Der Westen brannte darauf, dem ungeliebten Grossen Bruder aus Fernost das liebenswerte, demokratische Indien vor die Nase setzen. Denn dieses schien endlich die Kurve in den Griff zu bekommen. Deren enger Radius hatte das Land in der Vergangenheit immer wieder ins Schlittern gebracht. Entweder stand es mit dem Totgewicht seiner Bürokratie auf der Bremse und verfehlte das nötige Wachstum, um aus der Armut zu finden. Oder aber die Regierung gab Fahrt und riskierte vom Wähler aus der Kurve – und dem Steuersitz – geschleudert zu werden.
Die erste Rechtsregierung im neuen Jahrhundert hatte ‚India Shining‘ hervorgekehrt. Angefeuert vom Erfolg der IT-Industrie war die Werbekampagne so erfolgreich, dass die halbe Welt meinte, Indien habe der Armut den Rücken gekehrt. Dann kam der Kongress an die Macht zurück (2004-2009) und korrigierte das Bild: Der ‚gewöhnliche Inder‘ wurde zum Referenzpunkt, und er war immer noch arm. Mit einem Füllhorn von Armutsprogrammen sollte die Sonne der Prosperität auch auf ihn herunterscheinen.
Trümmerhaufen
2009 gab der Wähler dem Kongress ein zweites Mal die Chance, die beiden Eckpunkte der indischen Politik – Armutsbekämpfung und Wachstum – zu vermählen. Neue Sozialgesetze und Armutsprogramme sollten einhergehen mit einem Reformschub, der das nötige Geld dafür locker machte. Er würde das Land vor einer Schuldenspirale bewahren, die beides – Wachstum und Armutsbekämpfung – aufs Spiel setzen könnte. Und wer konnte den Spagat besser meistern als Manmohan Singh, ein Entwicklungsökonom par excellence und zudem der Reformer der ersten Stunde?
Vergangene Woche passierten der Kongress und seine Allianzpartner die Zweidrittel-Wegmarke ihrer fünfjährigen Amtszeit – und sie stehen vor einem Trümmerhaufen. Premierminister Singh steht einer Regierung Gevatter, die wie keine zweite von Korruptionsskandalen erschüttert wurde. Statt das fast ‚chinesisch‘ hohe Wachstum von 9% zu verstetigen, fiel es Jahr um Jahr zurück und erreichte im letzten Quartal 2011/12 noch 5.9%. Die anderen Indikatoren lassen befürchten, dass es bald noch schlimmer kommen wird, selbst wenn Euro- und Irankrise glimpflich verlaufen sollten: die Industrieproduktion zeigt ein negatives Wachstum, die Inflation liegt hartnäckig im zweistelligen Bereich, die Handels- und Leistungsbilanz ist tief in den roten Zahlen, das Staatsdefizit doppelt so hoch als es sein sollte. Und die Subventionen erreichen neue Spitzenwerte, nicht nur bei den Armutsprogrammen, auch die Benzinpreise, klassische Mittelklasse-Pfründen, werden weiterhin ‚gestützt‘, laut Indikatoren im Umfang von 9 Mia.$.
Ansammlung alter Männer
Was ist geschehen? Die Regierung, die 2009 antrat, war eine müde und verbrauchte Ansammlung alter Männer. Die Hälfte des Kabinetts ist siebzig und älter. Der Verteidigungsminister ist 71, der Finanzminister 77, Aussenminister Krishna ist Achtzig und Manmohan Singh steht kurz davor. Dies in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung 25 und jünger ist. Natürlich sitzen auch junge Politiker in der Regierung. Aber sie halten sich zurück, um dem jungen Kronprinzen Rahul Gandhi auf seinem Weg zur Macht ja nicht vor der Sonne zu stehen.
Dieser schlägt sich mit Verve in die Dörfer und Wahlkämpfe, kassiert aber Niederlage um Niederlage. Im Parlament glänzt er durch Abwesenheit, es sei denn, er macht plötzlich eine dramatische Ankündigung, bevor er wieder abtaucht. Manmohan Singh, scheu und willfährig, hält sich zurück, kassiert Beschimpfungen, während seine Minister zu Parteipräsidentin Sonia Gandhi schielen. Er ist schliesslich Premierminister von ihren Gnaden. Aber auch Gandhi, Indiens mächtigste Politikerin, regiert per Komitee und Emissäre, hüllt sich in vielsagendes Schweigen, immer noch verunsichert vom Stigma ihrer ausländischen Geburt. Die regionalen Koalitionsparteien lassen derweil keine Gelegenheit aus, ihren Seniorpartner zu schröpfen.
Endloses Palaver
Die Politik hat sich in die Verwaltung des Status Quo zurückgezogen, statt zu führen. Wütend ob seiner Impotenz schlägt der Staat auf die Schwächsten ein, um sein Mütchen zu kühlen. Kleine NGOs werden aus dem Verkehr gezogen, weil sie gegen Atomkraftwerke mobilisieren; Polizei-Offiziere, die liberale Sympathisanten der Maoisten foltern, erhalten aus der Hand der Präsidentin Ehrenmedaillen ans Revers geknöpft. Der Finanzminister, verzweifelt, versucht, die Löcher in seinem Budget zu stopfen, greift auf Ladenhüter der sozialistischen Ära zurück, um per Dekret neue Einnahmen ‚zusammenzukehren‘.
Dies hat nun auch das Ausland aufgeschreckt. Bisher wurde die Kritik der indischen Privatindustrie überlassen: Blockierte Infrastrukturprojekte; Investitionshürden im Einzelhandel, bei Versicherungen und Banken; ein endloses Palaver über die Einführung der Mehrwertsteuer; Milliarden, die in Prestigeobjekte wie Air India hineingebuttert werden: All dies gehört schon lange zum Klagelied der Industrieverbände.
Gewaltenteilung in Frage gestellt
Nun hat Finanzminister Mukherjee im jüngsten Budget auch die Auslandsinvestoren herausgefordert. Auf der verzweifelten Suche nach Steuereinnahmen wurde er bei Vodafone fündig, dem zweitgrössten Mobilfunk-Betreiber des Landes. Dieser hatte vor sechs Jahren über eine Holdingfirma in Holland die Aktienmehrheit des Konkurrenten Hutchison-Essar gekauft, die die Hongkong-Firma auf den Cayman-Inseln parkiert hatte. Prompt wurde Vodafone mit einer Steuerforderung von 2 Mia.$ belegt. Vodafone legte Berufung ein, und das Oberste Gericht gab der Firma recht: Das indische Gesetz erlaubt dem Staat nicht, Steuern zu erheben, wenn zwei ausländische Gesellschaften ausserhalb Indiens eine kommerzielle Transaktion abwickeln. Die Ohrfeige weckte im Finanzminister die Instinkte der alten Kommando-Wirtschaft. Er kündigte eine Gesetzesänderung an, die Lücke wurde geschlossen und zwar retrospektiv (bis 1964). Es hagelte Proteste aus dem Aus- und Inland. Indien durchlöchere mit diesem Brachialakt die Verlässlichkeit seiner Gesetze, es setze die demokratische Gewaltenteilung in Frage und schwäche damit die Justiz als Institution. Darauf Mukherjee, kurz und bündig: Das Parlament hat den Auftrag, Recht zu schaffen – die Gerichte nur jenes, es zu interpretieren.
Die Rupie verliert zehn Prozent
Plötzlich hat die Stimmung umgeschlagen - zurecht, denn die Rechtssicherheit war bisher eine der Trumpfkarten gegen China im Wettstreit um Auslandskapital. Die Rating-Agenturen, diese Verkehrshüter der internationalen Kapitalflüsse, kündigten eine Tieferbewertung des Währungsrisikos an. Die Devisenmärkte folgten, und seit zwei Wochen wird die Rupie gnadenlos heruntergehämmert und verlor in kurzer Zeit zehn Prozent gegen den Dollar.
Allerdings: eine griechische Tragödie wird Indien erspart bleiben. Denn so irrational die Euphorie über das indische Wirtschaftswunder gewesen war, so falsch wäre nun ein Vergleich mit der Euro-Krise. Indien wird weiterhin um über 5% wachsen, der Binnenmarkt ist riesig, der Investitionsbedarf ist enorm, und die endemische Armut ist auch eine Triebfeder, ihr zu entfliehen. Viel wahrscheinlicher ist also, dass das Mahabharata, Indiens klassisches Epos, den Skript liefern wird. Dort verwüstet die Fehde zwischen verschwägerten Fürsten-Clans das reiche Land. Auch heute blockiert sich das politische System in einem Exzess an parteipolitischen und sozialen Ausmarchungen. Die Regierung wird zu einer Verteilmaschine, um die nächste Wahlhürde zu nehmen. Statt gemeinsam am demokratischen Strick zu ziehen, binden sich die Politiker damit Schlingen um den Hals.