Good News aus Indien. Sie sind dieser Tage nicht eben alltäglich, umso wichtiger daher die Pflicht, sie festzuhalten; gerade wenn die Nachricht zu jenen gehört, die man kurz vor dem Umblättern gerade noch flüchtig streift. Denn es geht um eine Impfkampagne gegen Kinderlähmung, etwas, das Leser in Europa längst abgehakt haben.
Doch wenn die Neuigkeit Indien betrifft, und sie dazu noch gut ist, ist sie es wohl wert, gehört zu werden. Indien ist das Land, in denen das Poliomyelitis-Virus bis vor einigen Jahrzehnten noch 250‘000 Kinder pro Jahr befallen hat, mit der bekannten Verkümmerung, Verzerrung und Lähmung der Gliedmassen – und manchmal dem Tod.
Seuchenfrei
Vorige Woche konnte die Regierung stolz verkünden, dass die Seuche ausgerottet ist. Am 13. Januar waren es drei Jahre her, dass bei einem Kleinkind in einem bengalischen Dorf das Virus festgestellt wurde. Seitdem ist kein neuer Krankheitsfall mehr aufgetaucht. Damit kann die UNO-Weltgesundheitsorganisation das Land seuchenfrei erklären.
Bereits 1978 hatte sich Indien verpflichtet, Polio zusammen mit fünf oft tödlichen Kinderkrankheiten – TB, Masern, Diphtherie, Starrkrampf, Keuchhusten – in zehn Jahren auszurotten; es verpasste das Ziel um Längen. Auch die Vorgabe der WHO für das folgende Jahrzehnt, Polio bis zum Jahr 2000 auszurotten, konnte Indien nicht einhalten. Damit war die globale Kampagne ein Misserfolg, denn Indien zählte rund die Hälfte aller Krankheitsfälle.
Oral
Doch die Regierung gab nicht auf. Die Erkrankungen gingen signifikant zurück, von 1600 auf 66 im Jahr 2005, ein Ansporn zum Durchhalten. Doch plötzlich tauchte 2006 eine neue Variante des Virus auf, und die Zahl stieg wieder, bis auf 741 im Jahr 2009, damals ein Weltrekord. Die Regierung wollte aufgeben. Nur dank starkem Druck aus Politik und Wissenschaft bequemte sich die Regierung zum Weitermachen.
Indien hatte damals bereits 172 Millionen Kinder geimpft. Diese Zahl allein zeigt, was für eine unmögliche Herausforderung es angenommen hatte. Man könnte auch die Zahl des Impfpersonals nennen: 2.3 Millionen; oder jene der besuchten Haushalte: 225 Millionen. Denn der Impfstoff, für den sich Indien entschieden hatte, heisst ‚OPV‘, und das ‚O‘ bedeutet ‚oral‘. Statt einer Injektion wie bei dem im Westen erfolgreichen IPV-Impfstoff hatte sich das Land für Tropfen entschieden, eine einfachere und sicherere Impfmethode. Aber OPV enthält einen anderen Wirkstoff als IPV – das ‚Sabin‘-Virus –, deshalb müssen die Tropfen dreimal, und in kurzen Abständen, abgegeben werden.
Logistischer Albtraum
Multipliziert man diesen einfachen Akt um zwanzig Millionen - das Jahres-Soll der Kampagne – , dann ahnt man, was für ein logistischer Albtraum dies bedeutet. Nur schon der Aufbau einer Kühlkette, die bis in die kleinsten Dörfer reicht, schien schier unmöglich. Indien hat 630‘000 Dörfer, ein Drittel davon zählt weniger als 500 Einwohner; was bedeutet, dass dort wahrscheinlich keine Strasse und kein Stromkabel hinführen. Es mussten also Batteriesets entwickelt werden.
Die nächste Krankheitsstation ist oft kilometerweit entfernt; eine Zumutung für Analphabeten, die mit präventiver Gesundheitspflege nichts anfangen können. Es bedurfte also ausgebildeter Personen, die jede der 225 Millionen Haushalte besuchten, und dies mehrmals, in den richtigen Zeitabständen und innerhalb der Halbwertzeit der Impflösung. Dann das Sammeln der Stuhlproben, in hunderttausenden Behältern, die an eines der 148 Polio-Laboratorien gebracht wurden, jeweils zwei Proben innert zwei Wochen.
Indien, der weltweit grösste Hersteller von Impfstoffen
Zudem bedeutet Armut ja nicht nur schlechte Infrastruktur und mangelnde Schulbildung, sondern häufig Arbeitsmangel. Indien hat laut der letzten Volkszählung 400 Millionen Binnenmigranten auf Arbeitssuche. Die Impfteams mussten also auf Baustellen gehen, auf Ziegeleien und Lastwagen-Rastplätze, Zeltlager für Erntearbeiter, Bahnhöfe und Bushaltestellen. Manchmal waren die Leute weitergezogen, bevor die zweite oder dritte Tropfenabgabe durchgeführt werden konnte.
Zudem gab es immer wieder Rückenschüsse von Politikern und Lobbyisten. Als sich Indien das Ziel der Ausrottung vorgab, besass es eine einzige grosse Impfstoff-Firma, das privatwirtschaftliche ‚Serum Institute‘ in Pune. Gegen den Widerstand der Import-Lobby legte der damalige Premierminister Rajiv Gandhi die Grundlagen für den Aufbau einer Impfstoff-Industrie, um die hohen Kosten der Importe nicht zu einem Verzögerungsfaktor der Kampagne zu machen. Heute ist Indien der weltweit grösste Hersteller von Impfstoffen, mit 40% der globalen Produktion.
Mangelnde Hygiene, Mangelernährung
Es ist verständlich, dass der Erfolg der Polio-Ausrottung letzte Woche gebührend gefeiert wurde. Auch die WHO atmet erleichtert auf – Indien wird damit nächstes Jahr zumindest mit einem der ‚Millenium Development Goals‘ ins Ziel kommen. Die anderen bleiben in weiter Ferne. Der ‚Indian Express‘ zitierte eine Studie der UNICEF, wonach jedes Jahr immer noch 1.4 Millionen indische Kinder an den Folgen von einer der fünf anderen (impfwirksamen) Erkrankungen sterben; selbst Masern forderten noch 2011 56‘000 Opfer.
Das Gesamtbild sieht daher nach wie vor wenig rosig aus, umso mehr als die beiden grössten Gefahrenherde – mangelnde Hygiene und Mangelernährung – unverändert katastrophal sind. Es ist dieses Gesamtbild, das im Jubelchor vereinzelt auch kritische Stimmen laut werden liess. Was für die Einen ein menschheitsgeschichtliches Übel entfernte, war für Andere eine fragwürdige Monopolisierung knapper Ressourcen, die in anderen wichtigen Bereichen der Gesundheitspflege fehlen.
„Impfen macht zeugungsunfähig“
Ich erlebte dies, als ich letztes Jahr für die Volkart-Stiftung in einem Rückzugsgebiet der Adivasis (Ureinwohner) im Bezirk Thane unterwegs war. Das lokale Hilfspersonal, die sogenannten ASHA-Pflegerinnen, war zur Hälfte seiner Arbeitszeit für die Unterstützung der Polio-Impf-Teams abkommandiert worden, namentlich für die korrekte Registrierung der Kinder und Mütter. Die andere Arbeit, etwa die regulären Impfprogramme (in diesem Fall waren es Röteln), mussten sie vernachlässigen.
Die Arbeit ist noch nicht zu Ende. Mehrere Länder verzeichneten in der Vergangenheit Rückfälle wegen eingeschleppter Viren. Sowohl Pakistan wie Nepal haben den Erreger noch nicht ausgerottet. Seit zwei Jahren sind an jedem Grenzübergang Impfteams stationiert, mit der Aufgabe, jedem Kind unter fünf Jahren eine Dosis zu verabreichen. Reiseweg und -ziel wird im Computer festgehalten, damit das Kind nicht mehr aus den Augen verloren wird.
Gerade Pakistan ist ein Sorgenherd. Dort sind seit drei Jahren zahlreiche Impfpersonen von den Taliban erschossen worden. Es ist die Rache dafür, dass ein pakistanischer Arzt sich (ohne sein Wissen) von der CIA für die Suche nach Osama bin Laden hatte einspannen lassen; er hatte früher einmal bei der WHO gearbeitet. Die Islamisten verbreiten in der Bevölkerung zudem das Gerücht, die Impf-Kampagne sei ein amerikanisches Komplott; die Tropfen machten die Kinder zeugungs- und gebärunfähig, mit dem Ziel, Bevölkerungswachstum der Muslime zu stoppen. Bei derartigen Wahnvorstellungen ist nicht auszuschliessen, dass sie auch dafür sorgen könnten, die Viren als Waffe gegen den Erzfeind Indien einzusetzen.