Der Bundesrat hat entschieden. Er hat den Weg des geringsten Widerstands gewählt, ist eingeknickt vor der Phalanx der Gegner, die zwar viel Lärm auf der Gasse machten, aber kaum Argumente haben. Der Bundesrat hat dem Volk den Entscheid über diese für unser Land eminent wichtige Frage nicht zugetraut. Er hat sieben Jahre hinter verschlossenen Türen verhandelt. Unsere Unterhändler haben gut verhandelt und ein sehr gutes Abkommen vorgelegt.
Der Bundesrat hat aber sieben Jahre praktisch nicht kommuniziert und den Gegnern das Feld überlassen. Dieses personell offenbar schwach besetzte Gremium zieht es vor zu verwalten, anstatt zu gestalten, und riskiert es nicht, auch einmal eine Niederlage in einer Abstimmung zu kassieren, nota bene bei einer Vorlage, die gute Chancen gehabt hat, vor dem Volk zu bestehen. Wie ist es zu diesem Scherbenhaufen gekommen und was ist zu tun?
Der Europäische Binnenmarkt und die Schweiz
Irgendwann gegen Ende der Achtzigerjahre – ich sehe mich immer noch mit der Zeitung in der Hand dasitzen – las ich das erste Mal vom Plan, 1992 den Europäischen Binnenmarkt für Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit sowie freien Kapitalverkehr zu realisieren. Mir war – als ich die Zeitung weglegte – sofort klar, dass, nachdem die sogenannte „Eurosklerose“ uns während Jahren davon dispensiert hatte, uns mit der Europapolitik zu befassen, uns dieses Thema nicht mehr loslassen würde.
Es flatterte dann das Angebot des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors ins Haus, wonach Nichtmitglieder sich am Europäischen Binnenmarkt beteiligen können, solange sie sich an dessen Regeln halten. Daraus entstand der EWR mit einem eigenen institutionellen Pfeiler und einem Gericht. Die Phalanx der Gegner brachte das Projekt am 6. Dezember 1992 haarscharf zu Fall. Zu dieser Niederlage beigetragen hat auch der Bundesrat, indem er unnötigerweise behauptete, der EWR sei das Trainingslager zum EU-Beitritt. Dass dieser Vertrag durchaus auf Dauer ausgelegt ist, beweisen die EWR-Länder Norwegen, Island und Liechtenstein. Dass er klaglos funktioniert, beweist die Tatsache, dass man davon kaum etwas hört.
Wir bezahlten die EWR-Ablehnung mit einem Jahrzehnt der Stagnation. Dann kamen die Bilateralen Verträge und das Problem schien gelöst – bis zu den gescheiterten – pardon: einseitig abgebrochenen Verhandlungen zum Rahmenabkommen.
Was half den Gegnern?
Wie kommt es, dass die Gegner derart leichtes Spiel hatten? Wie kommt es, dass prominente Opponenten die Metaphern von Unabhängigkeit und Neutralität vorbringen können, „fremde Richter“ verteufeln, obwohl klar ersichtlich ist, dass es ihnen um etwas ganz anderes geht. Wie kommt es, dass diese Metaphern in der Schweiz immer noch ziehen, im europäischen Ausland aber kaum?
Wirklich unabhängig war die Schweiz nur über eine recht kurze Zeit. Geschichtsmächtig wurden diese Metaphern in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Andere Länder, die sich 1939 in einer vergleichbaren Ausgangslage befanden, haben andere Erfahrungen gemacht und empfinden deshalb heute anders.
Darüber, welche Rolle Souveränität in Zukunft spielen könnte, ob absolut gesetzte Souveränität im Kontext der europäischen Integration noch das Richtige ist und inwiefern gepoolte Souveränität uns zum Vorteil gereichen würde, habe wir nie in der Tiefe und in der Breite diskutiert. Leider. Wir haben das Feld der SVP überlassen. Die anderen grossen Parteien sind gespalten und deren Befürworter und Gegner neutralisieren sich gegenseitig.
Mittels Volksinitiative eine Grundsatzdebatte lancieren
Was ist jetzt zu tun? Es muss eine Volksinitiative lanciert werden. Eine Initiative, deren Ziel es ist, endlich eine richtige europapolitische Debatte in Gang zu bringen. Der Bundesrat schleicht auch heute in seiner bekannten Manier wie die Katze um den heissen Brei herum. Sein Plan B besteht darin, dass er das Wohlverhalten der EU mit Geld erkauft, das heisst die Kohäsionsmilliarde oder noch mehr Geld bedingungslos freigibt und dass sich die Schweiz noch stärker als bisher autonom an das EU-Recht anpasst. Zum ersteren ist zu sagen, dass die EU die Kohäsionsmilliarde als Selbstverständlichkeit betrachtet. Gegenleistungen sind nicht zu erwarten. Und zum Zweiteren möchte ich fragen: Sieht Souveränität und Selbstbestimmung so aus? Echt? Nein danke.
Mit autonomem Nachvollzug kann man recht weit kommen, wenn es darum geht, Importe zu erleichtern und EU-Firmen das Geschäften in der Schweiz zu ermöglichen. Umgekehrt sind wir aber immer darauf angewiesen, dass die EU unsere Gesetze als äquivalent anerkennt. Tut sie das nicht, haben wir kein Druckmittel in der Hand. Der Bundesrat hat uns ins Abseits, in eine Sackgasse manövriert.
Es braucht also mittels Volksinitiative eine Grundsatzdebatte über unseren Platz in Europa, eine Debatte, die den Bundesrat dazu zwingt, mit der EU das institutionelle Problem zu lösen und das Ergebnis dem Volk zum verbindlichen Entscheid vorzulegen.
Die EU hat betont, dass die Schweiz die Verhandlungen abgebrochen hat und dass ihre Türe weiterhin offen ist. Hinter dieser offenen Türe befindet sich aber das Rahmenabkommen. Warum? Gewiefte Diplomaten können bestätigen, dass Verhandlungen nie bei Null beginnen. In der einen oder anderen Form wird auf dem Bestehenden aufgebaut. Vielleicht können wir also dereinst doch noch über das Rahmenabkommen abstimmen. Und bis zu diesem Zeitpunkt wird allgemein klar sein, dass der Bundesrat am 26. Mai 2021 ein kolossales Eigentor geschossen hat.