Das heisst nicht, dass es hier nichts "Vermischtes" gibt; im Gegenteil, es gibt nur dieses. Beinahe jedes Ereignis ist durchmischt mit Politik, Theater, Religion, jede Gesetzgebung kommt mit Showelementen, hinter jeder noch so eindeutigen Nachricht lauern Subtexte. Nicht selten widersprechen sie sich.
Eine Meldung im "Business Standard"
Ich machte die Probe aufs Exempel. Am letzten Montag schlug ich in drei Zeitungen eine beliebige Seite auf. Ich begann mit einem "Pink paper", auch in Indien die Visitenkarte eines Geschäftsblatts. Auf Seite 12 des "Business Standard" stand eine scheinbar langweilige Präsentation des neuen Gesetzes über Einkommenssteuern.
Der Artikel begann technisch, doch je mehr sich der Autor für das Thema erwärmte, desto schärfer wurde der Ton, um schliesslich in einer einzigen Invektive zu enden: Das neue Gesetz traegt die Handschrift einer korrupten Bürokratie, die hinter hehren Beteuerungen dasselbe System fortführe, das jeden Beamten zu einem Erpressungsgehilfen mache. Es zeige ein weiteres Mal, wie unnütz Anti-Korruptionskampagnen seien, wenn eine verrufene Steuermethode unwidersprochen als radikale Reform verkauft wird.
Chefminister ruft Hausgeist an
Steuern und Korruption – eine alltaegliche, und daher keine sonderlich interessante Gemengelage. Dafür versprach der Bericht am oberen Seitenrand etwas mehr Saft. Im Bundesstaat Karnataka wurde vor einigen Monaten der Chefminister entlassen, weil er sich über Gebuehr bereichert hatte. Ein Parteikollege wurde ihm vor die Nase gesetzt.
Was tut Sadananda Gowda, um sich der Querschüsse des abgehalfterten Rivalen zu erwehren? Er lässt sich sein Recht auf den Chefsessel vom Hausgeist beurkunden. Bei einem ‚Bhoota Kola‘ – einer Geisteranbetung – zuhause versicherte ihm der Geist Vishnumurthy über ein Medium seine Unterstützung, „immer und überall“. Und fügte der guten Ordnung halber an, „verehre immer Deine Mutter. Sie ist Gott in Menschengestalt“.
Darauf musste der Rivale Yeddyurappa natuerlich kontern. Er versammelte die Oberpriester von 25 Tempeln fuer eine Feuerzeremonie. Dort lasen sie aus den schlängelnden Flammen: „Deine Zukunft ist golden“, eine Wortwahl, die ihn wohl gleich doppelt freute.
Geschichten aus der tiefen Provinz
Unten, in der linken Ecke von Seite Zwoelf stand die monatliche Kolumne von Keya Sarkar. Vor einigen Jahren hatte es die Werbefrau aus Bombay in die tiefe Provinz Bengalens verschlagen, nach Santiniketan. Es ist der Ort, wo Indiens Nationaldichter Rabindanath Tagore eine Freie Universität gegründet hatte; doch statt dass sie die Provinzstadt zu Weltruf brachte, zog diese die Lehranstalt in die provinzielle Oede.
Und diese beschreibt Sarkar in ihren kurzen Texten. Sie betreibt auch eine Boutique mit Artikeln des ländlichen Handwerks. Vor Jahresfrist erhielt sie eine Bestellung fuer dreissig Bettdecken, die sie an ihren Weber im Dorf weitergab. Jedesmal, wenn sie deren Lieferung anmahnte, erhielt sie eine andere Antwort. Zuerst war es zu heiss, um zu arbeitren; dann musste der Webstuhl in Reparatur gehen; inzwischen hatte jedoch der Monsun begonnen, und die Strassen waren unpassierbar; nach dem Monsun begann die Aussaat – keine Zeit zum Weben.
Und danach kommt das Fest der Kali-Puja, wo jeder Bengale lieber betet als arbeitet. Schliesslich, Ende November, erhielt Frau Sarkar einen Anruf aus dem Dorf: Die Decken könnten nicht geliefert werden. Warum denn, fragte sie entmutigt. „Gestern Nacht fiel das Kalb in den Webstuhl-Graben“. Na und? „Es frass sämtliche Kettenfäden“. Doch wie um Himmels Willen kam das Kalb ins Webatelier? „Es ist sein Stall“.
Zustände in einem Spital
Um in Bengalen, und bei Indiens Verbundenheit mit Tieren zu bleiben: In der ‚Times of India‘ stand gleichentags auf Seite 8 gross: „Gesundheitsministerin vertreibt Katzen aus dem Spital“, und im Untertitel: „...und sieht während ihres Besuchs zwei Säuglinge sterben“. Sabitri Mitra stand am Sonntag unangekündigt im Krankenhaus von Malda, nicht allzu weit von Santiniketan. Sie wollte Berichten nachgehen, wonach dort in vier Tagen 27 Babys aus ungeklärten Gründen verstorben seien. Die Bettentrakte und Gänge waren ueberfüllt mit Patienten und Angehörigen, Abfall lag herum, Katzen sprangen von Bett zu Bett. Nur eine Spezies war nicht aufzutreiben: das Spitalpersonal.
Frau Mitra verlangte nach der Stations-Schwester – „im Urlaub“; nach dem Direktor – „in Kalkutta“; nach dem Stationsarzt – „auf Dienstreise“. Der letzte Stand der Kindsopfer in Malda eine Woche später: 45.
Das Schicksal der "Fairy Queen"
Eine Geschichte, die auch historisch und geografisch gut durchmischt war, stand im ‚Indian Express", Seite 9: Sie begann 1856 in Bengalen, setzte sich 2005 in Delhi fort, und findet nun in Chennai ein vorläufiges Ende. Und sie hat eine schöne, tragische Heldin: ‚Fairy Queen‘, die älteste Dampflokomotive Indiens, 1855 in England gebaut, und bis 2004 Zugpferd der Darjeeling-Bergbahn. Dann kam sie 2005 in den Ruhestand, ins Eisenbahnmuseum in Delhi.
Dort entdeckten Angestellte im letzten Herbst, dass das eingemottete Prunkstück systematisch kannibalisiert worden war. Jetzt steht ‚Fairy Queen‘ in einem ‚Locomotive Workshop‘ bei Chennai, um dort wieder aufgemöbelt zu werden. Der zuständige Ingenieur stellte eine düstere Diagnose: „Es ist ein totes Stück Metall. Jeder abmontierbare Teil ist verschwunden, nur das Gehäuse ist noch da“. 50-60 Teile fehlten, allen voran natuerlich die Glocke, die Signalpfeife, die bronzenen Griffe und Scharniere – Opfer der Sammelsucht von Souvenir-Jägern, und ihren bestechungswilligen Komplizen.
Was die Kuh denkt
Zurück zur heiligen Kuh, Indiens Wappentier. Beim Literaturfest in Jaipur fehlte zwar Salman Rushdie, doch eine Vertreterin der Spezies liess sich das Stelldichein nicht entgehen. Bei einer Veranstaltung wurde David Remnick, Chefredaktor des "New Yorker", über sein Obama-Buch befragt. Ist der Präsident nicht auch Opfer übertriebener Erwartungen geworden, wurde er gefragt. „Remnick“, so schrieb die ‚Times‘, „überlegte, bevor er antwortete. Das Schweigen wurde unterbrochen durch ein langes, klagendes ‚Muuuh‘. Remnick geistesgegenwärtig: ‚Well, the cow certainly thinks so‘.“
Die Kuh erhielt den Namen Siddhi und wurde zum Festival-Star. Als beim nächsten Treffen Fatima Bhutto – Benazirs Nichte – gefragt wurde, ob Imran Khan Pakistan wohl retten könne, schwieg sie – und auch Siddhi. Worauf Bhutto: „Selbst Siddhi scheint zu denken, dass die Antwort selbstverständlich ist“. Das Reporterteam der ‚Times‘ spürte die Kuh schliesslich auf, in einem Stall hinter dem Festival-Zelt, wo sie einige Tage zuvor gekalbert hatte. Das Kleine war ihr weggenommen worden, und so hatte sie, wie viele Rushdie-süchtige Teilnehmer, ebenfalls Anlass zur Klage.
Als Mahatma Gandhi 1915 nach Indien zurueckkehrte, schrieb er seinem Freund Hermann Kallenbach in Südafrika: „I see around me nothing but hypocrisy, humbug and degradation, and yet underneath it a trace of divinity I missed elsewhere“. Gut gebrüllt, Löwe.