Wie in der Schweiz diskutiert man auch in Indien alle paar Jahre über die Wünschbarkeit einer neuen Nationalhymne. Vor kurzem kam der Vorschlag, ein Gedicht von Rabindranath Tagore aus dem Jahr 1912 als Textgrundlage zu wählen.
Es beginnt mit den Zeilen: "Where the mind is without fear and the head is held high / Where Knowledge is free / Where the world has not been broken into fragments / By narrow domestic walls / … / Into that Heaven of Freedom, my Father / Let my country awake".
Rushdie als Gradmesser der Freiheit
Bleiben wir lieber bei "Jana Gana Mana", dachte ich, denn der Spiegel dieses Gedichts ist zu hart für unsere Zeit, zu unerbittlich in seiner Forderung nach Toleranz und Offenheit. "Heaven of Freedom"? Salman Rushdie, gebürtiger Inder und auf Werbe-Tour für die Premiere der Verfilmung seines berühmten Erstlingsbuchs "Mitternachtskinder", durfte nicht in Kalkutta landen; die Polizei, so wurde ihm vor Abflug in Delhi bedeutet, hatte die Order, ihn im nächsten Flugzeug zurückzuspedieren.
Der Grund? Muslimische Organisationen hatten mit Protesten gedroht. Statt sie der Störung von Recht und Ordnung zu bezichtigen, machte die Provinzregierung ihn für sie verantwortlich.
Rushdie ist ein guter Gradmesser für den Stand der Freiheitsrechte, in Indien und anderswo. Letztes Jahr wurde er von der Einladungsliste des Jaipur-Literaturfests gestrichen. Dieses Jahr waren die Autoren verbannt, die 2012 gewagt hatten, aus dem Werk Rushdies vorzulesen. Heuer kam die Polizei wiederum vorbei, nicht um die muslimischen Heisssporne von Tätlichkeiten abzuhalten, sondern bereit, einen weiteren Autor zu verhaften.
Eine dumme Provokation
Diesmal war es der Ethno-Soziologe Ashis Nandy. Was hatte er verbrochen? In einem Podiumsgespräch hatte er gesagt, die Korruption in Indien sei unter den unteren Kasten am grössten. Vielleicht nicht die intelligenteste Behauptung, aber deckt das Recht auf freie Meinungsäusserung nicht auch Dummheit ab? Dalit-Politiker sagten Nein. Nandy musste aus Jaipur fliehen. Drei Gerichtsklagen warten auf ihn, wegen Beschimpfung der unteren Kasten. Strafmass: bis zu zehn Jahre Haft.
In Tamil Nadu verbot die Landesregierung in 532 Kinos die Projektion von "Vishwaroopa", dem neuen Film des Regisseurs und Schauspielers Kamal Hassan. Auch hier hatten muslimische Organisationen gegen die Darstellung des Islam als der Religion des Terrorismus protestiert. Dabei hatte Hassan lediglich Tagesschau-Material filmisch artikuliert – al-Kaida-Gesellen, die vor einem Terrorangriff beten und den Jihad beschwören, als Legitimation ihres mörderischen Handelns; dazu einige kritische Anmerkungen über den Schaden, den Terroristen der Religion damit antun. Hassan hätte dasselbe von den streitsüchtigen Mullahs sagen können.
Die Dominanz der Minderheiten
Der demokratische indische Staat, so der Politologe Pratap Bhanu Mehta, opfere die individuellen Freiheitsrechte immer mehr auf dem Altar der kollektiven Rechte der einen oder anderen Minderheit, seien es Dalits oder Muslime. Da Indien ein einziger Patchworkteppich von Minderheiten ist (selbst die 85 Prozent Hindus haben sich, als Vertreter der einen oder anderen Kaste, in Minderheiten aufgesplittert), greift der Staat ständig ein, wenn sich die eine oder andere verletzt fühlt.
Unglücklicherweise unterstützt die Verfassung diese ungleiche Verteilung. In Art. 19 garantiert dieses sonst viel bewunderte Werk die Redefreiheit als einer der fünf individuellen Grundrechte, liefert dann aber gleich einen Katalog von Restriktionen nach: wenn der Staat seine Integrität gefährdet sieht, aber auch wenn öffentliche Ordnung, Moral, Schicklichkeit oder Verleumdung im Spiel sind.
"Vote Banks"
Der Grund für dieses Ungleichgewicht zwischen sozialen und individuellen Freiheitsrechten ist die schiere Vielzahl von sozialen Formierungen in diesem Milliardenvolk. Dessen Zusammenhalt, so hatten die Verfassungsautoren gefürchtet, ist stärker gefährdet, wenn diese Gruppen aneinandergeraten, als wenn Einzelpersonen ein Maulkorb verpasst wird. Heute ist die Gefahr des Auseinanderbrechens verschwunden, dank einer lautstarken Demokratie. Doch nun ist es diese, die dafür Verwendung findet. Eine Gruppe liefert schliesslich mehr Wahlstimmen als ein Einzelner.
Immer finden irgendwo Wahlen statt, und jedes Mal beeilen sich die stimmsüchtigen Parteien, den Anwalt beleidigter Gruppen zu spielen. Das Wahlrecht des Majorz begünstigt zudem kompakt stimmende Minderheiten. "Vote Banks" nennt es der Politjargon, und welche Partei will sich deren Gunst verscherzen? Die Muslime haben hier ein besonderes Gewicht, da sie eine grosse Minderheit sind, und da sie aus Angst vor der Hindu-Übermacht ein geschlossenes Stimmverhalten zeigen. Einem Rushdie drohen Handschellen, während ein fanatischer Lokalpolitiker in Hyderabad, Akbar Owaisi, mit Samthandschuhen angefasst wird, obwohl er laut den Rückgewinn der muslimischen Oberherrschaft in Indien prophezeit.
Die Regierungschefin greift durch
Die Polizei erhob Gerichtsklage, aber es ist eine ausgemachte Sache, dass Owaisi kein Haar gekrümmt wird; zu wichtig ist das muslimische Zünglein auf der Waage, wenn nächstes Jahr gewählt wird. Ähnlich in Westbengalen, wo die Muslime 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Dort sind es Muskelmänner, die Wahlstimmen garantieren, und die Parteien kooptieren sie. Was tat Regierungschefin Mamata Banerjee, als letzte Woche ein Polizei-Wachtmeister von einem Mitstreiter ihres Stellvertreters – beides Muslime – erschossen wurde? Sie versetzte den Polizeichef der Stadt Kalkutta. Letztes Jahr hatte ein Akademiker eine wenig schmeichelhafte Karikatur über sie per Fax weitergeleitet; sie liess ihn verhaften – und den Fax-Empfänger dazu.
Das Beispiel zeigt, dass sich nun auch die Politikerkaste als bedrohte Minderheit empfindet, kein Wunder bei der landesweiten Verachtung der "Netas". Sie müssen das Trommelfeuer von Medienschelten über sich ergehen lassen und geniessen eine generelle Schuldvermutung in Sachen Korruption. Wie Frau Banerjee schlagen sie zurück, wann immer sie können. Ein Karikaturist kam wegen Volksverhetzung ins Kittchen, weil er das staatliche Symbol der drei Ashoka-Löwen durch ein anderes Wappentier ersetzt hatte – Hyänen. Und aus Sorge um die Stimmen der Dalits musste ein neuer Staatskunde-Lehrerband eingestampft werden. Nur weil dort eine Zeitungskarikatur aus den Fünfziger Jahren stand, in dem der Dalit-Held Ambedkar, Präsident einer Verfassungskommission, als Schnecke erschien, die von Premierminister Nehru mit einer Peitsche zu mehr Eile angetrieben wird.
Diese Reflexe sind inzwischen so eingespielt, dass sie schon im voraus greifen. Mit dem Argument, Störungen der Ruhe und Ordnung zu verhindern, werden pointierte politische Äusserungen mit der Guillotine bestraft, noch bevor jemand aufmucken kann. Ein Teenager musste im Facebook nur die Frage stellen, ob denn ein Staatsbegräbnis für Bal Thackeray, Indiens Möchtegern-Hitler, wirklich nötig gewesen sei – und schon wurde sie verhaftet. Ihre Freundin, die einfach "like" geklickt hatte, landete ebenfalls in Polizeigewahrsam. Die Thackeray-Mob war noch gar nicht dazu gekommen, sich zu formieren. Erst der Sturm der Entrüstung, der sich darauf auf die Kongress-Regierung entlud, zwang Sonia Gandhi, mahnend den Finger zu heben über diese pathologische Angst vor Meinungsfreiheit. Es ist ja so viel einfacher, zwei junge Frauen zu verhaften als einem Mob die Stirn zu bieten.