und individueller Frömmigkeit, sondern idealisierten das überlieferte Leben und Tun des Propheten als Verhaltensmuster für den Einzelnen und Messlatte für den Zustand der Gesellschaft.
Auch Muhammad Ibn Abdel Wahhab (1703–1792) lehnte jegliche Vermittlung durch die Gelehrten ab. Entgegen der damals dominanten sunnitischen Tradition der Unterscheidung zwischen dem Tun im Ermessen des Menschen, und dem Glauben, den nur Gott alleine beurteilt, zählte für Abdel Wahhab zu den Gläubigen einzig, wer die Texte wörtlich befolgt. Sein „textlicher Fundamentalismus“ überlebt bis heute als Saudiarabische Staatsreligion.
Antworten auf den Vorsprung der Kolonialherren
Nach den ersten Reformimpulsen aus der kulturellen Peripherie kommt es im Innern der arabisch-islamischen Kultur zum Bruch mit der Tradition. Eine im 19. Jahrhundert aufstrebende Generation „intellektueller Geistlicher“ war einerseits in den klassischen Religionswissenschaften geschult, scheute aber andererseits nicht die öffentliche Debatte. Muhammad Abduh (gest. 1905) und Jamal Eddin Al-Afghani (gest. 1897) waren Vertreter dieses neuen hybriden Typs, die nicht nur predigten sondern auch an Konferenzen sprachen und sich sowohl in Traktaten zu Glaubensfragen, als auch in Presseartikeln zur Aktualität äusserten.
Prägend für die von ihnen getragene islamische Erweckungsbewegung war, dass sie im Kontext der europäischen Kolonialisierung stattfand und nach Antworten auf den technischen Vorsprung der europäischen Armeen und den Vormarsch der christlichen Missionare suchte. Der koranische Aufruf an den Gläubigen, sich seines Verstandes zu bedienen, wurde deswegen nicht nur als Beweis der Vereinbarkeit der islamischen Botschaft mit moderner Wissenschaft und Technik ausgelegt, sondern zudem der Irrationalität des christlichen „Aberglaubens“ an Inkarnation und Dreifaltigkeit gegenübergestellt.
Scharia und Rationalität
Doch verstand der islamische Reformismus Rationalität lediglich als kognitives Instrument zur technischen Entwicklung, eine rationale Weltanschauung wurde nicht eingefordert. Diese gespaltene Rationalität erlaubt es noch heute den unter islamischen Terroristen überproportional vertretenen Ingenieuren und Naturwissenschaftlern, ihren Glauben nie in Frage zu stellen.
Durch Reformen versuchte das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert dem Druck der Europäischen Mächte zu widerstehen. Schrittweise übernahm Istanbul ab 1839 neue Gesetze, führte eine Verfassung ein, und schaffte schliesslich das Kalifat ab. Insofern diese Erneuerungen Spuren des Fremdeinflusses aufwiesen, nährten sie auch Ressentiments: Europäische Regierungen stellten christliche Untertanen des Sultans unter ihren konsularischen Schutz und entzogen sie so weitgehend den für ihre muslimischen Mitbürger geltenden Gesetzen.
Keine monokausalen Erklärungen
Zudem erlebte die Gelehrtenklasse das Aufkommen des gesetzgebenden Staates wie ein Übertritt auf ihren Hoheitsbereich. Es entstand die „Legende in drei Akten“ einer Scharia, die angeblich alle Aspekte des muslimischen Lebens geregelt habe, dann durch fremde Gesetzgeber aufgehoben wurde und nun wiederhergestellt werden müsse.
Die Hypothese der Autorin von einem entscheidenden Abschnitt der islamischen Moderne zwischen 1860 und 1930 darf nicht auf das Jahr genau verstanden werden. Ihr Ansatz, kleine, oft voneinander unabhängige Schritte aufzuzeigen, steht aber in starkem Gegensatz zu monokausalen Erklärungen wie etwa der demographischen (z.B. Emmanuel Todd), welche das islamistische Phänomen einseitig als Symptom der muslimischen Bevölkerungstruktur abtut.
Republikanischer Islam
Auch Jean-François Bayart versteht den Islam als Produkt der Geschichte, nicht seines Wesens. In seiner Studie „L’Islam républicain“ schreibt der vergleichende Politikwissenschafter die Geschichte der Einführung des republikanischen Systems in Iran, der Türkei, und Senegal. Diese Beispiele, so der Autor, zeigten die Wandlungsfähigkeit eines Islam, der mit der Republik eine Idee übernahm, die in seiner philosophischen Tradition nicht vorkommt.
Bayarts drei Fallstudien sind historisch informativ, doch seine Schlussfolgerung befriedigt nicht: der Islam mag „in der Republik löslich“ sein, aber die brisantere Frage nach seiner Vereinbarkeit mit Demokratie und Pluralismus bleibt unbeantwortet.
Nadine Picaudou : L'Islam entre religion et idéologie. Essai sur la modernité musulmane. Gallimard, 2010. 320 Seiten, € 21,00.
Jean-François Bayart : L’islam républicain: Ankara, Téhéran, Dakar. Albin Michel, 2010. 426 Seiten, € 23,99.