Du sollst dich weiterbilden! lautet das oberste Gebot der sogenannten Wissensgesellschaft. Die Universitäten rüsten sich auf mit Zentren für «Advanced Studies», sie werben mit einer reichhaltigen Angebotspalette: Friedens- und Konfliktforschung, Kulturmanagement, Papierkurator, eine theologische Fakultät bietet sogar einen «Master of Advanced Studies (MAS) in Spiritualität» an. Die Verhältnisse sprechen eine klare Sprache: 2005 erwarben in der Schweiz 580 Studierende an den zwölf universitären Hochschulen einen Weiterbildungsabschluss. 2010 waren es bereits über 1500.
Hinter dieser bildungsökonomischen Statistik verbergen sich Renovationen in den Fundamenten unserer neuzeitlichen Ideen über Universität, Bildung und Wissenschaft; ein Umbau im Selbstverständnis des wissenden und gebildeten Menschen, der meiner Meinung nach zu wenig als solcher wahrgenommen wird. Deshalb unternehme ich einen kleinen Inspektionsgang durch ein paar konzeptuelle «Baustellen».
Die Rolle der Universität
Zunächst die Rolle der Universität. Die Idee, dass sich die universitäre Ausbildung an der gesellschaftlichen Nachfrage zu orientieren hat, ist weder per se schlecht noch neu. In der Tat stammt sie aus der Universität des Mittelalters, die ganz in diesem Sinne strukturiert war. Auch damals diktierte ein Arbeitsmarkt die Bedürfnislage, nämlich die Sorge um Recht, Gesundheit und Seele. Und ihr entsprechend bildeten die Fakultäten Juristen, Ärzte und Priester aus. Noch 1621 liest man in Robert Burtons berühmter «Anatomie der Melancholie» von den «drei einträglichsten Disziplinen Jura, Medizin und Theologie», auf die sich die Durchschnittsstudenten eiligst würfen.
Die Humboldtsche Idee der Universität setzte vor zwei Jahrhunderten den Akzent auf die Bildungsorientierung. Für Wilhelm von Humboldt war die Wissenschaft ein Wert an sich. Und für die Stabilität dieses Wertes garantierte der Staat, indem er die Universität finanziell unterstützte, sich aber sonst nicht in Forschung und Lehre einmischte. Das Konzept der «reinen» Wissenschaft war geboren: die Vorstellung, dass die Universität primär nicht die Berufsbildung, sondern die wissenschaftliche Bildung zu fördern habe.
Der Nimbus der «reinen» Wissenschaft hat indes seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Aufkommen von Big Science irreparablen Schaden erlitten. Die Studentenunruhen vor fünfzig Jahren trugen nicht wenig dazu bei, die Universität gesellschaftlich zu öffnen, den «Muff unter den Talaren» durchzulüften. Der Ruf nach einer «sozial verantwortungsvollen» Wissenschaft wurde laut, als Gegenentwurf zur «bürgerlichen» Elfenbeinturm-Wissenschaft. Auch wenn er grösstenteils auf ideologische Stumpengeleise führte, so hat er sich immerhin in der Idee des Wissens als eines Gemeinguts in unsere Zeit hinübergerettet. Die Idee ist allerdings akut gefährdet.
Wissen als Ware und «Asset»
Denn die Neue Ökonomie definiert Wissen primär als Ware und die Universität als deren Lieferantin für den Kreislauf von Produktion und Konsum. Studierende werden zu Kunden umdefiniert, die verwendbare Qualifikationen, lies: deren Beglaubigungen, nachfragen und für das, was zählt, auch ihren Preis zahlen.
Nichtintendierte Folge davon ist, dass Weiterbildung zur Zertifikats-Huberei zu mutieren riskiert. Als «Inflation der Ausbildungsnachweise» erkannte der amerikanische Bildungssoziologe Randall Collins bereits 2002 diese Entwicklung: einen deformierten Arbeitsmarkt, auf dem ich primär nicht nach meiner Arbeit, sondern nach meinen Zertifikaten beurteilt werde. Eine Inflation, so Collins, die «sich endlos fortsetzen könnte, bis der Hausmeister einen Doktor der Philosophie benötigt.»
Das technokratische Wissenskonzept
Im Hintergrund haben wir es hier mit dem gängigen technokratischen Konzept von Wissen als Instrument zu tun. So wie man die Leistungsfähigkeit einer Maschine steigert, indem man ihre Funktionsabläufe verbessert, so sucht sich der Lernende sozusagen mit optimiertem Wissensportfolio für Best Practice zu ertüchtigen. Auch das ist nicht per se schlecht. Nur muss man eine Unterscheidung treffen, die der Frankfurter Soziologe Ulrich Oevermann – selber in der universitären Weiterbildung tätig – einmal so beschrieben hat: «Die meisten Kursangebote sind nicht Bildungs-, sondern Lernangebote (...). Während Lernen im Aneignen von Routine besteht, ist Bildung ein Prozess der Krisenbewältigung (...) – nämlich eine kritische Haltung.»
Routine bedeutet Dinge tun, ohne darüber nachzudenken. Im Gegensatz zur Maschine kann der Mensch aus Routinen ausbrechen. Und genau diese Befreiung aus Selbstverständlichkeiten kennzeichnet echte Weiterbildung, ja Bildung schlechthin. Man erkennt gewisse Dinge, die einem zuvor nur bekannt waren. Dadurch erweist sich Bildung letztlich immer als Persönlichkeitsbildung. «Nur die Wissenschaft, die aus dem Inneren stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um.» (Humboldt)
Eine solche Bildung erfordert Zeit, weil sie sich nicht wie ein Modul von heute auf morgen in mich einbauen lässt. Wissen und Bildung, die nicht in der Person sedimentiert sind, bleiben auf halbem Weg stecken. Mit Theodor Adorno gesprochen: «Das Halbverstandene und Halberfahrene sind nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.»
Ethos der Bildung: Suche nach Erkenntnis
Wissen produziert man nicht wie Automobile oder Schuhe. Warum? Weil es einem kognitiven Anspruch, einem Ethos zu genügen hat, das eine andere Achse als die des Wirtschaftens begründet: jene der Erkenntnissuche. Wer das als traditionalistisch oder idealistisch belächelt, vergisst, dass die ganze Tradition der wissenschaftlichen Erkenntnis mit dieser, wie das die Psychologen nennen, «intrinsischen» Motivation steht und fällt.
Universitäten sollten sich als Pflegestätten dieses Ethos’ wiederentdecken, statt es erodieren zu lassen. Es gibt – nebenbei bemerkt – immer noch eine grosse Zahl von Wissenschaftlern, die weit über ein vorgegebenes Mass an Stunden «für die Wahrheit» zu arbeiten willens sind – eine Arbeit nota bene, die sich meist nicht in monetärer, sondern in der Währung von wissenschaftlicher Anerkennung und Freiheit auszahlt. Also muss an diesem Ethos nach wie vor etwas dran sein.
Ohne Zweifel hat sich die Universität den neuen «extrinsischen» Bedingungen des Arbeitsmarktes anzupassen. Aber wer, wenn nicht sie, müsste auch erkennen, dass es um mehr geht als um Zertifikatsjagd und Marktkonformität. Denn inzwischen zeichnet sich die grosse Aufgabe ziemlich klar ab: Ein Bildungskonzept nämlich, das Lehre und Studium, Ausbildung und Bildung, Praxis und Reflexion, Berufs- und Erkenntnisorientierung zu integrieren vermag – mit einem Wort: duale Bildung. Sie ist in der Schweiz ein anerkanntes und bewährtes Modell der Berufsausbildung. Was anstünde, wäre eine Ausweitung auf den tertiären Bereich.
Wiederentdeckung des Expertentums
Das ist vorerst ein grosses Wort, zu dem ich nur Folgendes sagen will. Gute Arbeit braucht keinen Bachelor oder Master, sondern Expertentum. Gefragt wäre also die Rückbesinnung auf die alte Bedeutung des Wortes «expertus», was so viel bedeutet wie «erfahren sein», «etwas versucht haben». Ein Wissen als Fähigkeit und Fertigkeit, Erfahrung auszuweiten, etwas zu versuchen, Probleme zu bewältigen oder mit ihnen zu leben, umfasst sehr viel mehr als akademische Geschultheit, nämlich praktische Intelligenz, zumal manuelle Geschicklichkeit und soziales Gespür.
Die Bedingungen für ein duales Bildungskonzept waren wohl nie günstiger als in der heutigen Situation der Grenzauflösung und des Wissensaustauschs zwischen den Disziplinen und Berufen. Bislang lag das Augenmerk auf dem Übergang vom Beruf zu einer «höheren» Ausbildung: von der Schneiderin zur Pädagogikprofessorin, vom Mechaniker zum Wirtschaftsinformatiker.
Man nimmt immer noch zu wenig wahr, dass der «duale» Grenzverkehr auch in umgekehrter Richtung verläuft. In den USA gelangte vor nicht allzu langer Zeit Jahr ein Buch mit dem Titel «Shopclass as Soulcraft» in die Bestsellerränge (frei übersetzt etwa mit «Werkunterricht als Seelenbildung»; die deutsche Übersetzung des Buches trägt den Titel «Ich denke, also schraube ich»). Der Autor Matthew B. Crawford, Doktor der politischen Philosophie, beschreibt darin seine «Weiterbildung» vom Akademiker zum Mechaniker.
Seine Geschichte liest sich wie eine ironische Randbemerkung zur oben erwähnten Zertifikatsinflation: höherer Universitätsabschluss – niedrig qualifizierte Arbeit. Crawford verfasste wissenschaftliche Abstracts für einen Think-Tank, die niemand las. Bis er sich entschloss, eine Reparaturwerkstatt für Motorräder zu eröffnen, Hand an Vergaser und Ventile zu legen. Nicht nur kommt er damit gut über die Runden, die Arbeit am konkreten Ding (nebst Bücherschreiben) erfüllt ihn erst noch zutiefst – intellektuell und emotional.
Man spricht gern vom technologischen Wandel, der alte Berufe zum Verschwinden bringe. Ich sehe in der Weiterbildung eine Gegenbewegung, welche die Artenvielfalt der Arbeit zu erhalten, wenn nicht zu erweitern sucht. Dazu gehört das Wecken von intellektuellem Mut, Querdenken, nichtdisziplinärer Neugier; die geduldige Fähigkeit, dicke Bretter zu bohren. Und dazu brauchen wir Leute wie Crawford: Freaks, kreative Aussteiger, Unangepasste, Grenzgänger – Exoten im Kreislauf von Produktion und Konsum; Dissidenten des Bildungswesens. Randerscheinungen zwar, aber sie sind es, die in die Zukunft weisen – mehr jedenfalls als alle jene «Masters», die zwar keine Ahnung, wohl aber eine Bildungsbescheinigung für keine Ahnung haben.