Das Foto zeigt einen älteren Mann, der auf einer neuen Harley-Davidson sitzt, dicht umringt von lachenden Männern. Na und?, hätten die Millionen indischen Social Media-Nutzer fragen können, wäre da nicht die Bildlegende gewesen. Sie identifizierte den Mann als Indiens Obersten Richter.
Kein rechtliches Gehör
Dass Herr Bobde keinen Helm trug, mochte noch hingehen, es war schliesslich ein gestelltes Foto. Aber er trug keinen Mundschutz. Nur einen Tag zuvor hatte er für alle indischen Gerichte Mundschutz und einen Lockdown mit virtuellen Gerichtssitzungen angeordnet.
Weitere Details kamen zum Vorschein. Wie kam der Oberste Richter des Landes dazu, sich unters Volk zu mischen, wenn es doch langjährige Praxis ist, dass gerade die höhere Gerichtsbarkeit öffentliche Auftritte vermeidet? Und dann stellte sich heraus, dass das Motorrad einem BJP-Politiker gehörte.
Für Prashant Bhushan war das Mass voll. Er ist seit vielen Jahren Anwalt am Obersten Gericht, berühmt für seine vielen Pro-Bono-Interventionen zugunsten von politischen Gefangenen, Migranten oder armen Menschen, die wegen ihrer Kaste oder Religion – und fehlendem Geld – kein rechtliches Gehör finden.
Seit Jahren kämpft er für eine politisch neutrale Gerichtsbarkeit, kritisiert die Pfründenpolitik der Politiker, die ehemaligen Richtern schon vor ihrer Pensionierung mit lukrativen Posten winken. (Indische Richter sind der amtlichen Altersbegrenzung unterstellt; für das Oberste Gericht heisst dies, dass die meisten Richter nach einer langen Karriere nur noch Monate im Amt sind, bevor sie den Ruhestand antreten).
Das Zögern der Richter
In den Augen Bhushans hat diese Form von Korruption in den letzten Jahren, besonders in Narendra Modis Amtszeit, stark zugenommen. Das Verhalten von Chief Justice Bobde war nur ein Symptom für diese bröckelnden Feuermauern zwischen Politik und Justiz.
Er sieht im bisherigen Verhalten des Obersten Gerichts in politisch sensiblen Fällen den Beweis für diesen Verlust richterlicher Unabhängigkeit. Das eklatanteste Beispiel ist die konstitutionell zumindest fragwürdige Aberkennung des (glied-)staatlichen Sonderstatus von Kaschmir im August 2019.
Diese Verfassungsänderung wurde zwar vom Parlament rechtmässig mit einer Zweidrittelmehrheit sanktioniert, ohne Debatte. Bisher hatte das Oberste Gericht allerdings festgehalten, dass es fundamentale Verfassungsartikel gibt, die auch das Parlament nicht verändern darf. Ob die Aufhebung des Sonderstatus von Kaschmir ebenfalls dazugehört, ist zumindest umstritten. Deshalb wollten zahllose Petitionäre von den obersten Verfassungshütern eine Stellungnahme hören.
Doch bis heute – über ein Jahr lang – geschah nichts, ausser dass das Gericht ein Richtergremium gebildet hat, das sich mit dem Fall beschäftigt. Doch es sieht so aus, dass sie ein Urteil auf die lange Bank schieben und Modi vollendete Tatsachen schaffen kann. Weiterhin treffen praktisch identische Petitionen ein, und so verbergen sich die Richter hinter der Erklärung, diese zuerst zu sammeln, bevor sie Stellung beziehen. Dasselbe gilt für die Habeas-Corpus-Interpellationen von zahlreichen kaschmirischen Politikern, die ohne Anklage seit einem Jahr in Haft sind.
Schweigen
Auch hier scheint das Gericht Augen, Ohren und Mund zu verschliessen. Der Politiker Saifuddin Soz sei frei, behaupten die Staatsanwälte der Regierung vor den Richtern, als sich diese einmal die Mühe nahmen, eine Klage zu behandeln. Dabei hatte ihnen die Verteidigung einen Videofilm vorgeführt, in dem Soz die Mauer seines Anwesens übersteigt und auf der anderen Seite von der Polizei in Empfang genommen und abgeführt wird. Das Gericht schwieg.
Noch eklatanter war das Urteil im bald dreissigjährigen Gerichtsfall über die Zerstörung der Babar Moschee in Ayodhya durch Hindu-Aktivisten. Das Gericht sah darin einen schweren Rechtsbruch und liess den Prozess gegen die Rädelsführer – heute prominente BJP-Politiker – weiterlaufen. Dennoch urteilte es am Ende, die Muslime müssten im Interesse der religiösen Gefühle der Hindu-Mehrheit nachgeben und sprach ihr den alleinigen Besitz über das zerstörte Areal zu. So kann nun dort ein Ram-Tempel erbaut werden.
Sturm der Entrüstung
Ein weiterer Fall war die Änderung des Bürgerrechtsgesetzes. Zum ersten Mal in der Geschichte des säkularen indischen Staats wurde ein Paragraf eingeführt, der Personen aufgrund ihrer Religion – des Islam – als berechtigte Anwärter für das indische Bürgerrecht ausschloss. Intervenierten die obersten Verfassungshüter gegen diese eklatante Verletzung einer zentralen Verfassungsnorm? Nicht nur taten sie es nicht, der Gerichtspräsident Ranjan Gogoi persönlich trieb den Prozess voran, der in Assam Flüchtlinge aus Nachbarländern aufgrund dieses Kriteriums aussortieren sollte.
So sah sich Prashant Bhushan veranlasst, dem Harley-Davidson-Tweet einen zweiten folgen zu lassen. Wenn künftige Historiker einmal diese Periode von Indiens Geschichte studieren, so schrieb er, werden sie feststellen, dass die letzten vier, fünf Obersten Richter massgeblich zur Erosion von Indien als demokratischem Rechtsstaat beigetragen haben.
Das war zuviel für die durchlauchten Richter. Sie schoben die vielen tausend pendenten Verfahren zur Seite. Sie sahen in den Tweets nicht nur eine Beleidigung des Gerichts („Contempt of Court“), sondern eine noch schlimmere, „kriminelle“ Variante, die eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen würde. In Kürze, so erklärten sie Mitte August, werden sie das Strafmass bekanntgeben.
Doch nun brach ein Sturm der Entrüstung los. Zahlreiche Anwälte äusserten sich kritisch, Zeitungskommentare, soziale Medien, ehemalige Richter zogen mit einer Vehemenz ins Feld, die sie angesichts der Dünnhäutigkeit der Richter ins Gefängnis bringen müsste. Der Tenor lautete: Die Gerichte sind eine demokratische Institution. Sie müssen das Grundrecht der freien Meinungsäusserung respektieren.
Persönliche Intervention des Generalstaatsanwalts
Das dreiköpfige Richterkollegium bekam kalte Füsse, und verlangte von Bhushan zumindest eine Entschuldigung. Doch dieser fragte zurück, wie er sich guten Gewissens für etwas entschuldigen könne, von dem er überzeugt sei? Und er doppelte nach: Wenn er mit seinem Korruptionsvorwurf das Gericht beleidigt habe, müssten dann nicht die ehemaligen Richter ebenfalls ins Gefängnis wandern, die dasselbe gesagt hatten? Er verwies etwa auf eine ausserordentliche Pressekonferenz im Januar 2017, bei der vier Richter im Amt ähnliche Vorwürfe an den damaligen Gerichtspräsidenten gerichtet hatten.
Es kam noch besser. Der Generalstaatsanwalt meldete sich in einer persönlichen Intervention (und nicht als oberster Rechtsberater der Regierung) zu Wort. Er besitze Zeugnisse von neun ehemaligen Richtern, die Bhushans Vorwürfe bestätigten. Als er diese zu zitieren begann, unterbrach ihn der vorsitzende Richter mitten im Satz. Er wollte offensichtlich verhindern, dass diese offiziell protokolliert würden.
Der Generalstaatsanwalt wollte dem Gericht vermutlich eine Brücke bauen, damit sich dieses mit einer „Warnung“ an Bhushan aus der Schlinge ziehen kann, die es sich selber umgelegt hatte. Auch der Regierung kann nicht gleichgültig sein, wenn ihre Beeinflussung des Justizsystems ins Scheinwerferlicht gerät. Doch Bhushan war nicht bereit, dafür Hand zu bieten. Er zitierte Mahatma Gandhi, der bei einer ähnlichen Gelegenheit – Majestätsbeleidigung – einem britischen Richter gesagt hatte, er werde das Verdikt mit Freude annehmen und die Haftstrafe absitzen.
Das Gericht auf der Anklagebank
Plötzlich sitzt nicht mehr Bhushan, sondern das Gericht auf der Anklagebank der Öffentlichkeit, mit all den Flecken, die sich auf ihrem weissen Hemd angesammelt haben. Sein Mut hat nun auch vielen Menschen der Zivilgesellschaft, etwa den Anwaltsverbänden, den Mut gegeben, sich zu exponieren.
Es scheint sich ein Aufbruch anzukündigen. Den grossen Demonstrationen und Sit-ins im Dezember und Januar gegen das anti-muslimische Bürgerrechtsgesetz (CAA) hatte die Pandemie den Boden entzogen. Viele Leute sahen hilflos zu, als die Polizei die geschlossenen Gerichte nutzten, um zahlreiche Anti-CAA-Aktivisten zu verhaften.
In einer Travestie der Realität drehte die Polizei den Spiess um und klagte die CAA-Protestbewegung an, für die anti-muslimischen Ausschreitungen im Februar verantwortlich zu sein, bei der über 50 Menschen getötet wurden. Auch hier schaute das Oberste Gericht schweigend zu, trotz den zahlreichen Videos von Hindu-Politikern, in denen sie die Pogrome vorhersagen und dann bejubeln.
Neue Energie
Plötzlich kommt wieder Bewegung in Indiens Zivilgesellschaft und sie erwacht vom K.-o.-Schlag, den Narendra Modi ihr mit seinem massiven Wahlsieg versetzt hatte. In Kaschmir haben sich sieben Parteien zusammengetan, um die Wiederherstellung des Status quo ante zu verlangen.
Selbst die sieche Kongresspartei zeigt Lebenszeichen. Zum ersten Mal seit Menschengedenken hat rund die Hälfte der paar Dutzend Kongress-Parlamentarier der Parteiführung die Ablösung der Gandhi-Dynastie nahegelegt, bevor sie zurückkrebsten, als Widerstand laut wurde. Nicht alle Heiligen Kühe Indiens sind heilig; und nicht alle werden für immer und ewig vom Schlachtverbot geschützt.