Vor lauter Sorge darüber, dass Israel in diesen Tagen seine Angriffe auf Rafah im Gaza-Streifen noch weiter intensivieren könnte, geht medial (aber auch bei vielen Politikern) vergessen, dass ein Funke ins sprichwörtliche Pulverfass genügen könnte, um aus dem regionalen Konflikt einen Flächenbrand zu entfachen. Und auch Iran droht wieder – nicht, wie noch im April, mit einem direkten Angriff auf Israel, sondern, verklausuliert, mit einer atomaren Eskalation.
«Wir haben uns nicht entschieden, eine Atombombe zu bauen», sagte der geistliche und politische Führer des Landes, Ayatollah Ali Khamenei, «aber sollte die Existenz des Iran bedroht sein, wird es keine andere Wahl geben, als unsere Militärdoktrin zu ändern.»
Die beiden Erzfeinde, Iran und Israel, haben allerdings signalisiert, dass sie eine direkte Konfrontation vermeiden wollen – realitätsnäher ist die Gefahr einer Eskalation durch Auseinandersetzungen zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah..
Hisbollah (Hizb-Allah), die Huthi, die palästinensische Hamas, aber auch pro-iranische Milizen in Irak gehören zur Achse des Widerstands. Diese «Achse» wird oft als kohärentes Bündnis von Kräften geschildert, das auf Befehl der iranischen Führung in Teheran handelt und das aufgrund einer Langzeit-Strategie Irans geformt wurde. Die Realität ist allerdings komplexer.
Hisbollah
Das erste Bündnis zeichnete sich 1982 ab. Libanesische Schiiten wandten sich hilfesuchend an Ayatollah Khomeini im fernen Iran. Sie waren innerhalb Libanons sozial und wirtschaftlich benachteiligt, mit Iran aber fühlten sie sich aus religiösen Gründen verbunden: Sie waren (sind) ebenfalls der Linie der so genannten Zwölfer-Schiiten zugehörig, das heisst, sie anerkennen als geistliche Leitsterne zwölf Nachkommen Alis, des Propheten-Schwiegersohns, und verehren besonders den Zwölften, der im 10. Jahrhundert starb und eines Tages als Mahdi, als Erlöser, wiederkommen soll.
In Khomeini fanden sie einen bereitwilligen Helfer – der Ayatollah erkannte, dass ihm da DIE Gelegenheit geboten wurde, eine Drohkulisse gegen Israel aufzubauen. Schliesslich wollte er seine islamische Revolution ja bis nach al-Quds, also bis nach Jerusalem, tragen und dem Zionismus ein Ende bereiten. Von Iran aus (Teheran und Jerusalem liegen rund 2000 km voneinander entfernt) erschien das unmöglich, aber vielleicht könnten die Libanesen ja diese Aufgabe übernehmen – oder zumindest Israel mit Nadelstichen enervieren …
Das seither in den Libanon transferierte Geld (die Summen schwanken von Jahr zu Jahr und, je nach Quelle, geschätzt zwischen 100 Millionen und einer Milliarde Dollar) erwies sich als gut investiert: Die Schiiten bildeten eine Miliz, Hisbollah (Partei Gottes), deren Mitglieder ihren Treue-Eid auf Khomeini persönlich (nach seinem Tod auf dessen Nachfolger, Ali Khamenei) schworen. Aus einer kleinen Truppe wurde eine schlagkräftige Armee, mit jetzt etwa 100’000 Angehörigen, dank iranischer Hilfe auch immer besser ausgerüstet (gegenwärtige Schätzung: 130’000 zielgenaue Raketen). Aber nicht nur das: Die Schiiten Libanons emanzipierten sich, formten politische Parteien, wurden zu einer wichtigen Kraft im Parlament und zeitweise auch in der Regierung – so durchschlagend, dass sie, als Hisbollah, nun praktisch über ein Veto bei allen wichtigen Entscheidungen der Politiker (und auch über einen eigenen TV-Kanal) verfügen.
Ob die in Iran dominierenden Kräfte der Hizb-Allah-Miliz und deren Chef, Hassan Nasrallah, direkt Befehle oder nur Ratschläge erteilen, ist umstritten. Schaut man sich die Entwicklung seit dem 7. Oktober (dem durch den Hamas-Massenmord ausgelösten Krieg Israels im Gaza-Streifen) an, schält sich als vorläufige Bilanz heraus: Hisbollah will nicht in eine grosse Konfrontation mit Israel verwickelt werden, möchte aber den Konflikt (aus Loyalität einerseits gegenüber dem Israel-Erzfeind Iran und anderseits gegenüber Hamas) mit kontrollierter Intensität weiterführen. Konkret: Fast täglich werden Raketen auf das nördliche Israel abgefeuert, mit dem Resultat, dass seit Oktober etwa 70’000 Israeli ihre Häuser in Grenznähe verlassen mussten, also zu Binnen-Flüchtlingen wurden. Umgekehrt bombardiert Israel mit ähnlicher Regelmässigkeit Regionen im Süden Libanons, mit dem erklärten Ziel, die Hisbollah-Kämpfer um mindestens 40 Kilometer von der Grenze zurückzudrängen. Was in der betreffenden Gegend ebenfalls zu einer Binnenflucht-Bewegung geführt hat.
Vorläufige Bilanz: Die Lage in dieser Region bleibt labil – würde die eine oder andere Seite einmal militärisch eskalieren, könnte sie leicht ausser Kontrolle geraten und sich zu einem regionalen Flächenbrand ausweiten.
Irakische Milizen
Sie bilden, nach Hisbollah, die zweite Kraft innerhalb der Achse des Widerstands, mit derzeit (geschätzt) rund 100’000 Kämpfern, teils von Iran direkt besoldet, teils von der Regierung in Bagdad (die Mehrheit von ihnen wurde in die irakische Armee integriert).
Auch sie formierten sich nicht aufgrund eines iranischen Masterplans, sondern im Wesentlichen als Resultat des von den USA im Jahr 2003 entfachten Kriegs, mit dem George W. Bush, nach dessen eigenen Worten, nicht nur Diktator Saddam Hussein stürzen, sondern der ganzen nah- und mittelöstlichen Region die Demokratie «schenken» wollte. Resultat: Der kurze Krieg forderte über 100’000 Tote, Hunderttausende starben in der Folge. Denn nach dem Ende des Feldzugs («mission accomplished», prahlte Präsident Bush) kehrte nicht Friede ein, sondern ein beispielloses Chaos, in dem sich bald die Terrororganisation des Islamischen Staats breitmachte. Iran, in unmittelbarer Nachbarschaft, fühlte sich durch die IS-Barbaren bedroht und entschloss sich, der Gefahr auf dem Terrain Iraks entgegenzutreten.
Die Führung in Teheran konnte damals glaubhaft erklären, sie wolle einen «cordon sanitaire» bilden, um sich selbst zu schützen. Pro-iranische Milizen kämpften also, allerdings unkoordiniert, an der Seite der noch im Land verbliebenen US-amerikanischen Soldaten und der schwachen irakischen Armee gegen Islamisten-Terror. Doch als der IS insofern besiegt war, als er keine Bedrohung mehr darstellte für die Regierung in Bagdad, blieben die Iraner und die schiitischen pro-iranischen Soldaten im Zweistromland – sie wurden zu einer Kraft, die einerseits eigene Interessen verfolgte, anderseits aber für die Regierung immer unentbehrlicher wurde, je länger sich die irak-internen Machtkämpfe (nach dem Sieg oder Schein-Sieg über den IS) hinzogen. Bis es, wie erwähnt, dazu kam, dass die Führung in Bagdad es als beste Lösung empfand, die (im Land unpopulären) Pro-Iraner in die eigenen Streitkräfte zu integrieren.
Diese allerdings hatten (und haben auch heute noch) ihr eigenes Programm: Sie möchten, im Gleichklang mit der Führung Teherans, den noch in Irak stationierten rund 2’500 US-Militärs den Aufenthalt in der Region so sehr vergrämen, bis Washington zur Einsicht gelangt, ein Abzug wäre im eigenen Interesse das Beste.
Darüber hinaus garantieren die pro-iranischen Milizen im Irak dem Iran die Bildung einer Landbrücke für den Transport von Material und Militär nach Syrien und allenfalls nach Libanon.
Im aktuellen Konflikt in Nahost sind diese Milizen keine direkte Bedrohung für Israel, wohl aber für die US-Militärpräsenz in der Region. Und das ist ja ein Ziel der iranischen Ideologie: weg mit den USA aus der «Welt des Islam».
Die Huthi in Jemen
Die Aussenwelt betrachtete die Huthi lange als eine Gruppe von religiös motivierten Sektierern, denen man allenfalls zutraute, sich mit einfachen Waffen im internen Krieg auf eigenem Grund und Boden zu behaupten. In Jemen selbst urteilte man anders. Guido Steinberg schrieb in seiner Studie (publiziert auf der Plattform der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin): «Der jemenitische Präsident Salih hatte die Huthi-Rebellen bereits 2004 als Terroristen und Agenten des Iran bezeichnet. (…) Als die Huthi ab 2014 ihren Einfluss ausbauten, verwiesen Politiker in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten immer häufiger darauf, dass Iran sie einkreise.»
Die Huthi führen ihren Namen auf Husain al-Huthi (1959–2004) zurück, der einer Familie innerhalb der Gemeinschaft der Zaiditen angehörte. Die Zaiditen sind Schiiten (früher bezeichnete man sie in westlichen Publikationen oft als 5er-Schiiten), aber die religiösen Ansichten und Praktiken unterscheiden sich doch wesentlich von jenen der Iraner. Was die iranische Führung nicht hinderte, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und am südöstlichen Ende der Arabischen Halbinsel mit den Huthi einen weiteren Verbündeten innerhalb der Achse des Widerstands aufzubauen. Die Huthi, mit Truppen von anfänglich nicht mehr als 8000 Mann, konnten sich daher im internen Krieg gegen die an Zahl und Bewaffnung überlegenen Regierungstruppen behaupten, und als Iran den Huthi auch Raketen und Know-how für den Bau von Cruise-Missiles lieferte, konnten sich die «Wüstenkrieger» auch so lange gegen Saudi-Arabien durchsetzen, bis dessen Herrscher erkannten, dass kein Weg am Verhandlungstisch vorbeiführt.
Dann kam der 7. Oktober, zuerst mit der Hamas-Attacke, dann mit dem Krieg zwischen Israel und Hamas im Gaza-Streifen. Jetzt erkannten die Kommandierenden der Huthi, dass sie international wenn nicht an Achtung, dann doch an Beachtung gewinnen konnten, wenn sie sich ohne Wenn und Aber mit der Gaza-Bevölkerung solidarisieren würden – und begannen damit, Drohnen (produziert wahrscheinlich aufgrund von iranischem Technologie-Transfer) bis in die Region des israelischen Eilat zu schiessen und in der vor Jemen liegenden Meerenge des Bab al-Mandeb Frachtschiffe mit so genanntem Israel-Bezug (Israelische Firma als Besitzer oder Anteilhaber) zu attackieren. Mit grossem Erfolg: Derzeit meiden mindestens 50 Prozent der Frachtschiffe das Rote Meer (und somit auch den Suez-Kanal, was die Einnahmen Ägyptens aus den Transit-Gebühren um Milliarden Dollar jährlich drückt), und sowohl die USA als auch europäische Nato-Partner entsandten Marine-Einheiten in die Krisenregion, um Huthi-Drohnen abzuwehren.
Wie intensiv die Absprache zwischen den Huthi und deren Helfer in Iran bei Aktionen im Roten Meer ist, konnte bisher nicht eruiert werden. Fachleute vermuten: Es gibt zwischen den Entscheidungsträgern auf beiden Seiten einen eher unverpflichtenden Dialog, d. h., die Huthi agieren wohl mehrheitlich im Eigeninteresse und nicht auf Befehl aus Teheran.
Fazit: Die Gefahr einer Eskalation, eines Flächenbrands, ist nicht gebannt, auch wenn das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen Israel und Iran gesunken ist.