Ferienzeit. Verbringt man sie in Südfrankreich, wird man vielleicht die attraktive Hafenstadt Sète besuchen. Da können sich Bücherleser und Musikliebhaber auf eines ihrer Idole besinnen und – weil ja Ferien sind – Zeit aufwenden, sich mit diesem intensiv zu beschäftigen. George Brassens, war gebürtiger Sèter; die Freunde des Chansons werden es der Stadt ewig danken.
Auch Paul Valèry (1871 – 1945) kommt aus Sète, einer der originellsten und scharfsinnigsten Denker des vergangenen Jahrhunderts. Ein bedeutender Poet war er obendrein. Auf dem Friedhof der Seefahrer, hoch über der Stadt gelegen, kann man sein Grab besuchen und sich dort in sein schönstes Gedicht vertiefen: „le cimetière marin“ heisst es. Es ist aus 24 Strophen zu je sechs Zeilen gebaut, die Verse reimen sich, und handeln vom Leben, mehr noch vom Tod, von den begrabenen Körpern. In wechselnden Rhythmen, in traumhaft schönen Bildern oder subtilen Metaphern werden Meer, Himmel und Licht evoziert.
Gedichte lassen sich nur behelfsmässig übersetzen und so sollte man die Verse im französischen Original lesen, um die Klangfarben wahrzunehmen, die ans Wasser erinnernde sprachlichen Wellenbewegungen zu spüren, um in die gedanklichen Abgründe zu blicken, die der Dichter aufreisst. Kein Geringerer als Rainer Maria Rilke, ein Verehrer Valérys, hat den „cimetière“ ins Deutsche übertragen. Kongenial, meinen viele. Kunstvoll, darf man behaupten. Der rilkisierte Valéry würde bei der Lektüre seines übersetzten Gedichts, in Anlehnung an Arthur Rimbaud, sagen müssen: ich ist ein anderer.
Valéry, der den grössten Teil seines Lebens in Paris verbracht hat, schreibt in einem späten Text (Variété III) „mich hat gewiss nichts mehr geformt, imprägniert, instruiert – oder konstruiert – als die dem Studium entrissenen Stunden, die den drei oder vier unbestrittenen Gottheiten geweiht waren: dem Meer, dem Himmel, der Sonne.“ Inspiriert und exaltiert, wie er sagt, hat ihn das Mittelmeer ein Leben lang.
Der Vorzeigeintellektuelle
Er war ein hochgebildeter, moderner und offener, dazu ein ungemein neugieriger Geist, an allem interessiert, zu vielem sich äussernd. In der zweiten Lebenshälfte avancierte er zum Vorzeigeintellektuellen, was eine Fülle von Verpflichtungen mit sich brachte – Vortragsreisen, Reden, Vorwörter für die Bücher befreundeter Autoren. Valérys Werk steht zwischen den Gattungen, passt in keine Schublade. Zum Lyriker gesellte sich der Prosaist, aber Romane hat er (aus Prinzip) keine geschrieben. Aufsehen erregte er mit unter dem Titel „Monsieur Teste“ geschriebenen Texten, die um ein künstliches alter ego kreisen, eine wahre Kopfgeburt, wie schon der Titel insinuiert. Der erste, sanft ironische Satz von „La soirèe avec Monsieur Teste“ ist unter Frankreichs Literaten zu einem geflügelten Wort geworden: „La bêtise n´est pas mon fort“ (Dummheit ist nicht meine Stärke).
Sein unruhiger, beweglicher Geist machte Valéry zu einem Meister der Frage-und-Antwort-Spiele, der Dialogsform, die er auf unterschiedliche Arten benutzte. Einer dieser Dialoge, „l´idée fixe“, der uns zwei Männer vorführt, die sich am Meer über Gott und die Welt unterhalten, wurde mit Erfolg fürs Theater eingerichtet und galt bis in die Siebzigerjahre als Paradestück für virtuose Konversation.
Die cahiers
Das eigentliche Lebenswerk Valérys, heute leider nahezu vergessen, besteht aus sage und schreibe rund 27 000 Seiten. Es handelt sich um den Inhalt von 236 cahiers, Schulheften, die Valéry während gut 50 Jahren seines Lebens vollgeschrieben hat. Einem asketischen Ritual folgend, setzte sich der Autor täglich früh am Morgen an den Schreibtisch und zeichnete auf, wie er sagte (wobei das aufzeichnen auch buchstäbliche Gültigkeit hat, war er doch ein begabter Illustrator). Fragmente entstehen, Aphorismen, Dialoge, dialektische Uebungen, Kürzesterzählungen, Mini-Essays. Jedes nur erdenkliche Thema wird behandelt, eine ständige, bohrende Ich-Analyse betrieben, die aufs eigenartigste unpersönlich bleibt, wenn man das paradoxerweise so sagen darf. An Privatem gibt es sozusagen nichts im cahier; es ist kein „journal intime“, kein Tagebuch. Nicht was der Mensch erlebt oder getan hat, interessiert den Autor, sondern was er tun, was er denken, was er sein könnte und kann, zukünftig.
Eigentlich denkt Valéry immerzu über das Denken nach – das trifft auf den grössten Teil des Inhalts der cahiers zu. Wobei diesem geschriebenen Denken höchste literarische Qualität eignet. Niemand wird behaupten wollen, alles richtig zu verstehen, was sich Valéry ausgedacht hat; aber auch wenn das „was“ manchmal im Dunklen bleibt, wird einen das „wie“ faszinieren.
Auf der Gehirnwiese
Valéry selber, der sich mit dem Veröffentlichen der cahiers schwer tat, seine Kinder, Vertraute aus seiner Umgebung haben versucht, Systematik in den monströsen Papierhaufen, Methodik in die Texte zu bringen, sie also thematisch zu ordnen. Einem Jesuitenpater, der kurz vor Valérys Tod, eine Auswahl aus den cahiers publiziert hatte, schrieb der Autor, dass er künftig wisse, „wo ich zu finden bin“ und dass es ihm ein Leichtes sein werde „mir auf die Schliche zu kommen, mich mir selber gegenüberzustellen, meine Widersprüche festzustellen und meine Abweichungen – und vielleicht daran Gefallen zu finden.“
Nach Valérys Tod erschien in Paris eine 29-bändige Faksimile-Ausgabe der cahiers und auf ihr beruhen all die Auswahlbände, die seither in verschiedenen Sprachen publiziert worden sind. Die jüngste, sehr empfehlenswerte Ausgabe in deutscher Sprache ist 2011 herausgekommen in der „anderen Bibliothek“ im Eichborn Verlag. Thomas Stölzel, ein ausgewiesener Kenner, hat die Auswahl besorgt, thematische Blöcke zusammengestellt, eine kluge Einleitung geschrieben und ein paar Zeichnungen Valérys eingestreut. Der Titel des bibliophilen Buchs stammt, in leichter Modifizierung, vom Autor, der sich einmal als angepflockte, wiederkäuende Kuh sehen will, und lautet: „ich grase meine Gehirnwiese ab“.