Das magische Wort des diesjährigen Konklaves am Davoser Zauberberg hiess Vierte Industrielle Revolution. Als wäre es sein Schwanengesang, zauberte der alte Magier Klaus Schwab den WEF-Teilnehmern eine Zukunft ohne Arbeit vor die Augen, von Robotern, menschlichen Organen aus 3D-Druckern, fahrerlosen Autos. Die Dritte – digitale – Revolution hat seit fünfzig Jahren die Voraussetzungen dazu geschaffen, mit der Fusion von physischen, digitalen und biologischen Technologien. Nun soll diese energiefreundliche, umweltschonende, digitalisiert zerlegte Welt, zum Wohl der Menschheit und der Quartalsabschlüsse, einen würdigen Namen erhalten.
Der Menschheit? Im jüngsten World Development Report schreibt die Weltbank, 4.4 Milliarden Menschen hätten noch nie von Online gehört, trotz dem Versprechen der vorletzten industriellen Generation, eine digital eingeebnete flache Erde anzubieten. Achtzig Prozent der Inder, diesen Software-Pionieren par excellence, waren noch nie am Netz. Zugegeben, auch Premierminister Narendra Modi erliegt gern der Magie der Worte, spricht von Digital India und Start-up India, vorzugsweise realisiert in den einhundert Smart Cities, mit intelligenten Haushaltgeräten, Solar-Bussen, mobilen Arbeitsplätzen und Online-Shopping.
"Make in India"
Doch sein wichtigster Verkaufsslogan ist ein anderer: Make in India. Dessen Maskottchen ist ein Löwe, fabriziert aus lauter Rädchen und Schrauben, die drehen und ächzen und den mächtigen Leib in Bewegung halten. Mit anderen Worten: Indien steht immer noch vor seiner ersten industriellen Revolution. Es ist die Revolution, die China eben hinter sich gelassen hat: riesige Fabriken, die mit Millionen von billigen Arbeitskräften und billigen Waren den Weltmarkt beliefern.
Modi glaubt, dass es seinem Land mit einer Kombination von traditioneller Fabrikarbeit und cutting edge-Wissen, von Unternehmergeist und einem schlanken Staat gelingen wird, den historischen Stafettenlauf der Industrierevolutionen – von Europa zu den USA, nach Japan/Korea, weiter zu China und nun nach Indien – fortzusetzen.
Das weltweit grösste Armutsbekämpfungsprogramm
Es ist keine leichte Herausforderung, denn der indische Staffelläufer trägt einen Rucksack von 13 Millionen Arbeitsplätzen, die Jahr um Jahr neu geschaffen werden müssen. Mit dieser Vision war Modi vor anderthalb Jahren an die Macht gekommen. Sie sollte eine Zäsur darstellen gegenüber dem Entwicklungsmodell der Kongresspartei, das mit Staatshilfen die Armen am Leben erhielt – und in der Armut.
Das Flaggschiff-Programm, das den Spagat zwischen neuem Wohlstand und alter Armut ermöglichen soll, begann vor genau zehn Jahren, im Februar 2006, mit einem neuen Gesetz. Es lautete Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act, abgekürzt MGNREGA. Der Volksmund liess den Mahatma bald einmal weg und drehte das unaussprechliche Kürzel mundgerecht zum Wort Narega um. Es ist das grösste Armutsbekämpfungsprogramm der Welt, und kostete den indischen Steuerzahler bisher rund 50 Milliarden Dollars.
Inbegriff verfehlter Politik
Narega garantiert jedem Erwachsenen im ländlichen Indien mindestens hundert Tage Beschäftigung, gegen Bezahlung des gesetzlichen Mindest(tages)lohns. Wird keine Arbeit angeboten, soll ein Arbeitslosengeld in der gleichen Höhe und Dauer ausgerichtet werden.
Schon früher gab es in Notzeiten ähnliche Work for Food-Programme. Sie waren zentral organisiert und bürokratisch, eine Pipeline voller Korruptionslöcher. Sie produzierten zudem nur geringfügig ökonomisch produktive Güter. Emblematisch war der mit dem Hammer zerkleinerte Schotter für den Strassenbau, der reichte, ganz Indien mit einem dichten Autobahnnetz zu bedecken. Am Ende blieben es Geröllhaufen, über die Gras wuchs.
Die Ähnlichkeit von Narega mit solchen Arbeitsprogrammen war ein Grund, warum die BJP dem neuen skeptisch gegenüberstand. Dennoch hatte sie 2006 dafür gestimmt – kompetitiver Populismus nennt sich das hier. Aber Narendra Modi gewann die Wahl von 2014 mit dem Slogan Maximum Governance, Minimum Government. Narega war dagegen der Inbegriff einer verfehlten Politik, nämlich Münder zu stopfen statt wirtschaftliche Anreize zu schaffen und mit Berufsbildung die Beschäftigungschancen zu verbessern. Vor einem Jahr rief er der Parlamentsopposition sarkastisch zu: „Don’t stop MGNREGA! Because it is a living monument to your (Congress) failure. After sixty years of independence, you had to send people to dig holes“.
"Anlass nationalen Stolzes"?
Kurz darauf präsentierte sein Finanzminister das Budget für das Jahr 2015/16 – und siehe da: Narega erhielt wiederum fast so viel Geld wie frühere Kongressbudgets. Und als vor einigen Tagen der zehnte Jahrestag begangen wurde, erklärte die Regierung, das Programm sei ein „Anlass nationalen Stolzes“. Zur Gesichtswahrung fügte das Communiqué bei, das Flaggschiff der Armutsbekämpfung sei in den zwanzig Monaten BJP-Herrschaft „völlig transformiert“ worden.
Das Gegenteil ist der Fall. Narega ist immer noch so gut – und so schlecht – wie unter dem Vorgängerregime. Von den angebotenen hundert Tagen Arbeit werden im Durchschnitt nur 42 genutzt; die Zahl der Manntage sank von 2.8 Milliarden auf die Hälfte. Vielen Gemeinden gingen die Projekt-Ideen aus, nachdem sie in den ersten Jahren Teiche ausgebuddelt, Kanäle gesäubert, Hochwasserdämme und Dorf-Toiletten errichtet und Bäume gepflanzt hatten. Vielerorts wird die Zahlung von Arbeitslosengeld verweigert, da dies als Zeichen bürokratischer Lethargie gelesen wird.
Sicherheitsnetz
Der halbe Erfolg des Programms hat zwar zum – willkommenen – Anstieg der tiefsten Lohntarife geführt (12% p.a.). Aber dies zwang viele Kleinindustrien zur Schliessung – sie können die (Mindest)-Löhne ihrer Gelegenheitsarbeiter nicht mehr bezahlen. Zudem ist der wirtschaftliche Nutzen der meisten errichteten Anlagen gering. Das Auseinanderklaffen zwischen Lohnanstieg und Produktivitätsgewinn hat, so behaupten Ökonomen, die Inflation angeheizt – und diese straft bekanntlich die Ärmsten am härtesten.
Warum ist die BJP dennoch auf den Narega-Wagen gesprungen? Offensichtlich ist das Programm so populär, weil es vielen Menschen ein Sicherheitsnetz bietet. Auch ist die Korruption weniger ausgeprägt als sonst, da Narega neben dem obligatorischen social audit jedes Projekts auch die Einrichtung von Bankkonten und damit Direktüberweisungen vorsieht. Zwischen 2008 und 2014 wurden über einhundert Millionen Konten eröffnet, und achtzig Prozent der Lohn- und Arbeitslosengelder fliessen dorthin. Noch wichtiger: Das Wachstum der Binnenmigration in die Städte ist erstmals rückläufig.
Eine immer grössere Zahl von Armen
Der tiefere Grund für den politischen Druck zur Beibehaltung von Narega liegt jedoch in der schieren Grösse des indischen Arbeitsangebots. Auch der eifrige Slogan-Schmied Narendra Modi muss erkennen, dass die ökonomische Decke von rund achthundert Millionen Menschen weiterhin ausserordentlich dünn ist. Eine Krankheit oder Missernte reisst sie brutal weg. In vier der zehn Narega-Jahren herrschte Trockenheit und Dürre. Das Programm konnte lediglich verhindern, dass hunderte Millionen Menschen in existenzgefährdende Not zurückfielen. Auch wenn sie dabei nur Löcher graben konnten.
Das Gesundheits- und Bildungsprofil der grossen Bevölkerungsmehrheit ist weiterhin miserabel, und es wird eine Generation brauchen, bis der Faktor Arbeit wiederum zählt. Doch hat Indien noch so viel Zeit zur Verfügung? Technologie und Kapital sind die grossen Gewinner der Dritten Industriellen Revolution, und nun droht Industry 4.0 Massenbeschäftigung obsolet zu machen.
Die Weiterführung des Narega-Programms zeigt, dass der Spielraum für jede indische Regierung, welcher Couleur auch immer, denkbar eng bleibt. Die politische Ökonomie zwingt auch Modi die Strategie auf. Sie lautet: Eine kleine Zahl von Intelligenzarbeitern (und immer reichere Kapitalgeber) schafft möglichst viel Globalwachstum; dessen Besteuerung finanziert Armutsprogramme à la NREGA; damit wird eine immer grössere Zahl armer Menschen gerade noch über das Existenzminimum gehievt; um so zu verhindern, dass sie bei der nächsten Wahl zur Opposition abwandern.