Vor acht Jahren gab sich Nandan Nilekani eine Herausforderung, die nur im Misserfolg enden konnte. Der IT-Unternehmer und Software-Ingenieur machte sich anheischig, allen Indern, damals 1’200 Millionen, eine verbriefte individuelle Identität zu vermitteln.
Millionen von Menschen ohne Ausweise
Der Misserfolg schien vorprogrammiert, und dies nicht nur wegen der enormen Zahl von unverwechselbaren Identitätsausweisen. Vielleicht fünfzig Prozent der Inder hatten überhaupt keine staatlich beglaubigte Identität, oft nicht einmal Geburtsurkunden. Daher mussten die einzigartigen Merkmale jeder Person aufgenommen werden – Fingerabdruck und Iris-Vermessung.
Was Nilekani antrieb, war folgende Einsicht: Mit dem Fehlen einer klaren Identität wird mehreren hundert Millionen Menschen staatliche Unterstützung vorenthalten, weil sie sich nicht „ausweisen“ können. Mehr noch: Viele Millionen Bauern haben keine Besitzurkunden für ihr Land, da sie über keine rechtlich gesicherte Identität verfügen. Sie können ihr Land zwar bewirtschaften, aber es nicht legal verkaufen oder als Kapital – etwa als Pfand für Kredite – einsetzen.
Modis Kehrtwende
Nilekanis Projekt einer Aadhar-ID – Aadhar bedeutet Grundlage - wurde von der damaligen Kongressregierung kräftig unterstützt. Die BJP-Opposition lehnte es als Geldverschwendung ab. Im Wahlkampf von 2014 versprach Narendra Modi, es sofort nach der Machtübernahme abzuschaffen.
Das Gegenteil geschah. Nach seinem Wahlsieg liess sich Modi von Nilekani überzeugen, dass die digitale Erfassung jedes Bürgers als Plattform für digitale Dienstleistungen dienen kann. Die Aadhar-Nummer wäre quasi ein Bankkonto, auf das Subventionen überwiesen werden könnten, sowie eine elektronische Kartei zur Speicherung persönlicher Daten.
Und warum konnte die digitale Identität nicht auch als persönliche Steuer-Nummer verwandt werden? 2016 verabschiedete das Parlament ein entsprechendes Gesetz. Dessen Titel drückt die Ausweitung der ID programmatisch aus: Der Aadhar (Targeted Delivery of Financial and other Subsidies, Benefits and Services) Act.
Grösstes biometrisches ID-System der Welt
Nilekani hat seine Herausforderung gemeistert. Bis heute sind 1.2 Milliarden Inder erfasst worden, darunter 99 Prozent der über Achtzehnjährigen. Es ist das bei weitem grösste, und (gemäss Weltbank) anspruchsvollste biometrische ID-System der Welt.
Doch mit dem Erfolg, vor allem aber mit der Ausweitung der Aadhar-Funktionen wurde auch die Kritik immer lauter. Sie lautet, dass diese Big Data dem Staat ein Instrument der Kontrolle über die Bürger in die Hand gibt. Er hätte die Möglichkeit, in deren Dateien und Konten zu schnüffeln oder sie über diesen Ansprechpunkt zu beeinflussen.
Besonders nach der Machtübernahme der BJP wuchs diese Sorge um den Schutz privater Daten. Modi hatte im Wahlkampf gezeigt, welchen Erfolg das elektronische Trommelfeuer haben konnte. Nilekani schwor, dass der Algorithmus eine absolute Firewall enthalte. Wenn es eine Gefährdung der Privatsphäre gebe, liege sie bei Firmen wie Google, Facebook, und den Telekomfirmen. Doch dies schürte lediglich die Angst, dass auch der Staat diesen Zugriff besass.
Regierung wischt Einsprachen beiseite
Bei den Gerichten gingen zahlreiche Petitionen gegen die gesetzliche Ausweitung der Aadhar-Karte ein. Das Oberste Gericht sah sich schliesslich veranlasst, alle Einsprachen bei sich zu sammeln und einen Grundsatzentscheid in Aussicht zu stellen; bis dann sollte die Aadhar-Registrierung freiwillig bleiben.
Dies liess die Regierung kalt. Sie erklärte Aadhar zwar nicht zur Pflicht, tat es aber in der Praxis dennoch, indem sie Personen ohne diese ID von staatlichen Leistungen ausschloss. Und schon bald verkündete sie, Aadhar als Wählerausweis und steuerlichen Zugriff einsetzen zu wollen. Hinweise, dass gerade bei der Registrierungsprozedur gemogelt werden konnte, fruchteten nichts. (Ausweise für den Haushund wurden gefunden, IDs für die Kühe eines Bauern, oder eine Karte, lautend auf den Elefantengott Ganesh). Die Aadhar-Behörde wischte sie als teething troubles beiseite.
Das Oberstes Gericht dreht den Spiess um
Doch nun hat das Oberste Gericht in einem aufsehenerregenden Urteil vom 24. August den Spiess umgedreht. In einem Grundsatzurteil von 500 Seiten Umfang nahm das neunköpfige Kollegium die Aadhar-Kontroverse zum Anlass einer Grundsatzfrage über den verfassungsmässigen Stellenwert der Privatsphäre. Die einstimmige Schlussfolgerung: Das Recht auf Privatsphäre ist ein fundamentales Recht jeder Bürgerin.
Dies ist ein für Indien epochaler Bescheid. Gerade im Zusammenhang mit Aadhar hatte der indische Generalsstaatsanwalt mehrmals argumentiert, dass dieses Recht von der Verfassung nicht ausdrücklich verbrieft worden sei; mehrere Urteile des Obersten Gerichts hätten dies bereits verneint.
Gerade deshalb, so kontern nun die Richter, hätten sie diese Frage ein für allemal klären wollen. Dies sei umso dringender, als die Privatsphäre nicht nur bei Aadhar gefährdet sei, sondern auch beim Schutz des Individuums vor dem systematischen Datensammeln der Technologiekonzerne.
Gegen Kriminalisierung von Homosexualität?
Das Gericht fasst den fundamentalen Anspruch auf eine Privatsphäre sehr weit. Das Recht, sagt das Urteil, „schliesst den Erhalt persönlicher Intimität ein, die Wahrung des Familienlebens, Ehe, Fortpflanzung, das Zuhause und die sexuelle Ausrichtung“. Damit, so meinen erste Kommentare, ist auch der Grundstein gelegt, um den unseligen Artikel 377 des Strafrechts aufzuheben, der Homosexualität noch immer als ‚widernatürlich’ kriminalisiert. Er könnte auch den rechtlichen Schutz der Frau stärken, der bisher etwa bei Abtreibung, Bewegungsfreiheit und dem Recht auf Arbeit immer wieder durch patriarchalische Vorurteile von Richtern und Polizei eingeschränkt worden ist.
Beim Datenschutz stellt das Urteil klar, dass dieser nicht nur durch den Staat, sondern auch durch private Akteure gefährdet werden kann. Dies gilt nicht nur für Technologiefirmen mit ihrem Data Mining. Noch dringender ist der Schutz vor den Trolls der Sozialen Medien. Im vergifteten politischen Klima des Landes kommt es immer häufiger zu medialen Hetzkampagnen, die vor Rufmord nicht zurückschrecken, und manchmal nicht einmal vor dem Aufruf zum physischen Lynchmord.
Zweierlei fundamentale Rechte des Individuums
Das Gericht anerkennt aber auch, dass das fundamentale Recht des Individuums, ‚alleingelassen’ zu werden, auch mit dem Recht von Bürgern in Einklang gebracht werden muss, ‚wahrgenommen’ zu werden. Es spielt damit wiederum auf die Aadhar-ID an, die ja vor allem die grosse Masse von Armen für staatliche Sozialleistungen anpeilt.
Der Korruptionssumpf, der diese Pipelines bisher verstopft hat, wird durch eine elektronische Übermittlung von Subventionen mit einem Schlag trockengelegt, zumindest im Ansatz. Gerade wegen der sozialpolitischen Bedeutung von Armut und Armutsbekämpfung versprach das Gericht, für die Kontroverse um Aadhar ein eigenes Grundsatzurteil nachzureichen.
Das Recht auf Privatsphäre ist wie jedes Grundrecht zudem nicht absolut, sondern kann legitime Einschränkungen erfahren. Mit seinem einstimmigen Urteil stellt das Gericht aber sicher, dass der Staat solche Übergriffe – etwa das Ausspionieren privater Daten im Interesse der nationalen Sicherheit – nicht willkürlich trifft, sondern dafür die Einwilligung der Justiz einholen muss.
Missbrauchte religiöse Gruppenrechte
Die Konstitution eines Fundamentalrechts auf Privatsphäre ist gerade im gegenwärtigen Augenblick bedeutungsvoll. Seit Jahren erlebt Indien eine schleichende Erosion der Individualrechte. Wenn es um das Abwägen dieser Rechte und der Rechte von Gruppen geht – namentlich Religionsgemeinschaften – wird immer häufiger letzteren der Vorrang gewährt.
Jeder Bürger hat etwa das Recht, seine eigene Religion zu wählen, auszuüben und sogar zu propagieren. Doch wehe, wenn Vertreter einer anderen Religionsgemeinschaft sich davon bedroht oder beleidigt fühlen. Es ist dann der Einzelne, der von der Polizei in der Regel behelligt und von Gerichten zurückgepfiffen wird.
Werden aber Gruppenrechte, allen voran religiöse, mit Gewalt geltend gemacht, schauen Polizei und Gerichte weg. Die jüngste Vergangenheit zeigt die Folgen. Im Namen der Mehrheitsreligion werden Individuen, etwa Kuhhändler, von radikalen Hindus gejagt, geprügelt und nicht selten erschlagen, weil sie angeblich Kühe schlachteten.
Der Staat greift nicht ein, um den Schutz des Einzelnen zu garantieren. Statt gegen die Täter, erhebt die Polizei Anklage gegen die Opfer, weil sie die ‚religiösen Gefühle der Gemeinschaft’ provoziert hätten. Dabei wäre der Mob ohne weiteres zu identifizieren. Nicht selten sind es die Angreifer, die sich bei der Tat filmen und das Video stolz ins Netz stellen.