Irans Staatslenker Ayatollah Khamenei hat, als Reaktion auf den Mordanschlag auf den Hamas-Polit-Chef Ismail Haniya in Teheran, grünes Licht für einen direkten Angriff seiner Revolutionswächter gegen Israel gegeben. Wann die Attacke, in welcher Form und wo sie stattfinden soll, ist offen. Beinahe-Gewissheit aber gibt es, dass eine neue Eskalationsstufe bevorsteht.
Eine direkte Konfrontation mit Israel hat das iranische Regime bisher vermieden – sogar nach dem tödlichen israelischen Angriff auf das Konsulat Irans in Damaskus von Anfang April, bei dem zwei Generäle der Revolutionswächter ums Leben kamen, vermied Iran den Ausbruch eines grossen, regionalen Kriegs. Iran feuerte zwar eine bis dahin beispiellose Salve von etwa 300 Geschossen in Richtung des «zionistischen Feindes» ab, informierte Israel aber über diskrete Kanäle so rechtzeitig, dass die Raketen und Marschflugkörper entweder in grenznahen Regionen Israels oder noch davor, in Jordanien, abgefangen werden konnten. Die israelischen Streitkräfte beschossen danach noch, um das Gesicht zu wahren, eine militärische Anlage bei Isfahan, dann herrschte wieder der alte Scheinfriede. Die iranische Führung liess zwar weiterhin zu, dass die libanesische Hizbollah und die jemenitischen Huthi Israel Nadelstiche versetzten, aber allseitig schien sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass man eine unkontrollierbare Eskalation verhindern wolle.
Mit dieser stillschweigend getroffenen Übereinkunft hat es jetzt möglicherweise ein Ende, denn der präzise Angriff auf den Hamas-Führer in einer Residenz der iranischen Revolutionswächter, mitten im (vornehmen und teuren) Norden der Millionenstadt Teheran, hat eine andere Qualität als alle früheren Mossad-Anschläge irgendwo in Iran (seit 2007 ermordete der israelische Geheimdienst neun Nuklear-Ingenieure und pflanzte in drei atomaren Anlagen, in Fordo, Natanz und im Reaktor von Busheer Viren ein). Erstmals nämlich attackierte Israel jetzt auf iranischem Territorium einen Gast des Staats: Haniya besuchte Teheran auf Einladung der Führung des Landes, aus Anlass der Amtseinführung des neuen Staatspräsidenten Peseshkian. Also war er ein offizieller Gast, und Gäste zu beschützen, gehört im ganzen Mittleren Osten zu den gesellschaftlichen und politischen Grundregeln. Im konkreten Fall waren die Revolutionswächter, mächtigste Instanz innerhalb Irans, für den Schutz Haniyas verantwortlich – daher brachten sie ihn in einer ihrer Residenzen unter. Dass sie versagten, ist für die ganze iranische Führung eine schwere Demütigung.
Rote Linie überschreiten?
Der präzise Mordanschlag verstärkt die in Iran ohnehin schon weit verbreitete Meinung, der israelische Geheimdienst könne innerhalb des ganzen Landes nach Belieben agieren, sie, die Iraner, seien eigentlich kaum mehr Herren (oder Herrinnen) im eigenen Haus. Mit anderen Worten: Der Staatsführung und all den ihr unterstehenden Instanzen (inklusive Pasdaran, also Revolutionswächter) wird kaum Vertrauen entgegengebracht. Eine Grundstimmung, die diese Staatsführung, also letzten Endes Ayatollah Khamenei, jetzt dazu zwingen kann, möglicherweise mehr Härte zu zeigen, als ihr eigentlich angebracht scheint. Konkret: jene rote Linie gegenüber Israel zu überschreiten, die sie bisher eingehalten hat.
Aus israelischer Sicht (oder wohl besser: aus jener Netanjahus und seiner rechts stehenden Koalitionspartner) präsentiert sich allerdings alles anders: Der Geheimdienst, schwer kritisiert aufgrund des Versagens am 7. Oktober bei der Hamas-Attacke, kann sich jetzt damit brüsten, Feinde Israels selbst in den Hochhaus-Schluchten von Millionenstädten ausfindig und «unschädlich» gemacht zu haben (in der Nacht vor dem Attentat in Teheran wurde ja in Beirut auch der hochrangige Hizbollah-Kommandant Fuad Shukr durch eine Rakete umgebracht). Kurzfristig kann sich so in Israel die Meinung verfestigen, man sei in der Lage, die Köpfe aller Terrorgruppen zu eliminieren, jeder Konflikt, an allen Fronten, verlaufe zugunsten Israels. Aber wer so denkt, sollte etwas Wesentlicheres nicht vergessen: In all diesen Terror- oder, wie die Gegenseite gerne formuliert, Widerstandsgruppen, wuchsen bisher immer neue Kader heran, welche die alten ersetzten. Das gilt wohl auch für Hamas nach dem Tod von Ismail Haniya und Mohammed Dheif, einem der militärischen Hamas-Chefs innerhalb des Gaza-Streifens, dessen Tod die israelische Armee jetzt eben bekannt gegeben hat.