Alice Rohrwacher erzählt in «La Chimera» von einem britischen Archäologen, der in den 1980er-Jahren in der Toskana mit Grabräubern unterwegs ist, um die obsessive Wehmut über das Entschwinden seiner Herzensliebe zu lindern. Das Kinostück bekräftigt Rohrwachers führende Position als italienische Autorenfilmerin.
Der britische Archäologe Arthur ist per Bahn in der Toskana der 1980er-Jahre unterwegs. Er trägt einen zerknitterten, verdreckten Anzug, schläft und träumt. Geweckt wird er vom Schaffner, gehänselt von einem durch den Waggon schlendernden Hausierer. «Hier stinkt es so, wie es nur im Gefängnis stinkt», ruft der Krämer und wirft Arthur ein Paar bunte Socken zu. Der derb-rustikale Einstieg passt gut zum feinsinnigen Drama von Alice Rohrwacher, der aktuell wegweisenden Autorenfilmerin Italiens. Sie kennt ihre Landsleute mit allen ihren Sitten und hat sich für «La Chimera», den Nachfolgefilm des vielgelobten Dramas «Lazzaro Felice» (2018), einen von eigenen prägenden Erinnerungen umrankten Plot ausgedacht.
Arthur ist in der Tat nach einer verbüssten Haftstrafe auf dem Weg in die Gegend des Ortes Riparbella, wo er aus beruflichen und privaten Gründen eine Zeitlang gelebt hat. Nun will er Einheimische wiedersehen, die Anteil an dem haben, was ihn hinter Gitter brachte. Doch noch mehr drängt es ihn danach, die Aristokratin Flora zu besuchen, die von Isabella Rossellini magistral und seelentief inkarniert wird.
Flora und Italia
Flora ist die Mama von Arthurs herzallerliebsten Beniamina, die entschwunden, nicht mehr da ist. Wie der von Sehnsucht nach ihr erfüllte Arthur ist auch Flora davon überzeugt, dass das dunkle Jenseits und das Diesseitige nicht zwingend zwei sich ausschliessende Sphären sind.
In Floras maroder Villa lernt der gebeutelte, traumatisierte Arthur eine Frau mit symbolträchtigem Namen kennen: Italia, von der Brasilianerin Carol Duarte energievoll gespielt. Sie betreut die Hausherrin und ist ihre Gesangsschülerin. Doch Unbill droht: Flora hat Töchter, die aus Eigennutz die Mama in ein Pflegeheim abschieben möchten. Zudem ist die Lage für die alleinstehende Italia brenzlig, weil sich herausstellt, dass sie heimlich ihre kleinen Kinder auf dem Anwesen beherbergt.
Gut, dass zwischen Italia und Arthur, die beide «Fremde» sind, auf Anhieb Sympathiefunken springen. Alice Rohrwacher: «Ich wollte über Arthurs innere Reise berichten, die wie ein Pendel zwischen Tag und Nacht oszilliert. Auf dieser Reise wird er von zwei Frauen begleitet. Von Beniamina, die nur noch eine ferne Erinnerung ist. Und von Italia, einer fröhlichen, lebenslustigen Person, die so selbstbewusst wie abergläubisch ist. Eine Frau, die Arthurs Gegenwart sein könnte, wenn er die Vergangenheit ruhen liesse.»
Zwischen verschiedenen Welten
Alice Rohrwacher wurde 1981 als Tochter einer Italienerin und eines Deutschen geboren. In der schmucken, an Kunstschätzen reichen, auf einer Anhöhe gelegenen und von den Etruskern gegründeten Kleinstadt Fiesole, in der Grenzregion zwischen Umbrien, Latium und der Toskana. Die Regisseurin erzählt: «Die Nähe zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen Tod und Leben, die mich während meiner gesamten Kindheit fasziniert hat, prägte meinen Blick als Filmemacherin. Deshalb habe ich beschlossen, den Film 'La Chimera' zu drehen, der von der facettenreichen Beziehung zwischen verschiedenen Welten erzählt und nach meinen Werken 'Le Meraviglie' und 'Lazzaro Felice' wahrscheinlich das letzte Stück eines Triptychons ist, das sich mit einer Frage befasst, die mir sehr am Herzen liegt: Wie soll man umgehen mit der Vergangenheit?»
Spannende filmpoetische Antworten ergeben sich aus der ungewöhnlichen Handlung von «La Chimera», die im Milieu von Grabräubern, sogenannten «tombaroli», angesiedelt ist. Sie bilden Banden, die seit vielen Generationen ihr Einkommen vorgeblich, wie im Film, aus der Landwirtschaft und mit folkloristischer Strassenkunst generieren. In Wahrheit aber stammen die Erträge aus dem Verkauf illegal geborgener Fundstücke aus der nekropolitanen Etruskerkultur, die in diesem Gebiet zwischen 800 und dem 1. Jahrhundert vor Christus nachweisbar ist.
Magnetische Anziehung
Dass ausgerechnet der «Fremde» Arthur, ein gelehrter Archäologe mit stupenden lokalen Kenntnissen, zur Leitfigur einer verschworenen Clique wird, mag erstaunen, macht aber Sinn. Seine empathische Verbundenheit mit den einfachen Leuten in Kombination mit dem erwähnten Verlustschicksal hat ihm Sympathien eingebracht. Und dass ihn, den es wie magnetisch ins Verborgene und Verblichene hinabzieht, die Grabräuberei fesselt, verschafft ihm Respekt. Auch weil die Streifzüge der «tombaroli» kriminelle Handlungen sind und hochriskant. Jederzeit ist mit dem Auftauchen von Polizei- oder Carabinieri-Einheiten zu rechnen, die mit in flagranti Ertappten kein Federlesen machen; Arthur hat das am eigenen Leib erfahren.
Nichtsdestotrotz geht er weiterhin mit einer «Wünschelrute» voran, um im Erdreich verscharrte oder in kleinen Hohlräumen, gar höhlenartigen Grabkammern vor Urzeiten deponierte Wertgegenstände aufzuspüren. Wenn er stehenbleibt, übernehmen die «tombaroli» das Regime.
Alice Rohrwacher kennt sich auch da aus: «Einst war das Leben um mich herum wie zweigeteilt. Ein Teil war hell, modern, hektisch. Und der andere dunkel, antik, geheim. Das Leben besteht ja aus diversen Schichten: Man braucht nur ein paar Zentimeter in die Erde zu graben und schon kann ein Stück eines Kunstgegenstandes zwischen den Steinen auftauchen, das von anderen Händen hergestellt wurde. Dann fragt man sich: Welche Epoche halte ich in meinen Händen? Ich musste nur in die umliegenden Ställe und Keller gehen, um zu erkennen, dass sich in diesen Räumen noch anderes befunden hatte: Etruskische Gräber, Zufluchtsorte aus alten Zeiten, heilige Orte.»
Diese und andere bruchstückhafte Rohrwacher-Memorabilien sind in ihrem von einer verwunschenen, märchenhaften Atmosphäre umflorten Drama enthalten. Stilvoll inszeniert mit unerwarteten Versatzstücken aus etlichen Filmgenres und zu einem faszinierenden Ganzen zusammenfügt: So entsteht ein dynamisches, metaphorisches Wechselspiel zwischen Beziehungstragischem und farbenfroher, musikalisch untermalter Volkstümlichkeit, die bisweilen an Szenen von Federico Fellini erinnert.
Mystisches unter der Erde
In «La Chimera» vermittelt Alice Rohrwacher zum Ende hin in semi-dokumentarischer Manier Informationen zum (im schöngeistigen Umgang mit Kultur-Perlen oft tabuisierten) globalisierten Kunsthandel. Dabei geht es um die oft diffuse Rechtslage und vor allem die Verkaufsmethoden zur Gewinnmaximierung.
Alice Rohrwacher fokussiert nicht auf diesen moralisch-ethisch fragwürdigen Aspekt. Ihre Sympathien gehören denen, die wie die «tombaroli» ganz unten in der Lieferkette aktiv sind und aus ihrem zwielichtigen Tun wenig Zählbares erwirtschaften, aber mit einiger Schlauheit auf ihre systematische Ausbeutung reagieren und zeigen, dass es nicht immer um Gewinnmaximierung geht, sondern doch auch um die Bewahrung von kultureller Identität.
Etwa dann, wenn ein verschollener Kopf eines Torsos von unschätzbarem Wert auftaucht und verkauft werden soll. Oder dort, wo Arthur und seine Getreuen ins Unterirdische vordringen, das über etliche Jahrhunderte hinweg versiegelt geblieben war. Da stehen sie dann vor schemenhaften Wandgemälden und erleben etwas Mystisches.
Visuelle Virtuosität
Das Derartiges in «La Chimera» nachhallend wirkt, hat viel mit der visuellen Gestaltung der französischen Kamerafrau Hélène Louvart zu tun, die zum kreativen Stammteam von Alice Rohrwacher gehört. Die virtuose Bildarrangeurin setzt drei analoge Filmformate ein, 35mm, Super-16mm und 16mm. Die aus der Montage resultierende raffinierte Wechselwirkung akzentuiert, illustriert, vertieft in «La Chimera» die eindrücklichen Stimmungseffekte zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Vergänglichkeit.
Alice Rohrwacher hat hohe Ansprüche: «Ich wollte wie in einem orientalischen Wandteppich verschiedenste Fäden verweben und versuchen, mit dem Thema des Films zu spielen, durch Verlangsamungen, Beschleunigungen, Gesang, Proklamationen.» Das ist dank ihrem Flair für narrative Überschneidungen von anrührender Tragik und befreiender Heiterkeit bestens gelungen.
Kür für Josh O’Connor
Über die Qualität der Besetzung ist bereits einiges gesagt worden, doch der Brite Josh O'Connor (33) verdient besondere Erwähnung. Bekannt wurde er mit seinem Part als Kronprinz Charles in der populären TV-Serie «The Crown», die ihm 2021 den «Emmy-» und den «Golden-Globe»-Award» als bestem Darsteller einbrachte. Nun verleiht er dem zerrissenen Charakter des Protagonisten Arthur bar aller Gefühlsduselei eine geradezu physisch spürbare Aura. An ihm lässt sich festmachen, was Alice Rohrwacher mit ihrem Opus ausdrückt: ein Versuch, mehr zu erfahren über das schicksalsbedingte individuelle Verhältnis zum Vergangenen und Vergänglichen.
Schritt ins Unsichtbare
«Das ist nicht für das Auge von Menschen bestimmt», wird einmal in «La Chimera» gesagt. Auf das Medium Film bezogen könnte das bedeuten, dass es zwar nicht alles zeigen kann und will, aber den menschlichen Blick weitet. Weil Filme wie dieser, wenn sie im Kino geschaut werden, in Erinnerung rufen, was es mit dem vielbeschworenen Gemeinschaftserlebnis auf sich hat. Alice Rohrwacher weiss um diese Kraft.
«La Chimera» hat die Anmutung einer aus der Zeit gefallenen, etwas schrägen Liebeserklärung an Italien, das Land, das viele als «Schatzkammer» vergangener Kultur sehen. Und als Ort verführerisch-verlockender Licht-Spiele. Rohrwachers Opus «beginnt im Winterlicht und wird dann von der Sommersonne der Maremma überstrahlt». Es löst ein, was Rohrwacher ein Herzensanliegen ist: «Ich wollte etwas von dem ins Bild setzen, was in vielen Filmen fehlt: Den Mut zum Schritt nach vorn, ins Unsichtbare.»
Diesen Mut hat die Künstlerin in «La Chimera» bewiesen, weil sie Flora, Arthur, Italia und uns, dem Publikum Mut macht, mit heiterem Sinn auch das lichte Dunkel zu erkunden.
Alle Fotos: © Amka Films
«La Chimera» läuft aktuell in den Deutschschweizer Kinos. Orte und Zeiten: https://www.movies.ch/de/film/chimera/