Sie haben sich noch nie mit dem Thema Epochenwandel befasst? Staubtrockene Analysen interessieren Sie nicht? Was soll das alles mit der Covid-19-Pandemie zu tun haben? Es ist genau diese Welt der Zukunft, des Kommenden, der menschlichen Möglichkeiten, die Sie faszinieren wird.
Spannende Szenarien
Die Übergänge von einer Epoche zur nächsten lassen sich schlecht an einzelnen Jahreszahlen festmachen. Die Epochengrenzen sind fliessend. Historische Entwicklungslinien sind von langer Dauer und können oft nicht abschliessend datiert werden. Die Szenarien sind faszinierend: bedrohlich, spannend, herausfordernd oder fantastisch.
Das Thema könnte vielen Menschen abenteuerlich erscheinen. In dieser ungemütlichen Corona-Phase sitzen wir oft gelangweilt vor dem Bildschirm. Stattdessen: Warum befassen wir uns nicht mit den Anzeichen eines epochalen Wandels? Mit den relevanten Erkenntnissen von Kulturphilosophen, Wissenschaftsjournalisten, Physikern, Chemikern, Soziologen, Philosophen? Plötzlich mag es uns dämmern, dass «irgendetwas nicht mehr stimmt um uns herum». Dass wir etwas nicht mehr unter Kontrolle haben. Meinten wir doch eben noch, wir hätten die Welt im Griff – und jetzt scheint sie uns zu entgleiten?
Das Momentum
Das Jahr 2020 – auch Coronajahr genannt – symbolisiert das Jahr des grossen Umbruchs. «Es» passierte ohne unseren Einfluss und überrumpelte die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft über Nacht. Viele Menschen stellen sich die Frage, ob gar die Bezeichnung «Epochenwechsel» für die sich am Horizont abzeichnenden Verwerfungen verwendet werden darf. Markiert dieser nicht für möglich gehaltene Einbruch in unsere Zeit der verharrenden Beliebigkeit, des prahlerischen Überflusses, des drängelnden Egoismus und des grassierenden Populismus eine unsichtbare Grenzlinie zwischen der Postmoderne (Gegenwart) und des Nachher (Zukunft)?
Wir kennen die Antwort noch nicht
Wissenschaftler beschäftigen sich mit dieser Frage nicht erst seit 2020. Schon vor bald 100 Jahren stellten sich die ersten unter ihnen im Kontext krisenhafter Verwerfungen die Frage, ob sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts Anzeichen eines Epochenwechsels mehrten. Sie fragten sich, ob die Menschheit in dieser Phase des Umbruchs unterwegs zur Epoche des Nachher, auch bezeichnet als New Realism (neuer Realismus) oder Bewusstwerdung, sei. Historiker und Historikerinnen datieren einen Epochenwandel anhand von Ereignissen, in deren Folge sich die Welt grundlegend verändert hat, im Nachhinein. Wenn wir uns heute fragen, ob die Covid-19-Pandemie diesen Impact haben wird, kennen wir die Antwort natürlich nicht.
Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wird gemeinhin dem 14./15. Jahrhundert zugeschrieben. Stehen wir rund 500 Jahre später am Wendepunkt von der Neuzeit (Postmoderne) zur nächsten Epoche?
Symptome des Neuen
Die Philosophin Patricia Löwe, wissenschaftliche Referentin bei der Guardini Stiftung, Autorin und Redaktorin, setzt sich genau mit diesen Fragen auseinander. Facebook, Smartphones, Klimawandel, genetisch veränderte Lebensmittel, weltweite Flüchtlingskrise – diese Stichworte könnten durchaus als Symptome für den Beginn eines neuen Zeitalters stehen. Löwe bezieht sich ihrerseits bei ihrer Suche nach solchen Zeichen auf Romano Guardini (1885–1968, Religionsphilosoph und Theologe) und dessen Buch «Das Ende der Neuzeit». Dieser hatte schon 1950 diese Umbruchszeit wie folgt definiert: «Das Alte funktioniert nicht mehr, das Neue ist bisher Möglichkeit, die von uns, die wir in dieser neuen Zeit leben, ergriffen werden kann.» War Guardini ein Visionär?
Das Ende der Neuzeit?
Dieser Guardini (*1885 in Verona, 1968 in München gestorben) war katholischer Priester, Jugendseelsorger, Religionsphilosoph und Theologe. 1950 war er Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Im selben Jahr erschien sein Werk «Das Ende der Neuzeit». Die oben erwähnte Philosophin Patricia Löwe («weiter denken. Journal für Philosophie») hat sich 2018 zu Guardinis Buch geäussert: «Wenn Guardini behauptet, ein erneuter Epochenwechsel [nach Urgeschichte, Altertum, Mittelalter und Neuzeit] vollziehe sich im Augenblick, so müssen wir uns nicht fragen, ob seine Diagnose zutrifft, sondern auch, ob es überhaupt möglich ist, die Zeitwende zu erkennen, während sie noch stattfindet.»
Das Werk Guardinis ist zunächst eine Bestandesaufnahme dessen, was gewesen ist, und dessen, was sich ankündigt. Es geht um den Versuch, sich in der Situation der eigenen Zeit zurechtzufinden. Dabei bedient er sich der Methodik und Grundhaltung des Philosophen: jener der Nachdenklichkeit. Während er detailliert auf die Ereignisse vergangener Übergangszeiten eingeht, schildert er die Zeitzeichen der sich anbahnenden neuen Epoche illusionslos und mit geradezu hellseherischer Schärfe. Den Menschen des 20. Jahrhunderts bezeichnet er als «nicht humanen Menschen». Er meint damit einen «Menschen der Masse» oder ein Wesen, das unfähig ist, für das Weltgeschehen, das es selbst verursacht hat, Verantwortung zu übernehmen.
Allerdings möchte Guardini keineswegs als Weltuntergangsprophet wahrgenommen werden, sondern er bietet Trost: Jeder Epochenwechsel sei eine nie dagewesene Krise, die alles bisher Gekannte erschüttert.
Eine verrückte Welt?
Ich möchte Sie auffordern, an dieser Stelle gedanklich für einen Moment von der Philosophie auf die Quantenphysik umzustellen. Im November 2020 – mitten in der zweiten Covid-19-Bedrohungswelle und der turbulenten Präsidentenwahl in den USA – äussert sich Miriam Meckel, Professorin und Gründungsverlegerin des Digitalmediums «ada – Heute das Morgen verstehen», aus ihrer Sicht zum bevorstehenden Paradigmenwechsel. Sie fragt, was das für eine verrückte Welt sei, in die wir plötzlich geraten seien, in der die Unterscheidung zwischen dem Entweder-oder keinen eindeutigen Verlauf mehr hätte. «Wo es kein klares Schwarz und Weiss mehr gibt, greift manch einer auf die Verschwörungstheorie und die Polit-Science-Fiction zurück», sagt sie in der NZZ.
Doch nein, sie beschreibt weder die Corona-Pandemie noch Trump, den schlechten Verlierer; sie äussert sich zur Welt, die sich im Quantenzustand dreht und in der plötzlich beides auf einmal geht: Arbeit und Freizeit, links und rechts, krank und gesund. Vergleichbar sei dies mit der neuen Computergeneration, genannt Post-Schwarz-Weiss-Welt. Sie löse jene Ära, die sich unter unserem Blick bereits aufzulösen begonnen habe, ab.
Ein Vorbote davon hätte Google im vergangenen Herbst publiziert, als der Computergigant meinte, sie hätten «quantum supremacy» erreicht. Dies sei ein deutlicher Hinweis gewesen, wie Technologieinnovationen eine Zeitenwende markieren könnten. Gemeint ist die neue enorme Rechenleistung des Quantencomputers «Sycamore», der 200 Sekunden braucht für eine Aufgabe, für die der derzeit weltbeste Supercomputer 10’000 Jahre benötigen würde.
Fazit: Alles kann so und gleichzeitig anders sein (Schrödingers Katze für die Spezialisten). Wir leben fortan nicht in einem Universum, sondern in einem Multiversum. Weshalb ich diese kleine Geschichte hier eingebaut hätte, fragen Sie sich? Die Antwort kommt zum Schluss dieses Essays, wo ich Sie in die Gedanken des integralen Bewusstseins eines Jean Gebser («Ursprung und Gegenwart») einführe, der u. a. vom Ende der Schwarz-weiss-Welt, von der Überwindung der Gegensätze entweder/oder und richtig/falsch sprach. Da treffen sich auf wundersame Weise die Gedankengänge des 20. mit jenen des 21. Jahrhunderts und der Kulturphilosophie mit der Quantenphysik.
Historische Momente
«Es gibt historische Momente, in denen man fast schlagartig den Eindruck gewinnt, dass sich etwas Wesentliches verändert hat: dass unsere Urteile und Gefühle, Empfindlichkeiten und Handlungen nunmehr durch andere Bezugsgrössen gesteuert und beeinflusst werden als bisher; dass die vorherrschende Kultur und mit ihr die gesamte Gesellschaft nicht mehr dieselben sind wie noch wenige Jahre zuvor», sagt der Philologe Christoph Riedweg in «Nach der Postmoderne».
Und der brillante Physiker Robert Laughlin, *1950, schrieb 2005 in seinem Buch «Abschied von der Weltformel – Die Neuerfindung der Physik» im Zusammenhang mit dem Aufkommen des neuen Zeitalters der Emergenz: «Wir leben nicht in der Endzeit der Entdeckungen, sondern am Ende des Reduktionismus, einer Zeit, in der die falsche Ideologie von der menschlichen Herrschaft über alle Dinge mittels mikroskopischer Ansätze durch die Ereignisse und die Vernunft hinweggefegt wird.»
Wir sehen, dass die verschiedenen Forschungsrichtungen für das Zeitalter der Gegenwart und jenes der Zukunft unterschiedliche Bezeichnungen verwenden. In diesem Fall setzt Laughlin Reduktionismus an die Stelle von Postmoderne und «das Zeitalter der Emergenz» anstelle des oben erwähnten New Realism.
Jean Gebser – seiner Zeit voraus
Neue Eigenschaften, neue Qualitäten, neue Wörter – auch damit befasste sich der Kulturphilosoph Jean Gebser (1905–1973) in seinem faszinierenden Werk «Ursprung und Gegenwart». Er geht darin davon aus, dass eine Bewusstseinsmutation beim Menschen Voraussetzung zur Bewältigung des Epochenübergangs ist, dessen Hauptmanifestation «der Einbruch der Zeit in unser Bewusstsein» darstellt. Seine Gedanken zum Übergang von der (mentalen) Gegenwart in eine (integrale) Zukunft hat er auf rund 1000 Seiten niedergeschrieben. Bemerkenswert scheint mir, dass Gebser sein Monumentalwerk zur gleichen Zeit geschrieben hat wie Guardini …
Der Biologe Joachim Illies (1925–1982) schrieb im Geleitwort: «[Jean Gebser] … ist seiner Zeit um eine ganze Generation voraus, denn er macht Mut, wo wir noch nicht einmal begonnen hatten, uns zu fürchten […]. Fünf Stufen der Wirklichkeit, wie Gebser sie freilegte als tragende Strukturen der Welt – das ist zugleich Hoffnung wider alle Furcht vor dem Ende der Geschichte, das bedeutet endgültige Überwindung des gnadenlosen Entweder-Oder der zweistufigen Logik, an der unsere Zeit in ihrem Kern leidet.»
Jean Gebser, kulturwissenschaftlich orientierter Bewusstseinsforscher des letzten Jahrhunderts, dessen Werk ich vor gut 40 Jahren studiert habe, vermag immer noch zu faszinieren. Seine Beschreibung des Übergangs der zu Ende gehenden mentalen in die integrale Bewusstseinsstruktur, der «Mutation», wie er diese Phase nennt, lautet stark verkürzt: «Die Fixierung führte zur Isolation, die Sektorierung zur Vermassung. Damit schliesst in unseren Tagen ein Prozess ab, der als negative Möglichkeit bereits in den Anfängen der mentalen Struktur vorgegeben war und der seine Wurzel in der Unzulänglichkeit der Synthese des Dualen hatte, eine Unzulänglichkeit, die sich in der Abstraktion und in der Quantifizierung zu erkennen gab […] Dieser teilende Aspekt der Ratio und des Rationalismus, der inzwischen allein gültig geworden ist, wird immer noch übersehen, obwohl er von ausschlaggebender Bedeutung für die Beurteilung unserer Epoche geworden ist.» Geschrieben hat Gebser diese Worte 1932.
Eindrücklich ist für mich die Aktualität von Gebsers Wortwahl. Wenn heute der Begriff Coronakrise in aller Munde ist, wenn über den Auslöser eines fundamentalen Epochenwechsels gerätselt wird, so meinte Gebser einst: «Was wir heute erleben, ist nicht nur eine europäische Krise. Sie ist auch nicht eine blosse Krise der Moral, der Wirtschaft, der Ideologien, der Politik, der Religion. […] Sie ist eine Weltkrise und eine Menschlichkeitskrise, wie sie bisher nur in Wendezeiten auftraten, die für das Leben der Erde und der jeweiligen Menschheit einschneidend und endgültig waren.»
Wir arbeiten daran
Vielleicht haben Sie sich bei der Lektüre ab und zu gefragt, wie weit sich diese verschiedenen «Befunde» eines Tages in der Rückblende als faszinierende Voraussagen entpuppen werden? Oder: Wie lassen sich alltägliche Rituale, auch politische, mit solchen Zeitanalysen in Einklang bringen? Sind Sie bei der Reflexion einzelner Aussagen gedanklich soweit angeregt worden, dass Sie sich näher mit der Epochenwandel-Theorie befassen wollen?
Was ist und was wird sein? Wir wissen es nicht. Ich weiss es nicht.