Was treibt Indien um in diesen Tagen? Nach drei Monaten Abwesenheit bilden Wiedersehensgespräche eine dürftige Basis für das Ertasten der öffentlichen Meinung. Doch wie steht es mit der veröffentlichten Meinung? Die Times of India ist mit ihrer Auflage von 2,5 Millionen und den zahlreichen Druckstandorten das Sprachrohr der städtischen, englischsprachigen Mittelklasse.
Sie ist nicht repräsentativ im demografischen Sinn, wohl aber bezüglich der Macht, mit der diese Klasse die Agenda des Landes bestimmt. Und im Gewicht, das der Print-Journalismus in Indien immer noch hat, einem der wenigen Länder mit steigenden Zeitungsauflagen.
Zur Ablenkung: Cricket, Religion, Gossip
Wirtschaftswachstum und dessen schattenhafter Doppelgänger – Korruption – sind weiterhin die beherrschenden Themen des nationalen Diskurses, wenn ich die zufällig gewählte Bombay-Ausgabe der Times vom 28.9.2012 lese. Und da sie in der Regel eine deprimierende Lektüre darstellen, werden sie mit den patenten Ablenkungen durchmischt, die sie erträglich machen – Cricket und Religion, und natürlich die Bombay Times-Beilage, die täglich eine lückenlose Chronik von Bollywood-Gossip bietet.
Die Hauptschlagzeile des Tages ist eine Stellungnahme des Obersten Gerichts – keine Seltenheit in den indischen Medien, gehören Berichte über Justizentscheide doch zum festen Bestandteil jedes Nachrichten-Bulletins. Auch in diesem Blatt zähle ich nicht weniger als dreizehn Artikel, die Justiz-Verlautbarungen ansprechen. Knapp die Hälfte davon befasst sich mit dem Thema des Hauptartikels: Das Oberste Gericht hat bestimmt, dass Auktionen für die Vergabe von natürlichen Ressourcen „nicht die einzige Methode darstellen, um sie der privaten industriellen Ausbeutung zuzuführen“.
Trockene Materie, die den Leuten auf den Fingern brennt
Eine trockene Materie. Dass die Times, sonst immer mit dem Leser liebäugelnd, sie zur Schlagzeile macht, zeigt, wie sehr den Leuten das Thema auf den Fingern brennt. Zwei kürzliche Skandale haben offengelegt, wie zwei der teuersten nationalen Ressourcen – Telekom-Spektrum und Bodenschätze – durch Mauscheleien zwischen Politikern und Unternehmern verschachert wurden.
Fünf Artikel im Innern des Blattes beleuchten dieses Urteil aus verschiedenen Perspektiven. Dass wirtschaftliche Entwicklung in einem armen Land wie Indien ein zentrales Thema ist, kann man leicht nachvollziehen, ebenso wie der Dauerbrenner Korruption, die die gerechte Verteilung des Wachstums inzwischen systematisch und massiv unterhöhlt. Aber die grosse Zahl von Justiz-Berichten in einer einzigen Tagesausgabe ist auch Good News: Sie zeigen, dass der Kampf gegen illegale Bereicherung offen ausgetragen wird – und Erfolge zeitigt.
Bericht auf Seite 5
Ein Bericht auf Seite 5 illustriert dies. Das Obergericht von Bombay hat entschieden, die beigelegte Strafuntersuchung gegen den bekannten Bau-Unternehmer Hiranandani wieder zu eröffnen. Dieser hatte 1986 von der Gemeinde das Baurecht über ein Gelände von 92 Hektar Land am Stadtrand billig zugesprochen erhalten. Er sollte darauf mehrere tausend Sozialwohnungen von 40 und 80 qm. errichten, sowie Spitäler, Schulen, Einkaufszentren, Parks. Stattdessen, so wird Hiranandani vorgeworfen, errichtete er die Blöcke, verkaufte aber die Wohnungseinheiten gleich im Multipack – z.B. fünf 80qm-Wohnungen nebeneinander, sodass daraus sodass daraus Luxus-Appartements entstanden, die zwischen 200 und 500 qm. gross waren und entsprechende Gewinne ermöglichten.
Die Untersuchung war dank Kollusion von Regierungsfunktionären (und auch Lokalgerichten) immer wieder verzögert worden, zum letzten Mal durch die Einsprache eines hohen Beamten. Nun kann die Anti-Korruptionsbehörde ihre Untersuchung wieder aufnehmen.
Noch ein Korruptionsfall
Auch der politischen Lead-Story im Lokalteil liegt ein Korruptionsfall zugrunde. Der Chef des Koalitionspartners der Kongressregierung in Maharashtra wird beschuldigt, während seiner Zeit als Minister für Bewässerung alle institutionellen Kontrollen aus dem Fenster geworfen zu haben: ‚Parteinahe‘ Unternehmer erhielten Projektzuschläge – ohne Bietverfahren! Die aufgeblähten Preisberechnungen passierten widerstandslos die Kontrollen, ebenso wie die bis zum Dreifachen erhöhten Kostenüberschreitungen.
Bürger setzen sich zur Wehr
Diesmal waren es nicht die Gerichte, sondern Bürgeraktivisten, die dank dem gesetzlichen Recht zur Einsichtnahme staatlicher Dokumente – dem Right to Information Act (RTI) – dem Skandal auf die Spur kamen. In einer Flucht nach vorn trat Ajit Pawar – der zweitmächtigste Mann im Bundesstaat – am Mittwoch als Finanzminister zurück, um mit sich die ganze Regierungskoalition in den Strudel zu ziehen. Es gelang ihm nicht, und es wurde ein Punktesieg für den lokalen Regierungschef Chavan.
Dieser hatte bisher einen ähnlichen Ruf hatte wie sein Parteikollege Manmohan Singh in Delhi: ehrlich aber schwach. Die Times zitiert abschätzig den Verdacht im Camp des abgetretenen Ministers: Chefminister Chavan selber habe dafür gesorgt, dass bei den Nachforschungen der RTI-Aktivisten die inkriminierenden Dokumente nicht wie üblich verschwanden.
Ein bisschen Abkühlung
Bei so viel politischer Hitze braucht es ein bisschen Abkühlung, und die leserfreundliche Times ist zur Stelle. Der Cricket-Weltcup in Colombo wird flächendeckend abgehandelt. Noch besser eignet sich das zehntägige Ganpathi-Fest mit seinen überaus flexiblen Arbeitszeiten und einer schwammigen ‚Feiertag‘-Definition. Überall in der Stadt, in Innenhöfen und Wohnungen, auf Parkplätzen und Quartierstrassen werden Statuen des Elefantengottes errichtet, werden Tempelwände aus Segeltuch errichtet, und vor allem: es werden Lautsprecheranlagen installiert.
Es ist ein junges Fest, erfunden in der Zeit des Unabhängigkeitskampfs, zur Mobilmachung einer national-hinduistischen Identität. Es folgt keinem vorbestimmten Ritual, sondern vermischt unverfroren Kommerz und Religion, Quartierpolitik und beschaulichen Singsong. Die "Times" zeigt Bilder vom ewigen Gewinner im ‚schönsten Altar‘-Wettbewerb, jenem im Lalbaugh-Quartier: ein Meer von Werbeplakaten, kilometerlange Menschenschlagen, Verkehrschaos, ein Bollywood-Star, der das Öllämpchen schwingt.
Die neue Bollywoood-Komödie
Sie steht in Voll-Garnitur da, vom armen Gott sieht man nur die Klumpfüsse. Ein winziges Foto auf Seite 17 zeigt dafür richtige Elefanten: ein ganzes Rudel zertrampelt in Westbengalen ein Reisfeld, unbekümmert um den Polizisten im Vordergrund, der sie mit zwei lächerlichen Fackeln zu vertreiben sucht.
Festzeit ist Familienzeit: gemeinsames Frühstück (ganzseitige Anzeige: „Say Good Morning to Saffola Muesli“), Schlendern im Einkaufszentrum, Filmbesuch mit Kind und Kegel. Und was gibt es Besseres als die neue Bollywood-Komödie mit ihrer modischen Twitter-Abkürzung im Titel: „OMG“, ebenfalls ganzseitig angezeigt mit der Schlagzeile: ‚Gerichtsfall Kanjibhai gg. Gott! Urteil heute!“.
OMG - Oh My God
Es geht, so die Filmkritikerin der Times, um einen atheistischen Ladenbesitzer, der mit dem Verkauf von Krishna-Statuen sein Geschäft macht. Dafür bestraft ihn Gott – sein Laden wird Opfer eines Erdbebens. Die Versicherung zahlt nicht, weil es ein ‚Act of God‘ ist (wie ‚Force majeure‘ im Assekuranz-Englisch heisst). Worauf Kanjibhai Mehta Gott vor Gericht schleppt und auf Wiedergutmachung pocht.
Und wer muss Gott vertreten? Es ist eine typische Antwort a l’indienne: ein Swami, ein Mullah, ein Padre und ein buddhistischer Mönch. Für jene Leser, die der Twitter-Sprache nicht mächtig sind: ‚OMG‘ steht für ‚Oh My God‘.