Der Wahlsieg zeichnete sich schon früh ab, und er kam in massiver Dosierung. Die TV-Kommentatoren griffen nervös in die Metaphernkiste – eine Welle sei im Anrollen, ein Sturm, ein Orkan. Die Zahl gewonnener BJP-Sitze stieg und stieg, jene der Kongress-Allianz brach ein, fand keine Talsohle. Noch stärkere Worte waren gefragt: ein Erdrutschsieg, ein Erdbeben, ein tektonischer Schub. Bis endlich ein Tweet das ersehnte mot juste fand: TsuNaMo.
Man hatte Erbarmen mit den Neuigkeits-Einpeitschern. Was sich am Freitag, beim elektronischen Zählen der 541 Millionen Wahlstimmen in Indien abzeichnete, war ein Resultat, das in diesem Ausmass niemand vorausgesehen hatte. Es passte zum Anlass. Indiens 16. Parlamentswahl war mit 814 Millionen Wählern der grösste Urnengang in der Geschichte der Menschheit, und so gehörte es sich, dass sie noch weitere Rekorde setzte: Zum ersten Mal gewann eine Partei die Parlamentsmehrheit, die nicht ‚Kongresspartei‘ heisst (282 von 543 Sitzen); diese erlitt handkehrum ihre grösste Niederlage (44 Mandate); und dies ausgerechnet mit der historisch besten Wählerbeteiligung (67 Prozent).
Keine Koalitionsfesseln
Insofern haben sich die tektonischen Platten der indischen Politik tatsächlich verschoben. Nach 65 Jahren Politik links-von-der-Mitte kommt mit der Indischen Volkspartei BJP eine Rechtsregierung zum Zug, die ihre Ideologie auf der Stirne trägt. Sie ist national-religiös eingefärbt, sie setzt auf Macht, Grösse, Wachstum, saubere Regierungsführung, einen schlanken Staat. Latente Zielkonflikte, etwa zwischen dem Bekenntnis zum Markt und jenem zu Religion und Nation, können später auseinanderdividiert werden. Vorläufig wird weiterhin Kuhfleisch exportiert, und da dafür unterkastige Büffel geschlachtet werden statt der brahmanischen heiligen Kuh, ist das auch nicht weiter schlimm.
Mit 336 von 543 Sitzen stehen der neuen Regierung keine Koalitionsfesseln im Weg, auch wenn die BJP mit kleinen Partnern eine Allianz eingegangen ist. Diese hat aber nun eine fast dekorative Funktion, nachdem die Partei wider Erwarten für sich allein eine Mehrheit errungen hat. Die Regierung wird sich nicht mehr hinter dieser Zwangsarithmetik verstecken können, schon gar nicht Narendra Modi, der Vater des Grossen Vaterländischen Siegs. Er hatte diesen Wahlkampf geplant und organisiert, er hatte ihn mit 300‘000 zurückgelegten Flugkilometern und 437 grossen Rallyes praktisch allein bestritten. Respekt und Macht, die er sich mit dem Sieg gesichert hat, will und muss er nun auch ausspielen.
Namo und Shiva
Beides, Respekt und Macht, ist seit Freitag ohrenbetäubend und augenblendend präsent. Wo immer ‚NaMo‘ aus einer Tür tritt oder aus einem Auto steigt, kommt es zu tumultartigen Szenen, die Sprechhöre lassen nicht ab, die Fernsehstationen essen ihm aus der Hand, überall lauert ein in Orange gehüllter Pandit mit Räucherstäbchen und Öllämpchen. Allerdings: Trotz Anhimmelung bleibt Modi auf dem Boden. Er weiss die Masse mit seiner ritualisierten Bedächtigkeit zu kontrollieren, genauso wie er mit seiner Rhetorik die Gefühlausbrüche und Ungeduld seiner Millionen Zuschauer auf- und abdrehen kann.
Ein beliebtes Mittel ist sein rhetorischer Trick, von sich in dritter Person zu sprechen. Er tat es im Wahlkampf, er tut es nun in den Siegesparaden. Als stehe lediglich die Verkörperung eines mythischen Über-Ichs vor der Menge, nennt sich auch Modi ‚NaMo‘, die tausendfach skandierten zwei ersten Namenssilben zum Slogan komprimiert. Es kümmert ihn kaum, dass Hindu-Hohepriester dagegen protestiert haben, da ‚Namo‘ doch ein Ausdruck für Gott Shiva sei.
Ein hungriger Magen hat keine Religion
Stammte nicht auch Shiva aus einer tiefen Kaste? Wie er, der Junge, der auf dem Provinzbahnhof Tee ausschenkte? Auch von diesem redete Modi in der dritten Person. Die Trope der Armut, der Tiefkastigkeit ist eine wunde Stelle in der kollektiven Psyche der Nation. Sie liess sich im Wahlkampf gezielt nutzen: Der kleine ‚Chaiwallah‘ Narendra, Symbol der Unberührbaren, der Kastengrenzen durchbricht und es zum Premierminister schafft; durch den (sagte er am Samstag in Varanasi) „Mutter Ganges fliesst, die Manifestation eines spirituellen Stroms“.
Seine rhetorische Kontrolle der Zuhörermengen erlaubte es Modi im Wahlkampf, selbst die schwärende Wunde der Hindu-Muslim-Beziehungen anzusprechen. In Bihar fragte er das Publikum, warum sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, wenn sie doch einen gemeinsamen Feind haben – die Armut: „Eine Kartoffel und eine Zwiebel kennen keine Kasten. Ein hungriger Magen hat keine Religion“. Die erste Reaktion Modis auf seinen Sieg war ein Tweet, überraschend in seiner Bescheidenheit: ‚Indien hat gewonnen‘. Triumphiert die Idee der Nation aller Bürger also doch über die Religion ihrer grossen Mehrheit?
Die Jungwähler wollen Jobs
Gewiss, sagen Millionen von BJP-Wählern quer durch alle Schichten und Kasten. Seine konzilianten Statements haben ihn von der letzten Spur eines Muslimhassers befreit. Für die 150 Milllionen Jungwähler, die diesmal zum ersten Mal an die Urnen gingen, liegen die Pogrome von 2002 ohnehin in vorzeitlicher Distanz. Sie wollen einen Führer, der ihnen Jobs bringt, und eine Projektionsfläche für eine nationale Identität, auf die sie stolz sein können. Es war dieses Doppelpack von Eintreiber und Landesvater, das ihm den Wahlsieg sicherstellte.
Nun, da NaMo gewonnen hat, muss er den Tatbeweis liefern – Jobs, Industrie-Investitionen, gedrosselte Teuerung. Und er muss dies auch gegenüber den Minderheiten tun. Die jungen Muslime auf der Suche nach Arbeit und Sicherheit gehören der ärmsten Gesellschaftsschicht Indiens an; mit 12 Prozent Bevölkerungsanteil trägt diese weniger als 5 Prozent zum nationalen Wirtschaftsprodukt bei. Doch im neuen Parlament werden nur 22 muslimische Politiker Platz nehmen, ganze vier Prozent aller Abgeordneten. Auch dies ist ein historischer (Negativ-) Rekord. Die BJP, die ‚Nationale Volkspartei‘, hatte keinen einzigen Muslim als Kandidaten nominiert.
31 Prozent ergeben 60 Prozent
Das Gespenst einer ‚majoritären Demokratie‘, die die Minderheiten mit dem Argument der demografischen Mehrheit erdrückt, ist mit dem überwältigenden Wahlsieg gewachsen. Man kann nur hoffen, dass Modi nicht in Hybris verfällt und diese Bulldozer-Mehrheit einseitig einsetzt. Denn sie steht auf einem relativ dünnen plebiszitären Fundament, dank der Verzerrung des Wählerwillens durch das Majorz-System.
Indiens 16. Urnengang hat ein weiteres Mal gezeigt, dass in diesem Wahlsystem jener, der die Nase vorn hat, mit einer Minderheit der Stimmen alles gewinnen kann. 31 Prozent der Stimmen (und 21% aller Stimmbürger) genügten der BJP, um eine satte Mehrheit von 60 Prozent der Sitze zu erreichen. Der Kongress dagegen gewann, mit 20% der Stimmen, nur acht Prozent der Mandate. Noch schlimmer erging es der Dalit-Partei BSP, der stimmenmässig drittgrössten Partei Indiens: Sie gewann keinen einzigen Parlamentssitz, trotz dreissig Millionen Wählern.
BJP-Sympathisanten werden solche Relativierungen als statistisches Querulantentum abtun, das dem siegreichen NaMo seinen Tsunami missgönnt. Doch es geht hier nicht darum, Abstriche zu machen an der Legitimität des BJP-Siegs. Es ist lediglich eine Warnung, dass Majorz-Gewinne schon bei der nächsten Wahl in Erdrutschniederlagen münden können, weil beides, Sieg und Niederlage, den Wählerwillen viel weniger ehrlich spiegeln als etwa das Proporzsystem. Und was das Traumwort ‚TsuNaMo‘ angeht: ein Tsunami verursacht in erster Linie Verwüstungen; und für viele Bürger dieses Landes weckt ‚Namo‘ mit Shiva auch die dunkle Assoziation des Gotts der Zerstörung.