Diese Fatwa machte den Autor zum welteit Gejagten, und das Sicherheitsdispositiv dieser „Pestjahre“ schnürte ihn vom gesellschaftlichen Leben ab. Fast ein Vierteljahrhundert später wird Indien ein weiteres Mal auf seine demokratische und säkulare Haltung geprüft – und fällt wieder durch. Am Freitag verzichtete der Schriftsteller auf eine Teilnahme am Literatur-Festival von Jaipur und wird nicht in seine Heimat reisen. Das Exil dauert an.
Das ‚Jaipur Litfest‘ ist in den sechs Jahren seines Bestehens zu Asiens grösstem Publikumsmagnet für Literaturliebhaber geworden. Es zieht weltweit bekannte Schriftsteller an – dieses Jahr sind es 256 – die sich von den (täglich bis zu 12‘000) Besuchern locken lassen. Neben dieser demografischen Dividende, die William Dalrymple und Namita Gokhale anbieten, ist es auch die warme "Winter-Dividende", mit dem sie die frierenden Dichtern aus dem Westen ködern, angereichert mit dem Charme Rajasthans.
Regional gefärbtes Englisch
Der Erfolg Jaipurs lässt sich auch daran messen, dass über ein Dutzend Städte Südasiens ähnliche Bücherfeste eingerichtet haben – Bangalore und Hyderabad, Dhaka und Karachi, Thimphu und Mumbai, von Assam nach Kaschmir und Kerala. Und warum die Netze nicht noch weiter auswerfen? Zum Beispiel nach ... Zürich? Letzten Sommer waren zwei der Organisatoren in der Limmatstadt, um einen Versuchsballon steigen zu lassen. Es ist ein Literaturfest, und es ist ein Fest der englischen Sprache.
Zwar kommen auch anderssprachige Dichter nach Jaipur – diesmal ist aus der Schweiz Urs Widmer dabei – aber auch diese präsentieren sich in Übersetzung. Und es ist nicht nur Oxbridge-Akzent zu hören, sondern solche aus der ganzen anglophonen Welt. Indien allein hat inzwischen die Zahl der Englischsprecher in Grossbritannien überholt. Und statt sich zu schämen für seine Ausdrucksweise (oder selber darüber zu spotten), ist es nun stolz auf sein Inglish, Hinglish, Tamlish, Banglish und wie die Glossien alle heissen, in denen Sprecher regionaler Zungen ihre Sprechweise und syntaktischen Eigenarten ins Englisch einfliessen lassen.
Frühe Warnsignale
Was lag bei diesem literarischen Curryfest näher, als den Schriftsteller einzuladen, dessen "Midnight’s Children" vor dreissig Jahren das "Bombayya English" salonfähig gemacht hatte? Rushdie sollte ja nicht aus den (immer noch verbotenen) "Satanischen Versen" vorlesen, sondern Originelles über die "Chutneyfication" der Sprache Shakespeares zum Besten geben. Er war ja schon einmal, im Jahr 2007, dabeigewesen, und damals waren von den Minaretten keine Fatwas ertönt, ebensowenig wie die anderen drei Male, als er gekommen war, um seinen väterlichen Besitz zu regeln.
Diesmal hatte es allerdings bereits früh Warnsignale gegeben. Im letzten Sommer organisierte das Jaipur-Komitee Literaturtage in Srinagar, um jungen kaschmirischen Schriftstellern Gelegenheit zu geben, sich Gehör zu verschaffen. Bereits dies war kontrovers. Linke Schriftsteller, unter ihnen Arundhati Roy, fanden es "obszön", in einem Bundesstaat Literatur zu feiern, in dem eine "Besatzungsarmee" steht. Dann tauchte im Netz plötzlich das Gerücht auf, auch Rushdie sei eingeladen worden. Sofort war Feuer unterm Dach; es kam zu Strassenprotesten in Srinagar. Die Organisatoren beteuerten, nicht im entferntesten an eine Rushdie-Einladung gedacht zu haben. Aber sie mussten die Übung abbrechen.
So ging es auch diesmal, nur dass die Einladung diesmal real war. Im Gegenzug gaben sich auch die Rushdie-Gegner zu erkennen. Der Rektor des theologischen Seminars "Dar-ul Islam" in Deoband forderte von der Regierung ein Verbot der Einreise Rushdies. Er habe mit seinen "Satanischen Versen" den Islam in den Schmutz gezogen und die Gefühle der indischen Muslime verletzt. Darauf stehe Strafe.
Unschuldgeste statt Schutz
Das Seminar von Deoband ist nicht irgendeine Madrasse. Es ist die Geburtstätte einer theologischen Schule aus dem 19. Jahrhundert, die massgeblich radikale Strömungen in der islamischen Welt beeinflusst hat. Andere Gruppen machten sich den Anti-Rushdie-Slogan zu eigen. Protestdemonstrationen wurden angekündigt. Und in seiner Rücktrittserklärung erwähnte Rushdie sogar Berichte, wonach Auftragskiller aus der (von Muslimen dominierten) Unterwelt Bombays auf dem Weg nach Jaipur seien.
Persönlich zweifle er an der Richtigkeit dieser Gerüchte, fügte Rushdie hinzu. Was er nicht erwähnte, war die weitverbreitete Vermutung, dass die Regierung an den Gerüchten nicht ganz unschuldig war. Denn was hatte sie getan, als die neue Fatwa bekannt wurde? Nichts. Rushdie, hiess es, sei eine "Person of Indian Origin", brauche daher kein Einreisevisum. Die "Satanischen Verse" lägen 24 Jahre zurück, sie seien immer noch verboten, und Rushdie habe nicht die Absicht gehabt, daraus vorzulesen. Doch offiziell hielt sich Delhi bedeckt, ebenso wie die Kongress-Regierung in Rajasthan. Statt sich gegen die Drohungen zu verwahren, warnte sie die Organisatoren vor den drohenden Protesten. Statt seiner Schutzpflicht nachzukommen, wusch sich der Staat die Hände, und dies prophylaktisch.
Wenn der Mob droht ...
Der Grund für diese Haltung ist rasch gefunden. In den nächsten Wochen finden in fünf Bundesstaaten Legislaturwahlen statt. Wie immer überbieten sich die Parteien in Versprechen an grosse Wählergruppen, um ein paar Prozentpunkte und Sitze zu sammeln. Neben den Dalits sind die Muslime die bedeutendste Minderheit, die umworben werden. Die Kongresspartei ist bekannt dafür, dass sie sich der Muslime erinnert, wenn Wahlen anstehen. Dazwischen tut sie herzlich wenig für deren Wohl – was ja nur logisch ist. Was wäre, wenn die Gemeinschaft plötzlich nicht mehr auf politischen Beistand angewiesen wäre?
Sie würden nicht mehr als bedrängtes Kollektiv wählen – der Traum jeder Partei. Genauso haben die Muslim-Führer ein Interesse, mit Angstmache ihre Herde um sich zu scharen. Wer besser als Salman Rushdie, den anti-islamischen Wolf im Schafspelz des Schriftstellers? Und falls in Bombay so rasch keine Killer zur Hand sind, muss man sie eben erfinden. Aber mit dem Hinweis auf politischen Opportunismus kommt die "liberale" Kongresspartei zu gut weg. In den letzten Jahren hat sie immer wieder gezeigt, dass sie für Recht und Ordnung nicht einzustehen mag und die liberalen Prinzipien vergisst, wenn der Mob mit Gewalt droht.
Maqbool Husain, die "Eminence grise" der modernen indischen Kunst, starb letztes Jahr im Exil, weil die Kongressregierung schwieg, statt sich für ihn (und das Recht auf Ausdrucksfreiheit) in die Bresche zu schlagen, als er bedroht und mit Gerichtsklagen überschwemmt wurde. Die Schriftstellerin Taslima Nasreen wurde des Landes verwiesen, als Islamisten sie zum Freiwild erklärten. Und kürzlich forderte sogar der Erziehungsminister verschärfte Kontrollen des Internets, weil dort "blasphemische Karikaturen" – ein ominöses Wort – von Sonia Gandhi erschienen. Auch Salman Rushdie muss sich mit einem fremden Pass schützen, weil ihm sein eigenes Land nicht einmal den Schutz auf Leben gewährleisten mag – und schon gar nicht seine künstlerische Freiheit. Sollten Sie nächstens nach Indien reisen, legen Sie die "Satanischen Verse" besser nicht ins Gepäck.