Lebt man in der Nähe des Bodensees und ist infolgedessen vertraut mit den unvergleichlichen Stimmungen, die einem See und Ufer jahrein jahraus herbeizaubern, wird einem der Maler Adolf Dietrich ganz besonders viel bedeuten. Keiner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat wie er den Reiz, den diese Landschaft auszuüben vermag, erkannt und eingefangen. Und mag der mit dem Attrribut „naiv“ belegte Dietrich gelegentlich altmodisch wirken, ein Verklärer und Idylliker, unbeholfen, spiessig manchmal in seinen akkurat den Vorlagen nachgemalten Bildchen, so gibt es doch in seinem Werk zahlreiche Gemälde, die man nur als meisterhaft bezeichnen kann, die in Farbgebung, Komposition, Ausdruck vollkommen sind und einen leicht über den unbedeutenden Rest (Lehr- und Leer-Material) hinwegtrösten können.
Malerhandwerker
Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Autodidakt Dietrich war im besten Sinn ein Malerhandwerker. Auf Spaziergängen notierte, fotografierte und skizzierte er Motive, die er dann am Stubentisch im Berlinger Zuhause zu Ölbildern oder Aquarellen verarbeitete. Das Repertoire war gross: Porträts gehörten dazu, Auftragsarbeiten, Bilder von Vögeln, Hasen, Hunden, die dem Kleintierhalter Dietrich am Herzen lagen. Originalität, Innovation – das war es nicht, was er suchte. Vielmehr verschrieb er sich ganz und gar dem Abbilden von Wirklichkeit, wie er sie kannte und wahrnahm.
Aber dieses handwerkliche Abbilden und Nachahmen mit dem Ziel, ein möglichst „gutes“, stimmiges, perfektes Stück Arbeit herzustellen, führt in der bildenden Kunst, in und unter den Händen einer Ausnahmebegabung wie Dietrich eine war, zu Resultaten, die die abgebildete Realität übertreffen, ideelle, unheimliche oder surreale Elemente und Dimensionen evozieren. Bilder werden zu Sinnbildern. Das Abgebildete macht sich selbständig.
Wege zum Bild
„Mondschein über dem See“ heisst die Ausstellung in der Kartause, und der Direktor des Museums, Markus Landert, hat aus eigenen Beständen und einer Vielzahl von Leihgaben ein Ensemble zusammengestellt, das keine Wünsche offen lässt. An den perfekten Winterlandschaften, den mondbeglänzten Oberflächen, den mit feinsten Pinseln bearbeiteten Himmel- und Wasserflächen kann man sich nicht sattsehen.
Es war des Ausstellungsmachers Absicht aufzuzeigen, wie, auf welchen direkten oder indirekten Wegen Dietrich zu seinen Ölbildern gekommen ist. Viel Raum wird deshalb den wunderbaren Aquarellen gewährt, die dem spontanen Entschluss, der Inspiration geschuldet sind. Und dann gilt es auch, die zahlreichen, in Schaukästen aufgeblätterten kleinen Skizzenhefte zu studieren oder die eigenen Fotografien, die sich der Künstler als Vorlagen nahm.
Die Skizzen verweisen auf die weniger bekannten und beachteten zeichnerischen Qualitäten Dietrichs; und wenn es zu den in der Stube gefertigten Ölbildern passende Fotografien zu besichtigen gibt, so ist es im Vergleich spannend zu sehen, was der Künstler schliesslich übernommen, was er weggelassen oder verändert hat. Auch Dietrichs so beflissen ins Bild gesetzte Natur-Wirklichkeit ist – der Komposition, der Farbkonstellation zuliebe – nicht deckungsgleich mit der wirklichen Wirklichkeit.
In einer autobiografischen Skizze, die Dieterich anlässlich einer Ausstellung 1919 dem Direktor der Kunsthalle Mannheim schickt, erklärt er: „Trotzdem ich nicht weit in der Welt mich habe umsehen können, habe ich doch ein innerlich ziemlich bewegtes Leben hinter mir…“ Die Ausstellung in der Kartause zeigt, wie diese innerliche Bewegtheit aus dem in engsten Verhältnissen aufgewachsenen und lebenden Adolf Dietrich einen grossen Maler gemacht hat.
Kunstmuseum Thurgau in der Kartause Ittingen: Adolf Dietrich. Mondschein über dem See, noch bis 17. Dezember 2017