Als Ranjitsinh Disale im Jahr 2009 mit Einundzwanzig seinen ersten Posten als Primarlehrer antrat, war das verlotterte stallähnliche Klassenzimmer das geringste seiner Probleme. Viel schlimmer sah die Schulstatistik von Paritewadi aus. Im 2000-Seelen-Dorf betrug der Mädchenanteil in der Schule 2 Prozent. Genau umgekehrt verhielt es sich mit dem Anteil der minderjährigen Teenager, die bereits verheiratet waren: 100 Prozent.
Unterrichtsmethoden aus dem 18. Jahrhundert
Paritewadi liegt im Tribal Belt im äussersten Südosten des Bundesstaats Maharashtra. Die Einwohner gehören einem Nomadenstamm aus dem benachbarten Karnataka an und waren hier sesshaft geworden. Sie sprachen einen Dialekt von Kannada, einer drawidischen Sprache, in Schrift und Struktur dem lokalen Marathi sehr unähnlich.
Die Lehrer unterrichteten jedoch in Marathi, der Sprache, in denen die Schulbücher abgefasst waren. Dazu kamen ein veraltetes Curriculum und Lerninhalte, die mit der Lebenswelt der Kinder wenig zu tun hatten. „Schüler aus dem 21.Jahrhundert werden von einem Lehrer aus dem 20. Jahrhundert unterrichtet“, sollte er später sagen, „mit Lerninhalten aus dem 19. und Unterrichtsmethoden aus dem 18. Jahrhundert.“
Das Vertrauen der Eltern gewinnen
Ausserordentliche Umstände verlangen ausserordentliche Antworten, wird sich Disale gesagt haben, als er mit seiner Arbeit begann. Als Erstes lernte er Kannada reden und schreiben. Und statt den ganzen Tag in leeren Klassenzimmer auf seine Schülerinnen zu warten, verbrachte er ihn mit den Erwachsenen, also den Eltern seiner Phantom-Schüler.
Er ging auf die Felder, half gelegentlich mit bei der Ernte, hing am Abend auf dem Dorfplatz herum, wo die Männer beim Dorfschwatz sassen, sprach mit den Frauen, die vor dem Ziehbrunnen warteten, bis sie an der Reihe waren, besuchte die Dorfversammlungen. Ranjiitsinh wollte das Vertrauen der Eltern gewinnen. Später würde er mit ihnen über Schulbildung diskutieren, was für die meisten eine Verschwendung von Kinderenergie war, die im Hauhalt und auf dem Feld nützlicher eingesetzt würde.
Doch um die Kinder in die Schule zu locken, genügte ein schulterzuckendes Ja des Vaters nicht. Er musste ihre tiefsitzende Vorstellung eines bizarren nutzlosen Rituals verändern. Statt Schulunterricht zeigte er Videos – Filme und Songs mit einer unterschwelligen Botschaft, physikalische Experimente und lustige Tricks.
Eine revolutionäre Idee
Der frischgebackene Lehrer hatte ja auch ein abgebrochenes Ingenieur-Studium hinter sich – Ranjitsinh hatte es aufgegeben, weil er gehänselt wurde, vermutlich wegen seiner (tiefen) Kaste. Da er inzwischen Kannada schreiben und lesen konnte, ging er daran, die Textbücher zu übersetzen.
Es war diese Arbeit, die ihn dazu bewog, die Lerninhalte anders hinüberzubringen – spannend, unterhaltend und, vor allem so, dass sie auch zu Hause gelesen und studiert werden konnten. Über ein staatliches Förderprogramm beschaffte er sich einfache Laptop-Computer für die Kinder, später sogar Handys. Zuerst lud er den Lehrstoff von seinem Computer auf jeden anderen auf
Dann hatte er eine revolutionäre Idee: Er stattete die neuen Textbücher mit QR-Codes aus. Nun hatten die Kinder plötzlich Zugang zu grossen Mengen von Daten, zu didaktischen Spielen und Experimenten. Aber auch inspirierende Stories hatte er gespeichert, über Mädchen etwa, die dank Schulbildung einen Beruf erlernt hatten – eine alternative Welt zu jener, die sie kannten und die vom Kindsein direkt zur Mutterschaft überging.
Ranjitsinh war klug genug, das gewonnene Vertrauen der Eltern nicht zu verspielen und damit einen Graben zwischen Kindern und Erwachsenen aufzureissen. Er lud die Eltern ein, sich ebenfalls mit dem Internet vertraut zu machen. Er organisierte Kurse mit Videos über alternative Methoden des Landbaus, über Experimente zur sparsamen Bewässerung, Wetterprognosen, einfacher Buchführung.
Die Ausbreitung des QR-Codes
Es konnte nicht ausbleiben, dass sich die Tätigkeit des neuen Lehrers von Paritewadi herumsprach, zuerst in den Dörfern der Umgebung, dann in Solapur, dem Distrikthauptort. Besonders die Einführung des QR-Codes in den Textbüchern erregte Aufsehen. Es dauerte nicht lange, bis die Kunde davon auch Mumbai erreichte, und bald einmal Delhi. Heute sind die kleinen Quadrat-Labyrinthe in allen Textbüchern der Primarstufe von Maharashtra zu finden, und in Kürze werden sie es landesweit sein.
Die Kunde verbreitete sich auch im benachbarten Ausland, in Pakistan und Bangladesch. Ranjitsinh wurde zu einer kleinen Internet-Sensation. Und er verdankt dies nicht nur seinen Methoden, sondern auch der bescheidenen und selbstlosen Art, wie er sie jedermann zur Verfügung stellte.
Videos über die erstaunliche Transformation eines kleinen staubigen Dorfs in einer der ärmsten Regionen des Landes machten die Runde: eine hundertprozentige Einschulungsquote, null Prozent Drop-out-Rate, und besonders wichtig: In den letzten fünf Jahren wurde in Paritewadi keine einzige Kinderhochzeit mehr gefeiert.
„Let’s Coss the Borders!“
Gerade im Kontakt mit Schulen in Pakistan wurde Ranjitsinh auch mit den Hürden konfrontiert, die in den Köpfen vieler Schüler zuerst beseitigt werden mussten. Die Erfahrung bewog ihn, den Bildungs- und Erfahrungshunger einer neuen Generation zu nutzen. Sie sollten ihr den Blick für die politischen Gräben überall auf der Welt schärfen – und überwinden helfen.
Er lancierte eine Kampagne, die er „Let’s Cross the Borders“ nannte. Das Ziel: Studenten auf beiden Seiten einer verfeindeten Grenze – Indien/Pakistan, Nord-/Südkorea, Palästina/Israel, Iran/Irak – miteinander zu vernetzen. Jedes Schülerpaar war aufgerufen, ein gemeinsames Projekt zu erarbeiten, das sie dann in ihren Schulen präsentierten. Die Projektideen werden zudem über eine eigene Webseite weltweit gestreut und sollen neue anregen. Bis heute haben knapp 20’000 Schüler solche Paarungen geknüpft.
Krönung am 3. Dezember
Die Anerkennung für diese Initiativen liess nicht auf sich warten. Nach Maharashtra hat ihn auch die indische Regierung geehrt, und er fand sogar Erwähnung in einem Buch von Satya Nadella, dem CEO von Microsoft.
Die bisherige Krönung kam am 3. Dezember, als der jährliche Best Teacher Prize vergeben wurde. Dank UNESCO-Sponsoring und einer Million Dollar als Preisgeld hat dieser inzwischen eine globale Ausstrahlung erreicht. Ranjitsinh Disale hatte sich auf Drängen einer befreundeten Lehrerin bereits zum zweiten Mal darum beworben. Bei einer früheren Preisvergabe war er über die komplizierten Bewerbungsformalitäten gestrauchelt. Diesmal kam er ins Finale der besten zehn Lehrer.
Er sass zwischen seinen Eltern in der einfachen Behausung in Paritewadi vor dem Zoom-Bildschirm, als der Schauspieler und Bühnenautor Stephen Fry, mit Frack und Fliege, in London auf die Bühne trat. Hinter ihm waren zehn grosse Bildschirme auf eine Riesenwand projiziert, auf denen die Kandidaten zugeschaltet waren. Kaum hatte Fry den Namen aus dem Umschlag geholt und vorgelesen, zoomten die Kameras auf den Bildschirm von Ranjitsinh und seiner Eltern. Sie waren vor Freude aufgesprungen und lagen sich in den Armen.
Botschaft vom Dalai Lama
War es nur die Kreativität eines armen Volksschullehrers, die ihm diesmal half, 12’000 Bewerber aus 140 Ländern in die Ränge zu verweisen? Vielleicht hatte auch seine Antwort auf eine Frage im Bewerbungsformular geholfen. Was er im Fall eines Siegs mit dem Geld anfangen würde, lautete sie. Die Antwort: Die Hälfte würde er unter den anderen neun Finalisten verteilen, dreissig Prozent würde in einen Teacher Innovation Fund fliessen, den er gegründet hatte. Die restlichen zwanzig Prozent würden seinem Friedensprojekt zugutekommen.
Sogar der Dalai Lama war beeindruckt. Aus seinem Refugium im indischen Himalaya schrieb er dem Dorfschullehrer: „Your work to ensure that disadvantaged girls go to school, as well as your efforts to prepare study materials for them in their own language, the online science lessons you offer pupils in 83 countries and your project building connections between young people in conflict zones are all vivid examples of compassion in action.“