Vor einigen Monaten hatte ich über den Monsun in Bombay berichtet und die omnipräsenten blauen Notplanen in den Slums zur ‚Monsunfarbe‘ erklärt. Ich erhielt darauf die Zuschrift eines Freundes; er habe beim Anflug über den dichtbesiedelten Slums gemeint, es seien Swimmingpools. So rasch hat sich das Image Indiens verändert. Und rennt ihm die Realität hinterher – Swimmingpool oder Notbehelf? Beides wohl, und deshalb war mir nicht wohl, meinen kürzlichen Bericht über Armut in Indien einfach so stehen zu lassen. So real Armut ist, so wahr ist auch das Gegenteil.
Indische Flugpassagiere – so viele, wie Italien Einwohner hat
Hier ist der Tatbeweis, und ich berufe mich dabei auf die Marktforscherin Rama Bijapurkar: Zwischen 1991 und 2011 hat die Zahl der Personenwagen um 1‘600% zugenommen. Heute wächst die Automobilindustrie jedes Jahr um das Doppelte der Zahl aller damals zugelassenen Fahrzeuge (2.3 Mio.). Der Besitz von Telefonen ist um 17‘240% in die Höhe geschnellt. Unterdessen nimmt die Schar der Mobilfunkbesitzer um 8 Millionen zu – jeden Monat. Flugpassagiere? Zunahme: 600%. Letztes Jahr waren es so viele wie Italien Einwohner hat.
Zwischen 2003 und 2011 kamen 22 Millionen ländliche Haushalte neu auf den Geschmack für Biskuits, und 84 Millionen Haushalte begannen, Shampoos zu kaufen (auf einen Haushalt kommen in Indien durchschnittlich fünf Personen). Diese gigantische Konsumwalze wird ihr Tempo noch lange nicht verlangsamen.
„In einem Land mit insgesamt 232 Millionen Haushalten“, sagt Bijapurkar, „bedeutet eine zusätzliche Marktpenetration um lächerliche zwei Prozent nur schon im ländlichen Indien so viel wie die Bevölkerung Kanadas“.
Weil die Ausgangsbasis noch vor 20 Jahren so tief lag, wird die Aufholjagd andauern. Die indische Industrie, obwohl von staatlichen Eingriffen heute weitgehend verschont, kann den Hunger nach Flugreisen und Kinder-Unterhöschen und Haarspangen und Computern und Zahnstochern und Gasherden gar nicht mehr selber stillen.
Chinesen kaufen jede Firma, deren sie habhaft werden
Nur Einfuhren können helfen, und nun sollen auch ausländische Grossverteiler zugelassen werden. Der Handel mit China ist förmlich explodiert, von praktisch null auf $ 60 Mia p.a. Dabei fegt das Land der Mitte jede Hoffnung auf eine ausgeglichene Handelsbilanz beiseite, mag Indien noch so viel Erz und Kohle nach Fernost liefern; sogar Saris werden heute in Shenzhen produziert. Gegenwärtig kaufen chinesische Exporteure jede lokale Handelsfirma auf, derer sie habhaft werden. Sie wollen die Trumpfkarten im Indien-Geschäft – die Verteilkanäle bis in die feinsten Verästelungen – in der Hand halten.
Bereits droht wieder das Gespenst von Wartefristen. 1985 betrug die Lieferfrist für einen Fiat Padmini acht Jahre; was das hübsche Paradox bewirkte, dass der Gebrauchtwagen teurer war als das fabrikneue Fahrzeug, denn man konnte ihn sofort haben. Noch 1989 war die Warteschlange für (Draht-)Telefone 20 Millionen Anmeldungen lang. Ich erinnere mich an die Demütigung, die ich empfand, als ich bei der Telefonbehörde vorsprechen musste, um die Wiederherstellung einer Leitung zu erbetteln, die wegen unpünktlicher Zahlung gekappt worden war. Hinter dem Beamten hing ein Foto von Gandhi, mit dessen Ausspruch, dass ‚der Kunde Gott‘ ist. Ich war es, dachte ich grimmig, der den Betel-kauenden Gott im Bürosessel um Gnade bat.
Konsumtempel für die Möchtegerne
Doch die Konsumflut hat sich so rasch aufgetürmt, dass nun der Kundenservice hinterher hechelt. Wehe, man braucht Ersatzteile oder eine Reparatur! Vier Monate warteten wir auf einen neuen Dichtungsring für die Backofentür. Der einzige Unterschied zu früher war, dass wir nun telefonisch antichambrierten, und dass der Ton der Unterhaltung fordernd war, statt wie früher flehend. Doch als der Monteur letzte Woche endlich erschien, bewirteten wir ihn zuerst mit einer Tasse Tee; und es fehlte nicht viel und wir hätten ihm eine Girlande umgehängt – statt ihn damit zu erwürgen. So froh waren wir um die Aussicht, wieder einmal eine Wähe zu backen.
Der indischen Mittelklasse ist dies egal, solange sie mit Lust shoppen kann. Für kaputte Dichtungsringe kann man immer noch zum Händler von Occasionspneus um die Ecke gehen. Der langjährige Konsumstau sitzt ihnen immer noch in den Knochen, und der Besuch einer Shopping Mall gleicht dem Exorzismus eines bösen Traums. Die Bezeichnung ‚Konsumtempel‘ trifft ohne Ironie zu. Es ist ja nicht so, dass den Meisten der Geldbeutel locker in der Tasche sitzt. Nur etwa 30 Millionen Haushalte, sagt uns Marketing-Expertin Bijapurkar, bilden eine Mittelklasse im westlichen Sinn. Es klafft immer noch ein Graben zwischen den 70 Millionen Haushalten, die Mittelschicht sein wollen, und der ökonomischen Mittelklasse, die sich Wohlstand auch leisten kann. Aber das hindert die Möchtegerne nicht, den ganzen Sonntag in den luftgekühlten Hallen des ‚Shoppers Stop‘ zu flanieren, den Kindern ein teures ‚Mövenpick‘-Glace zu genehmigen oder den neuesten Shahrukh Khan-Flick im Multiplex daneben.
135 Millionen Haushalte sind seriously poor
Es ist kein Zufall, dass Konsumtempel und Bollywood-Traumfabrik oft kohabitieren (und schon gibt es richtige Tempel, die dort affichieren und auch diesen Konsumhunger abdecken). Doch lassen sich die Leute in die Arme dieses Triumvirats locken – oder sind sie nicht vielmehr Getriebene, auf der kurzzeitigen Flucht vor einer harschen Realität? Je rascher die Konsummaschine dreht, desto lauter dröhnt das Knirschen und Ächzen der öffentlichen Dienstleistungen vor dem Tempeltor, die Verstopfung des Lebensraums mit blockierten Verkehrsarterien, kümmerlichem Wohnraum, Wasser- und Stromknappheit.
Es ist, so stöhnen die Städter, die Lethargie eines verrotteten Staatsapparats, der die Shopping Malls zu winzigen Oasen macht. Im Grunde ist es natürlich mehr – der Schatten der Armut, der sich über jede Flanierstrasse legt. Das Wachstum der Mittelklasse ist überwältigend, ihr Konsumhunger schier unstillbar, von den drei Millionen ‚seriously rich‘ ganz zu schweigen. Hinter den erstaunlichen Zahlen steht aber immer noch der stattliche Sockel der ‚seriously poor‘.
Er ist zurückgegangen, von 150 auf 135 Millionen Haushalte. Aber 675 Millionen Menschen lassen sich nicht einfach in den Konsumhimmel befördern. Die Industrie tut ihr Bestes, nun da auch über den Hütten TV-Schüsseln hängen.
Den Armen soll zum Aufstieg in die Marketing-Kategorie der ‚aspirational poor‘ geholfen werden. Mithilfe von Shampoo-Sachets etwa, die 1 Rupie kosten und gerade für einen Haarwasch reichen. Und sie sollen endlich aufhören, ihr bisher Erspartes in Goldschmuck anzulegen. Übrigens: In den letzten 15 Jahren importierte das Land 8200 Tonnen des gelben Metalls, auch dies ein Weltrekord. Die Hälfte davon kam aus der Schweiz. „Es hat den schönsten Glanz“ begründete ein Juwelier der ‚Times of India‘ die Vorliebe.