Mani ist grossgewachsen, mit einem schönen Gesicht, aufmerksame, ruhige Augen. Er ist 27-jährig, hat also die besten Heiratsperspektiven. Doch der junge Mann ist bereits vergeben, und seine zwei Kleidungsstücke verraten seine Wahl. Es ist das Kleid von Indiens Asketen: Ein schmutziges Lendentuch und ein Schweiss-Lappen, der um die Stirn gewickelt ist.
Es ist auch das Kleid seines Schutzpatrons, Gott Shiva. Als er zehn Jahre alt war, erzählt Mani, hatte er einen Traum, in dem Shiva ihn zu sich rief. Kein Wunder, denn sein Dorf liegt im Schatten von Arunachala, dem Berg in Tamil Nadu, der als Lingam verehrt wird, Shivas phallischem Symbol. Doch seine Eltern wollten ihn nicht ziehen lassen. „Shiva wollte es, so tat ich es“, sagt er einsilbig. Seitdem lebt er auf der Bergspitze, achthundert Meter über der Tiefebene des Paral-Tals.
Von Asseln gebissen
Zuerst half er dem Swami, der dort oben in einer Höhle hauste und den Dreizack Shivas hütete, das einzige religiöse Symbol auf dem windigen und steinigen Gipfel. Als sich sein Meister nicht mehr aus seiner Sitzstellung lösen konnte, trug Mali ihn im Schneidersitz zu Tal und versorgte ihn in einem Ashram. Seitdem lebt Mani auf dem Berg, läuft gelegentlich nach Tiruvannamalai hinunter, wo er im Tempel etwas zu essen erhält. Einmal im Jahr, beim grossen Fest von Karthik Purnima, unterhält er auf dem Gipfel vier Tage und Nächte lang ein grosses Feuerwerk, das nur von ‚Ghee‘ genährt wird, der gekochten Butter, die Pilger aus dem Tal hochtragen.
Ob er glücklich sei, fragte ich Mani. „Ich bin nicht glücklich, ich bin nicht unglücklich“, antwortete er. „Es ist einerlei“. Einerlei ist auch, ob er etwas zu Essen bekommt, oder ob er Hunger hat; ob er friert oder schwitzt; ob er oben in seiner Höhle von Mücken gestochen, von Asseln gebissen wird; ob ihm die Affen das Essen stehlen. „Was immer geschieht, es ist Shivas Wille, und so ist es gut“.
In goldig glänzendem Metall
Nach drei Wochen Reisen in Indien, mit vielen religiösen Berührungspunkten – in Bengalen, Varanasi, Tamil Nadu –, weckte die Begegnung mit Mali wieder etwas Hoffnung für die verloren geglaubte spirituellen Tradition des Landes. Sie zeigte mir, dass in dieser Zeit des spirituellen Materialismus eine einfache, ehrliche, messerscharf klare Spititualität überlebt hat. Sie ist nicht im Brimborium von Weihrauch, Singsang, Muschelhörnern – und viel Geld – verschwunden. Wir trafen Mani in einer der Meditationshöhlen von Ramana Maharshi, dem vielleicht grössten Mystiker Indiens im 20. Jahrhundert. Auch ihm genügte Wanderstab und Lendentuch, und am liebsten wäre er wohl in der Höhle am Berghang des Arunachala geblieben, hätte ihn sein Ruf nicht bald eingeholt und zum gesuchten spirituellen Lehrmeister gemacht.
Inzwischen hat ihn sein Ruf überholt und gleich auch abgehängt. Der karge Meditationsraum im Ashram am Fuss des Heiligen Bergs ist ein reicher Hindu-Tempel geworden. Statt sich mit den strengen Fotos seines vernachlässigten Körpers zufrieden zu geben, und den Raum nur der Meditation offenzuhalten, thront er nun in goldig glänzendem Metall mitten im abgeschirmten Allerheiligsten. Von da blickt er auf die geschäftigen Brahmanen in ihren glattgeölten Körpern herab, wie sie Sanskritverse singen und Rosenwasser versprühen, das Feuer schüren und mit dem Rosshaarwedel das Lingam streicheln.
Sinnentleerte Mechanik der Tempelpriester
Es sind Rituale, die seit drei Jahrtausenden so ablaufen, farbig, lärmig, routiniert. Aber je mehr Tempel unsere kleine Gruppe besuchte, desto mehr wurden wir angesteckt – nicht von der tiefen Symbolik, sondern von der sinnentleerten Mechanik, mit der die Tempelpriester ihre Gebete murmelten und gleichzeitig den Betenden Anweisungen gaben, wo sie ihren Obolus abzuliefern hatten. Der Kalighat-Tempel in Kalkutta erinnerte an den Bibelbericht vom Tempel in Jerusalem, in dem der Nazarener die Peitsche ergriff und Händler und Pharisäer daraus vertrieb.
Von Varanasi waren wir kaum noch schockiert, weil jeder Ankömmling schon weiss, was ihn erwartet – die ungefilterte Kloake, die sich in den Ganges wälzt, dicht daneben halbnackte Pilger, die das Wasser aus ihren hocherhobenen Handmuscheln in den Mund rinnen lassen. Wir erfuhren auch, dass der Dreck auf den Ghats kein ‚Memento mori‘ ist, das uns daran erinnert, dass wir im Tod Alle zu Abfall werden. Das ist Mythologisierung, wie sie nur die Inder beherrschen. In Wahrheit ist es eine Mischung von Käuflichkeit (sichtbar an den vielen illegalen Bauten) und Trägheit. Sie erklärt, warum die Gemeindebehörde von Varanasi die UNESCO-Auszeichnung als ‚Weltkulturerbe‘ gar nicht wünscht; sie würde sie nur zwingen, die Ärmel hochzukrempeln und ihre Bücher zu öffnen.
Preis: 5000 Rupien
Auch Tamil Nadu war fest in den Händen der Brahmanenkaste. Im grossen Shiva-Tempel von Kanjeevaram filterten sie die Ausländer aus den Reihen der Schlange, die sich zum Allerheiligsten drängte. Doch statt sie als Nicht-Hindus zu verbannen, führten sie sie hinter den Säulen entweder zum linken Seiteneingang, wo die Warteschlange kürzer war (Preis: 1000 Rupien), oder zu jenem rechts, wo die Zeremonie direkt sichtbar war (Preis: 5000 Rupien). Im Tempel von Tiruvannamalai begingen wir den Fehler, ohne Geldtasche anzurücken. Als die Priester uns eingeräuchert hatten und die Schale hinhielten, wurden sie darauf aufmerksam gemacht. Sie hatten nur ein verächtliches Lächeln übrig für diesen Sündenfall.
Wie wohltuend versprach da der Besuch im ‚Tempel der Mutter‘ in Auroville zu werden! In der Grossen Gebetshalle im Innern des (ebenfalls goldglänzenden) riesigen Kugelbaus gibt es kein Gottesbild, wurde uns versichert, keine Statue von Sri Aurobindo oder ‚der Mutter‘; die spirituelle Energie sammle sich dort einzig in einem kleinen goldenen Globus.
Wie in einem Raumschiff von Startrek
Doch die Wirkung glich am Ende den lärmigen Tempelbesuchen – sinnentleert und manipuliert. Wir freuten uns zu hören, dass der Besuch von uns 65 Auserwählten in völligem Schweigen ablaufen musste. Als wir ins gedämpfte Dämmerlicht der Kugel traten und mit weissen Socken über die weissen Teppiche glitten, stand alle zehn Meter eine Person in Weiss, observierte uns aufmerksam und wies uns schweigend den Weg – „als wären wir in einem Raumschiff von Startrek gelandet“, wie ein Teilnehmer bekannte. Im grossen Rund des Allerheiligsten war ich so eingeschüchtert, dass meine Meditation vor allem darauf bedacht war, mich ja nicht zu räuspern, um nicht aufstehen zu müssen und das Hüsteln im Vorraum loszuwerden. Die Manipulation der spirituellen Offenheit war, in ihrer Subtilität, schlimmer als jene in den Tempeln.
Ist es am Ende doch nur das radikale Bekenntnis zur Armut, das der Spiritualität den Weg offenhält? Ich denke an die Bauls, Bänkelsänger in der Sufitradition, denen wir in Nordbengalen begegneten; an die vielen Dorfbewohner, die sich jenseits der Mauern des Sonnentempels von Mahabalipuram am Strand versammelten, um dem ersten Neumond im Hindu-Kalender entgegenzufiebern (während wir Touristen für teures Geld im Tempel herumstapften und uns fragten, wo wohl der göttliche Funke verschwunden war). Und ich denke an Mani.