Sie musste dem Parlament eine Gesetzesvorlage unterbreiten, in dem die Institution eines Ombudsmanns gegen Korruption nach 40 Jahren parlamentarischer Anläufe endlich Gestalt annahm. Doch plötzlich, in den letzten Tagen vor Silvester, schien dem Drachentöter der Schnauf auszugehen. Eine grossangelegte Demonstration von Bürgerstärke lockte nur einige tausend Anhänger nach Bombay. Hazare fuhr krank und erschöpft in sein Dorf zurück. Zeitungskommentare sprechen bereits von einem ‚One-Day Wonder‘.
Im letzten Frühjahr, als einige Aktivisten, unter ihnen der über 70-jährige Anna Hazare, in Delhi eine Kampagne gegen Korruption lancierten, fing diese plötzlich Feuer. Das Bild des alten Manns im Hungerstreik, vor einer Plakatwand mit dem Konterfei Mahatma Gandhis, weckte im ganzen Land Anteilnahme und Empörung.
Die Kameras der Nachrichtenkanäle überboten sich in atemloser Berichterstattung, die aus den paar hundert Anhängern im Nu einen Volksauflauf machte. Die Regierung reagierte nervös und versprach ein Ombudsmann-Gesetz. Vier Monate später präsentierte Hazare bereits einen drakonischen Gesetzesentwurf. Als die Regierung zögerte, begann er erneut zu fasten. Auch diesmal reagierte der Staat tollpatschig, verhaftete den alten Mann und goss damit Öl ins Feuer. In vielen Städten kam es zu Grossdemonstrationen, Premierminister Singh gab klein bei, das Parlament versprach ein Ombudsmann-Gesetz auf Ende Jahr.
Den Gesetzestext in Fetzen zerrissen
Eine Allparteien-Kommission arbeitete in kurzer Zeit einen Gesetzesentwurf aus, für die sie die "Bewegung", die nun den Namen des kleinen starrköpfigen Dörflers trug, im Detail konsultierte. Doch am Ende musste diese zur Kenntnis nehmen, wie eine gutgeölte politische Maschinerie zu kämpfen weiss, wenn sie mit dem Rücken zur Wand steht. Für die Wintersession des Parlaments traktandierte die Regierung nämlich zuerst eine Diskussion über die umstrittene Öffnung des Detailhandels für Auslandsinvestitionen. Sie wusste, dass sie das Parlament tagelang lahmlegen würde. Zwei Wochen lang wurde über Walmart und Carrefour gestritten. Für das Korruptionsgesetz blieben schliesslich nur drei Tage Debatte übrig. Immer noch Zeit genug, um es zu verabschieden, möchte man meinen. Doch die Kongress-Strategen hatten vorgesorgt. Als der Entwurf vorgelegt wurde, enthielt dieser neben echten Reformschritten einige Sprengsätze, die prompt explodierten.
Einer betraf die Zusammensetzung der obersten Ombudsmann-Kommission, bestehend aus neun Mitgliedern, die zu 50 % aus Vertretern der Minderheiten zusammengesetzt würde. Es hatte genau die erwartete Wirkung: Die Oppositionspartei BJP, die sich für das Gesetz stark gemacht hatte, wollte auf keinen Fall einen Sitz für einen Muslim festgeschrieben haben, die Kastenparteien forderten Einsitznahme für Dalits, Bauern, Urstämme, die Linke wollte eine Frauenquote, die Regionalparteien suchten Garantien für grosse Sprachgruppen.
Über 150 Änderungsvorschläge wurden unterbreitet. Doch das Gesetz passierte die Volkskammer. Dann detonierte der Vertreter einer Koalitionspartei am letzten Sessionstag in der Länderkammer kurz vor Mitternacht die zweite Stinkbombe. Er zerriss vor den Augen des Ratspräsidenten den Gesetzestext in Fetzen. Ein gut choreografierter Sturm der Entrüstung brach aus, worauf der Präsident die Debatte prompt vertagte.
*Gruppenbild mit Anna
Die öffentliche Meinung des Landes war empört über die Schmierenkomödie. Sie sollte nicht einmal den Anschein erwecken, nicht inszeniert zu sein, so plump waren die Beteuerungen von Regierung und Opposition. Ein gefundenes Fressen für Hazare? Bereits im Vorfeld hatte er angekündigt, bei Nichtpassieren des Gesetzesentwurfs eine landesweite Kampagne zivilen Ungehorsams zu beginnen, welche die Gefängnisse des Landes füllen würde. Eine dreitägige Kundgebung in Bombay würde den Startschuss geben. Doch es wurde ein Rohrkrepierer. Nur knapp 5000 Unentwegte fanden sich ein, für Indien nicht mehr als ein "Gruppenbild mit Anna". Dieser reiste schleunigst wieder ab. Zuhause im Dorf konsultierte er einen Arzt, der ihm Erschöpfung attestierte und einen Monat Ruhe verschrieb.
Was war geschehen? Ist der Öffentlichkeit – und dies ist in erster Linie die städtische Mittelschicht – plötzlich die Lust vergangen, die "classe politique" offen herauszufordern, die sie noch vor Wochen in Grund und Boden verdammt hatte? Oder war es die moralische Arroganz Hazares und seiner Mitstreiter, die sich eine blütenreine Weste überstülpten, während jeder Politiker, Beamte und Geschäftsmann als korrupt verteufelt wurden? Nur kurze Zeit nachdem die (elektronischen) Medien Hazare zu einer Wiedergeburt des Mahatma erkoren hatten, begannen sie, erste Zweifel zu säen. Der ehemalige Armeefahrer konnte mit Gewaltfreiheit nur wenig anfangen; in seinem Dorf etwa hatte er Trinker mit handfesten Methoden – Peitschenhiebe, öffentliche Zurschaustellung – auf den Weg der Tugend gebracht.
Überfakturierte Reisekosten
Auch in der Anti-Korruptionskampagne war er wenig taktvoll. Als ein Mann dem Innenminister öffentlich eine Ohrfeige versetzte, beglückwünscht er diesen und fügte die Frage bei: "Warum nur eine?" Und seine Mitstreiter mussten sich an den hehren Massstäben messen lassen, die sie aufgestellt hatten. Die ehemalige Polizei-Offizierin Kiran Bedi hatte Reisekosten für öffentliche Auftritte überfakturiert (ihre Erklärung: das Geld kam ihrer NGO zugute); der Arundhati Roy-Anwalt Prashant Bhushan hatte vom Staat ein Grundstück weit unter dem Marktpreis zugesprochen erhalten – ohne zu protestieren; und Arvind Kejriwal, der eigentliche Motor der Kampagne, hatte als Staatsbeamter Lohngelder nicht zurückerstattet, als er nach einem bezahlten Urlaub den Dienst quittierte.
Vielleicht ist es aber auch die simplistische Medizin, die einem so komplexen Krebsgeschwür wie der Korruption beikommen soll, die unter seinen Anhängern (unter ihnen viele Intellektuelle) immer mehr Zweifel sät. Es gibt zwar keine genauen Statistiken über das Ausmass der Korruption in Indien. Untersuchungen wie jene von ‚Transparency International‘ leiden darunter, dass das Gesetz sowohl den Schmiergeldzahler wie dessen Empfänger unter Strafe stellt; dies sorgt dafür, dass nur wenige Befragte auch zugeben, Schmiergelder bezahlt zu haben. Doch die alltägliche Erfahrung und der permanente öffentliche Diskurs lassen vermuten, dass die Korruption in jede Pore des Lebens dringt. Berechnungen von Ökonomen sprechen von einem Drittel des Sozialprodukts, das ‚unter der Hand’ erarbeitet wird – das wären rund 500 Mia. Dollars.
Opfer zu Tätern gemacht
Kann ein indischer Ombudsmann dieser schieren Naturgewalt beikommen, selbst wenn er mit ausserordentlichen Polizeigewalten und quasi-richterlicher Autorität ausgestattet ist? Nur schon die schiere Grösse des Beamtenapparats, der damit nötig wird, wird eine neue Korruptions-Spirale in Bewegung setzen. Am Ende aber ist vielleicht dies der perfideste Aspekt des Geschwürs, der viele Hazare-Anhänger innehalten lässt: die systematische Verwischung der Grenze zwischen Moral und Unmoral, die allzu oft auch das Opfer zum Täter macht. Es gibt wohl nur wenige Menschen in diesem Land (und ich gehöre nicht zu ihnen), die den Mut, die Fähigkeit und die Hartnäckigkeit haben, dem Zwang – aber auch der Verlockung – der Bestechung überall und immer zu widerstehen.