Schon im Januar, nachdem al-Kaida-Verbände Falludscha überrannt hatten, war massive amerikanische Unterstützung eingetroffen, zunächst ausschliesslich Kriegsmaterial, darunter Hellfire-Raketen, Scan Eagle-Drohnen und Raven-Drohnen. Die Terrororganisation, deren Stärke US-Botschafter Robert Beecroft auf rund 2000 Kämpfer schätzt, wird von den Vereinten Nationen für Anschläge im ganzen Land verantwortlich gemacht, die schon im letzten Jahr 7818 Menschenleben gekostet haben. Und die Zahl steigt. Im ersten Monat dieses Jahres töteten ihre Bombenanschläge alleine in Bagdad mehr als 700 Menschen. Sowohl irakische als auch amerikanische Sicherheitsbeamte gingen schon damals davon aus, dass al-Kaida mit den Anschlägen das Ziel verfolge, die religiösen Konflikte zwischen den regierenden Schiiten und der sunnitischen Minderheit im Land wieder anzufachen.
Genau dies ist inzwischen eingetreten. Teile der von Iraks Präsident Nuri al-Maliki sträflich vernachlässigten Minderheit, die einst unter Diktator Saddam Hussein die Schaltstellen der Macht besetzten, rücken nun in einem grausam geführten Feldzug gegen Bagdad vor. „Terror im Irak“ titelte da sogar die seriöse Süddeutsche Zeitung (SZ). Mit dem Terror wird die Entsendung frischer US-Truppen nach Bagdad begründet. Die USA schickten 275 Soldaten in den Irak. „Diese Einheit wird im Irak bleiben, bis die Sicherheitslage es nicht länger erfordert“, informierte Präsident Barack Obama den Kongress. Dazu nahmen ein paar Schlachtschiffe wie der Flugzeugträger USS George H. W. Bush und die USS Mesa Verde, die ebenfalls mit Kampfflugzeugen ausgerüstet ist, Kurs in den Persischen Golf. Wie üblich, wenn die USA Truppen ins Feindesland schicken, sollen sie US-Bürger, die Botschaft und die amerikanischen Interessen schützen.
Die weltweit grösste diplomatische Vertretung
„Durch die Entsendung der Soldaten“, so weiss die SZ, „wird die Präsenz der USA im Irak verdoppelt.“ Denn auch nach dem offiziellen Abzug waren mindestens eine Brigade sowie eine Eliteeinheit der Special Operations Forces, die Terroristen jagt, am Tigris geblieben. Freilich, bei genauerem Hinsehen erweisen sich diese Zahlen als irreführende Augenwischerei. Und auch die so eifrig beschworene Gefahr für die US-Botschaft scheint übertrieben. Die ist ja kein Schweizer Chalet sondern eine veritable Festungsanlage.
Vor dem offiziell erklärten Abzug der US-Truppen hatte das State Department in Bagdad für 736 Millionen Dollar auf einem Gelände von der Grösse des Vatikan-Staates seine weltweit grösste diplomatische Vertretung bauen lassen, die – ausgerüstet mit 46 Flugzeugen, eigenen Anlagen zur Trinkwasseraufbereitung, zur Energiegewinnung und zur Abfallbeseitigung – auch einer längeren Belagerung standhalten könnte. Mit späteren Umbauten und Verstärkungen summierten sich die Gesamtkosten schliesslich auf über eine Milliarde Dollar.
Blackwater etc.
Dies war erforderlich, weil das State Department nach dem Abzug der Besatzungstruppen im Zweistromland auch die Rolle des Pentagon übernahm. 17 000 Mann umfasst das auf 15 Stützpunkte verteilte Personal der Botschaft, von denen nur wenige Hundert tatsächlich Diplomaten sind. Daneben sind in jeder der konsularischen Vertretungen Washingtons in Basra, Mosul und Kirkuk mehr als 1000 Mann stationiert, die zusätzlich noch von jeweils 4000 bis 5000 sogenannten Defense Contractors (Söldner) verstärkt werden. Somit unterhalten die USA offiziell bereits mehr als 30 000 Mann in Irak. Hinzu kommt noch eine unbekannte Zahl geheim operierender Spezialeinheiten, die den Geheimdiensten oder dem Joint Special Operations Command unterstellt sind. Nachdem der Kongress der Botschaft für 2011 nur 2,3 Milliarden Dollar bewilligt hatte, war der Etat zwei Jahre später auf mehr als das Doppelte gestiegen.
Es sind heute keine GIs mehr, die den Luftraum über der irakischen Hauptstadt sichern, sondern Hubschrauberpiloten und Maschinengewehrschützen der DynCorp International, einer privaten Söldnerfirma mit Sitz in Virginia. Die US-Soldaten wurden von US-Söldnern ersetzt, die bei acht verschiedenen Firmen wie Aegis Defence Services, Global Strategies Group oder International Development Services unter Vertrag stehen. Mit International Development ist auch Blackwater bzw. XeServices, wie sich die berüchtigtste all dieser Firmen heute nennt, wieder im Geschäft mit der US-Regierung. Den Schätzungen zufolge etwa 10 000 Mann der extremistischen Gruppe Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS) stehen also nicht nur die weitaus grössere irakische Armee, kurdische Peschmerga und Tausende Freiwillige gegenüber sondern auch amerikanische Soldaten und Söldner, die alleine schon mehr als die dreifache Mannschaftsstärke von ISIS erreichen.
Systematische, kaltblütige Hinrichtungen
Natürlich wird der Aufmarsch keine Befriedung des geschundenen Landes bewirken, im Gegenteil, die extremistischen Kräfte werden noch mehr Zulauf bekommen. Einer aus der seit britischen Kolonialzeiten legendären Dalrymple-Dynastie warnte schon über hundert Jahren sein Aussenministerium davor, sich ständig in die arabischen Angelegenheiten einzumischen, da dies nur eine Verhärtung der feindseligen Haltung der muslimischen Welt gegenüber dem Westen zur Folge haben werde. Er hatte allerdings so wenig Erfolg bei seiner Regierung wie heute die mässigenden Stimmen im Westen.
Die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay beschuldigte ISIS, „höchstwahrscheinlich“ Hunderte nicht am Kampf beteiligte Männer ermordet zu haben. "Obwohl die Zahlen noch nicht verifiziert werden können, stellt diese systematische Serie kaltblütiger Hinrichtungen, überwiegend an verschiedenen Orten im Bereich um Tikrit, fast sicherlich ein Kriegsverbrechen dar." Da fällt Arthur Koestlers „Der Gott, der keiner war“ ein, wo die Stimmen „vor selbstgerechter Empörung bebten“, wenn die Gräueltaten der Andern aufgezählt wurden, „wie wir aber schwiegen“, wenn wir die Gräueltaten begingen. Als die Allianz der Willigen den Irak in „shock and awe“ versetzte, sprach niemand von Kriegsverbrechen und schrieb keine Zeitung „Terror im Irak“.
Eine Million Tote?
Zwar differieren die Zahlen über die Opfer dieser US-geführten Angriffe teilweise erheblich. Nach Angaben des Iraq Body Count, eine Gruppe, die sich bei ihren Schätzungen über die Zahl der Opfer auf die Berichte der westlichen Presse stützt, starben in der Invasionsphase des Krieges 7500 Zivilisten und in den Kampfhandlungen danach bis 2007 weitere 80 000. Iraks Gesundheitsminister Ali al-Shemari hingegen schätzte schon im November 2006, dass nach der Invasion zwischen 100'000 und 150'000 Irakis als Opfer der Auseinandersetzungen gestorben seien.
Die britische Medizinzeitschrift Lancet veröffentlichte ein Jahr später eine Untersuchung, die von Wissenschaftlern der Johns Hopkins University durchgeführt worden war, die allerdings keine Unterscheidung machte zwischen der Invasionsphase (März bis Mai 2003) und der Besatzungsphase. Demnach starben in dem Konflikt über 650 000 irakische Zivilisten, die Mehrzahl nach dem Mai 2003. Die unabhängige britische Agentur ORB (Opinion Research Business) ging nach der Befragung von 2099 erwachsenen Irakern von rund einer Million Toten aus.
Gleichzeitig verloren 4,2 Millionen Irakern ihre Wohnungen und wurden Flüchtlinge. Der UN Hochkommissar für Flüchtlinge schätzte im Juni 2007, dass etwa 2,2 Millionen Irakern in die Nachbarstaaten geflohen sind, während zwei Millionen im eigenen Land als displaced persons lebten. 40 Prozent aller Akademiker hatten das Land seit Beginn der Auseinandersetzungen im Mai 2003 verlassen, von den vormals 34 000 Ärzten praktizierten nur noch 20 000 in Irak. Zwar machten die 1,4 Millionen Christen des Irak weniger als fünf Prozent der Bevölkerung aus, sie stellten jedoch 40 Prozent all jener, die ins Ausland flohen. Ihre Zahl im Land ist bis heute auf unter 500 000 gesunken, die Hälfte davon lebt in Bagdad.