Es gibt für Liebhaber der Literatur, des Theaters, der Dramatik nichts Spannenderes, als wenn sich Ereignisse, die in der wirklichen Wirklichkeit stattfinden, mit Lektüren oder Aufführungen verbinden und zwar derart, dass wechselseitig von der einen Wirklichkeit, der geschriebenen oder inszenierten, auf die andere, die wirkliche, die gegenwärtig gelebte, eingewirkt wird. Dabei wirkt der Reiz eines solchen Phänomens fast noch stärker, wenn Ereignis und literarische Verarbeitung weit auseinander liegen.
Anfang Februar dieses Jahres gab es so einen Fall, einen überaus spektakulären, und seither spekulieren die Freunde Shakespeares und die vom Schurken Richard III. Gebannten weltweit in den Medien, während die interessierten Konsumenten sich auf ausgedehnte Surftouren im Internet begeben, um mehr und noch mehr in Erfahrung zu bringen.
Ein gut erhaltenes Skelett wurde vergangenen September von Archäologen unter einem Parkplatz, auf dem früher eine Franziskanerkirche stand, in der englischen Stadt Leicester gefunden. Heute steht „praktisch zweifelsfrei“ fest (wie alle Quellen beschwören), dass es sich dabei um die Gebeine König Richard III. handelt, der erwiesenermassen 1485 als 32-Jähriger auf den Schlachtfeld von Bosworth getötet wurde.
Der Bluthund und…
Und was regt denn nun die Fantasie so mächtig an? Es ist die Tatsache, dass viele von uns diesen Richard kennen, er ist uns begegnet, vielleicht mehrmals, in den verschiedensten Körpern, Kostümen, Dekors; als Verführer, als wortgewandter Manipulator und Lügner, als Ränkeschmid, Superintrigant, schliesslich als Inbegriff des Tückischen, Verderbten und Bösen, als Serienkiller. Meist ist er bucklig, hässlich, widerwärtig. Aber natürlich faszinierend. Sonst könnte er nicht so viele von uns zwei, drei Stunden in Bann schlagen. Und er bekommt schliesslich, was er verdient: ein paar tödliche Hiebe auf den Schädel. „Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für, n Pferd!“ sind die letzten Worte, die ihm Shakespeare in der Schlegelschen Übersetzung in den Mund legt, dann tritt sein Mörder und Erbe auf, Graf Richmond, später König Heinrich der VII. und verkündet: „…das Feld ist unser und der Bluthund todt“.
Diesen Richard, von Shakespeare zu einem der grössten Scheusale des Theaters stilisiert, glauben wir zu sehen, wenn wir uns die Abbildungen des schön präparierten Skeletts von Leicester anschauen, den grinsenden Schädel mit den Spuren der Hellebardenhiebe, die leicht verkrümmte Wirbelsäule. Seit dem vergangenen September haben sich englische Historiker mit neuem Elan auf die Geschichte ihrer Königshäuser gestürzt und vertreten heute mehrheitlich die Meinung, dass Richard III. mitnichten ein Monster war, wie uns Shakespeare glauben machen will. Ein Chorknabe wird er gewiss nicht gewesen sein, das war keiner und keine zu seiner Zeit, in seiner Position, aber für all die Schandtaten, die ihm der Dramatiker anhängt, gibt es keine Beweise. Kommt dazu, dass Archäologen, medizinische Forscher, Physiognomiker versucht haben, das Aussehen des Königs, Körper und Gesicht, zu rekonstruieren: herausgekommen ist ein schmächtiger, von keinem Buckel entstellter junger Mann mit angenehmen Gesichtszügen.
…der Melancholiker
Da bewegt sich nun die Fantasie hin und her, von der wirklichen Wirklichkeit unter dem Parkplatz zu den Wirklichkeiten von Aufführungen im Theater, zum Text des Dramas, vom skelettierten König zum erfundenen Untergeher, der sein Reich für ein Pferd eintauschen würde, und weiss nicht, an wen, an was sie sich halten soll. Ist nicht die inszenierte, die geschriebene Wirklichkeit manchmal die bessere und sogar die richtigere? Und werden wir nicht, was die Nachrichten aus der wirklichen Wirklichkeit angeht, immer wieder belogen und betrogen?
Das Grab unter dem Parkplatz mit den Überresten Richard III. über die sich Archäologen beugen, konnte Shakespeare nicht erfinden – aber eine ziemlich makabre Grab- und Skelettszene gibt es in seinem Werk schon. Sie steht am Anfang des fünften Akts des Hamlet-Dramas und ufert so sehr aus, dass wir sie gemeinhin nur in sehr verkürzter Form zu sehen bekommen, im Theater. Da üben sich zwei Totengräber in sophistischen Diskursen, während sie auf dem Friedhof ein Grab ausheben und dabei allerlei halb vermodertes Gebein aus der Erde schaufeln. Hamlet mit Freund Horatio treten dazu, Hamlet betrachtet den Schädel des Narren Yorick, ein Freund aus Kinderzeiten, und sagt, wieder in der Schlegelschen Uebersetzung: „wie schaudert meine Einbildungskraft davor! Mir wird ganz übel.“ Dann versinkt der melancholische Dänenprinz in düstere Mutmassungen über Tod und Vergängnis, als ob er ahnen würde, was ihm ein paar Szenen später bevorsteht: eben das, Tod, Vergehen, Schweigen.
Hamlet mit Yoricks Schädel in der Hand, meditierend, die Archäologen mit Richards Schädel in der Hand, spekulierend, wie sie sich gleichen, die erfundene und die wirkliche Wirklichkeit! Und weil man mitunter Dinge erlebt, in der Wirklichkeit, die niemand erfinden könnte, geschieht es, dass der Möbelschreiner, der von Anne of York, der Schwester Richard III. abstammt und dessen DNA-Probe als Hauptbeweis für die Identifizierung der königlichen Überreste dient, Michael Ibsen heisst. Tatsächlich Ibsen.