Die Länder der Europäischen Union ziehen die Bremsen gegenüber Iran weiter an – sie verhängten eben weitere Sanktionen. Die Schweiz zögert – zu Recht, zu Unrecht?
Für die Aussenpolitik stellt sich die Frage: Bis zu welchem Punkt muss mit einem Problem-Regime ein zumindest noch halbwegs «zivilisierter» Umgang praktiziert werden; wann ist der Moment gekommen, um zu entscheiden: Abbruch der normalen Kontakte? Konkret: Hat das iranische Regime, nach dreimonatiger Auseinandersetzung, nach der Ausübung schwerster Gewalt, seinen Anspruch auf Macht und Anerkennung so weit eingebüsst, dass ein Einfrieren der Kontakte gerechtfertigt wäre?
Der iranische Herrschaftsapparat legitimiert sich auf eigenwillige Weise. Er legt, um sich für seine Entscheidungen zu rechtfertigen, beispielsweise koranische Begriffe so aus, dass sie sogar als Grundlagen für Todesurteile dienen. Die zwei bereits vollstreckten wie die weiteren, bereits verhängten mehr als 20 Todesurteile beruhen auf willkürlicher Auslegung koranischer Begriffe. «Auflehnung gegen Allah», «moharebeh», warfen die Richter den zur Höchststrafe Verurteilten vor – jungen Leuten, die gegen den Kopftuchzwang oder die verbreitete Korruption oder die wirtschaftliche Misere protestierten und bei den Demonstrationen in Auseinandersetzungen mit Angehörigen der Sittenpolizei oder den Basiji geraten waren.
Das Regime will, dies wird immer deutlicher, Exempel statuieren und so die Welle des Widerstands brechen – eines Widerstands, der im Verlauf der vergangenen drei Monate alle Regionen und Ethnien und auch fast alle Gesellschaftsschichten erfasst hat.
Eine revolutionäre Bewegung
Es bleibt zwar nicht abschätzbar, wie viele Menschen im Land mit seinen rund 84 Millionen Menschen sich an Demonstrationen beteiligten (gleichzeitig sollen nie mehr als etwa 10’000 auf den Strassen protestiert haben), aber die Dauerhaftigkeit, die Zähigkeit der nicht zentral organisierten Aktionen zeigt, dass es sich nicht um eine Revolte aus diffuser Missstimmung handelt, sondern um eine revolutionäre Bewegung, deren Ziel es ist, das System der islamischen Republik grundlegend zu verändern.
Was zur Frage führt, worauf sich dieses System denn überhaupt abstützt. Die Theorie der islamischen Republik besagt, dass jene, welche die Herrschaft ausüben, jederzeit im Geiste des zwölften Imam handeln müssten. Der zwölfte Imam, Muhammad ibn al-Hassan al-Mahdi, starb, als Junge, wahrscheinlich 941 – aber er ist gemäss schiitischem Glauben nicht tot, sondern «lebt in der grossen Verborgenheit». Die Theorie besagt, dass er «der Rechtgeleitete» war respektive ist und eines Tages als Mahdi (Messias) auf die Erde zurückkommt und dass bis dann alle Menschen, selbst die jeweils Herrschenden, Fehler begehen können.
Die Theorie verleiht der Zwölfer-Schia eine innere Beweglichkeit – jedes Rechtsgutachten, jede Fatwa, und sei sie auch von höchster Stelle erlassen worden, kann widerrufen werden (wie beispielsweise jenes gegen den Autor Salman Rushdie), wenn weitere «Beweise» mit Berufung auf den zwölften Imam gefunden werden.
Abgrenzung gegenüber westlichen Werten
Allerdings entfernte sich die politische Praxis der von Ajatollah Khomeini begründeten islamischen Republik schon in ihren Anfangsjahren von ihren Idealen – zu tausenden wurden Oppositionelle aus den Reihen der Volksmujaheddin hingerichtet, ohne dass die Blutrichter sich die Frage gestellt hätten, ob sie im Sinn und Geist des «verborgenen» Imam handeln würden.
Bald nach der Revolution von 1979 bildeten sich in der islamischen Republik parallele Machtstrukturen zu jenen der schiitischen Rechtsgelehrten heraus – die Pasdaran (Revolutionswächter), mit ihren für Einsätze im Ausland spezialisierten Speerspitzen der so genannten al-Quds-Brigaden vor allem. Diese neuen Machtgruppen berufen sich zwar oberflächlich immer noch auf die Religion, aber ihre wahre Legitimation beziehen sie aus dem Bezug auf «die Revolution». Klar meinen sie damit jene von 1979, aber das verstehen sie in erster Linie als Berufung auf nationale Werte, auf Abgrenzung gegenüber westlichen Werten, gegenüber den USA, gegenüber Israel.
Für die Allgemeinheit in Iran ist der Werte- und Ideologie-Wandel innerhalb der Machtstrukturen sowohl schwer durchschaubar als auch illegitim – wahrscheinlich glaubt niemand mehr, dass die Regierenden wirklich im Geiste des zwölften Imams handeln. Unter anderem auch, weil die Idee sozialer Gerechtigkeit zentral ist im Verständnis der Zwölfer-Schiiten, und weil die Iranerinnen und Iraner in den letzten Jahrzehnten erkennen mussten, dass die Herrschenden sich um dieses Thema je länger desto weniger kümmerten, dass sie, im Gegenteil, die Augen davor verschlossen, dass sich gewisse «Clans» immer mehr Macht und Privilegien zuschanzen konnten.
Keine Machteinbusse
Wenn das Regime (muslimische Rechtsgelehrte plus Geheimdienste, Sicherheitskräfte, Polizei, Armee, Pasdaran, Basiji etc.) aus der Sicht breiter Bevölkerungsschichten immer mehr an Legitimität verliert, heisst das dann auch, dass es an Macht eingebüsst hätte? Offenkundig nicht. Zur Zeit deutet alles darauf hin, dass dieses Regime desto härter agiert, je breiter die Front der Opposition wird. Es rechnet offenkundig damit, dass die Opposition ohne identifizierbare Führungspersönlichkeit und (auch deshalb) ohne klares Programm bleiben wird.
«Zan, zendegi, aazadi» (Frau, Leben, Freiheit) genügt wahrscheinlich nicht, um die verschiedenen Anti-Regime-Strömungen in der Bevölkerung zusammenzubinden. Und aus dem Ausland kommt auch keine für die iranische Machtpyramide gefährliche Bewegung – die in Albanien stationierten Volksmujaheddin nehmen innerhalb Irans selbst Regimekritiker nicht ernst, ebenso wenig die Sympathisanten des Schah-Sohns in den USA. Und was ist mit den Parlamentarierinnen, Parlamentariern, den Teilnehmern an Kundgebungen in Städten Europas, mit den Frauen im Westen, die sich aus Solidarität mit iranischen Frauen Locken abschneiden – haben sie Einfluss auf die Machthaber in Iran? Bisher sieht es nicht so aus.
Gesprächskanäle offen halten
Also, was soll, was kann bei uns getan werden? Staatssekretärin Livia Leu (sie war früher Botschafterin der Schweiz in Teheran) kommentierte das Dilemma in einem Interview mit der «SonntagsZeitung» vom 18.12. unter dem Titel «Dank uns hat der Iran Todesurteile gegen Minderjährige nicht vollstreckt»: Die von der Uno verhängten und auch einen grossen Teil der EU-Sanktionen habe die Schweiz übernommen, aber sie habe auch darauf geachtet, gegenüber den Regierenden in Teheran aufzuzeigen, dass sie, innerhalb des realpolitisch Möglichen, eigenständig bleibe. Das sei eine Voraussetzung dafür, dass die Schweiz in der iranischen Hauptstadt das Mandat für die Übermittlung US-amerikanischer Anliegen führen kann. Und, wohl noch wesentlicher, dank schweizerischer Interventionen sei die Vollstreckung mehrerer Todesurteile verhindert worden. Es sei, so Livia Leu, darüber hinaus generell wichtig, die Gesprächskanäle mit dem Regime offen zu halten.
Den eben vollzogenen Ausschluss Irans aus der Uno-Frauenkommission hält sie für falsch, denn letzten Endes sei es wohl immer noch besser, mit einem Regime, dem man aus guten Gründen kritisch gegenüberstehe, zu reden, als all das zu verschweigen, was als Probleme erkannt worden sei.
Tatsächlich hätten zusätzliche Sanktionen lediglich symbolische Bedeutung – Iran ist schon so massiv sanktioniert, dass selbst der Handel mit humanitären Gütern (Medikamente etc.) nur auf Finanz-Umwegen möglich ist. Und, so populär nun weitere Strafmassnahmen gegen das unmenschliche Regime auch wären, sinnvoll wären sie nicht.