Indien hat einen Wahlkampf erlebt, wie es ihn noch nie gegeben hat. Inmitten säkularer Naturgewalten – Rekordhitze, Flutkatastrophen – überstrahlte ihn ein Politiker, der den Spagat versuchte, zugleich Heilsbringer und Racheengel zu sein.
Am Donnerstagabend verstummten die Lautsprecher in den letzten 57 Wahlkreisen, deren Stimmbürger am 1. Juni an die Urnen gingen. Damit ist der längste Wahlkampf des Landes nach sieben Teilwahlen zu Ende gegangen. Wie aufreibend er gewesen ist, zeigte sich drastisch in einer Kurzmeldung vom Mittwoch: In den Gliedstaaten Bihar und Uttar Pradesh erlitten vierzig Menschen den Hitzetod – Beamte, die in der brennenden Sonne für die Wahlen unterwegs waren.
Zu den 57 restlichen Wahlbezirken zählte gestern auch die symbolträchtige Stadt Varanasi, wo sich Premierminister Narendra Modi den Stimmbürgern stellte. Während des Wahlkampfs hatte er die Stadt kaum einmal besucht, wohlwissend, dass die lokalen Wähler stolz darauf sind, dass er Varanasi 2014 auserkoren hatte, um sich für das Abgeordnetenmandat zu bewerben.
Allein, ohne Nahrung, meditierend
Narendra Modi war auch in den letzten Vorwahl-Tagen nicht in Varanasi anzutreffen. Aber er war auch nicht in Delhi, um nach den Regierungsgeschäften zu schauen. Vielmehr nutzte er die verordnete Stille nach sechs Wochen dröhnender Lautsprecher in Kanyakumari an der Südspitze des Landes, in einem Tempel, in dem bereits der Philosoph Vivekananda meditiert hatte, für die Hindunationalisten einer ihrer Gurus.
Auch Modi hatte sich entschlossen, die letzten 36 Stunden dieser grössten demokratischen Ausscheidung in der Geschichte des Planeten allein, ohne Nahrung, und meditierend zu verbringen. Allein? Ja, sicher – zumindest für das milliardengrosse Fernsehpublikum. Es sah ja die zahllosen Kameras nicht, die im Halbkreis unter der felsigen Plattform aufgestellt waren, um den Premierminister live zu filmen – tief versunken oder mit gefalteten Händen, währenddem er gemessenen Gangs religiöse Rituale durchführte und Gebete murmelte.
Auch die Hotels mussten schliessen
Nichts bewegte sich am Horizont des Meeres, denn die über eintausend Fischer waren angewiesen worden, für drei Tage zuhause zu bleiben. Auch die Hotels mussten schliessen und die vielen Pilger abweisen, die Kanyakumari und den Felsentempel sonst täglich besuchen. Arbeiten mussten nur die zweitausend Ordnungshüter, die sicherzustellen hatten, dass sich kein Blatt rührte und die Meditation des Premierministers eines säkularen Landes stören könnte.
Zweifelllos würde der Kandidat der BJP für den Wahlkreis Varanasi jede Anspielung entrüstet zurückweisen, dies sei einmal mehr Wahlkampf pur, à la Modi. Es bleibt die Tatsache, dass für die letzten 36 Stunden vor den letzten 57 Ausscheidungen diese Bilder in alle indischen Haushalte flimmerten, ohne die störenden Geräusche anderer Parteien und Politiker.
Gegen das Wahlgesetz
Einmal mehr hatten die Oppositionsparteien bei der Wahlkommission Protest eingelegt – wie immer erfolglos. Sie argumentierten, dass dieses Ritual in Wahrheit nichts als Wahlkampf war, den das Wahlgesetz für die letzten 36 Stunden vor dem Urnengang ausdrücklich verbietet.
Dabei war dies höchstens eine lässliche Sünde im demokratischen Verhaltenskodex. Viel bedeutsamer war die ausgesprochen hinduistische Körpersprache dieses BJP-Abgeordneten. Jede religiös gefärbte Äusserung eines Amtsträgers war von den Verfassungsvätern ausdrücklich verboten worden. Sie wussten, wie sehr unterschiedliche religiöse Auffassungen und Ausdrucksformen für politische Zwecke missbraucht werden konnten – mit fatalen Wirkungen.
Ein von Religion triefendes Vokabular
Doch Herr Modi musste sich nicht sorgen, dass die Wahlkommissäre einschreiten würden. Der Wahlkampf hatte gezeigt, dass es Proteste gegen Modis Regelverletzungen regnen mochte – die Kommission erhob höchstens den Mahnfinger. Je länger er dauerte, desto dreister bediente sich der Premierminister eines von Religion triefenden Vokabulars. Immer direkter appellierte er an die religiöse Identität der 83 Prozent Hindus unter den beinahe eintausend Millionen Wählern. Als Meister medialer Inszenierungen fand er immer neue Formen, diese zentrale Botschaft – «Hindus, wählt für die Hindu-Partei! Eure Religion ist in Gefahr!» – zu vermitteln. So stieg er in der westindischen Stadt Dwarka im Taucheranzug ins Meer, um vor den Ruinen eines versunkenen Krishna-Tempels zu beten, natürlich begleitet von unsichtbaren TV-Kameras, deren Schwenks jede Gebetsblase aus der Kapsel des demütigen Pilgers nach oben begleiteten.
Die friedvollen Bilder vom Südkap Indiens fassen ironischerweise noch einmal zusammen, was diesen Wahlkampf nicht nur zum längsten, aber auch zum bösartigsten in der Geschichte des demokratischen Landes gemacht hat. Bösartig? Was ist bösartig an einem tief in der Meditation versunkenen Politikers? Inzwischen weiss jeder Inder, dass Religiosität nur die eine, noble Seite einer Religion spiegelt. Die Kehrseite: Gerade dank ihrer emotionalen Intensität ist sie auch identitätsstiftend und ein ethnischer Markierungspunkt. Und wie jede soziale Identität definiert sie sich auch über den Anderen – mitunter mit der Ablehnung von dessen Religion.
Hass gegenüber der muslimischen Minderheit
In seinem Wahlkampf wurde Modi nicht müde, die Hindu-Identität über die Ablehnung und den Hass gegenüber der muslimischen Minderheit zu stärken und für sich zu beanspruchen. Er bezichtigte sie der illegalen Einwanderung, terroristischen Infiltration, der Gier auf Hindu-Frauen und auf Gut und Boden der Hindu-Mittelklasse. Und er machte die Kongresspartei und Rahul Gandhi als die Partei aus, die bei einem Wahlsieg die Rückkehr zur «tausendjährigen» Versklavung Indiens durch islamische Invasoren bewerkstelligen würden.
Viele Beobachter rätseln, warum sich ein Politiker trotz seiner überwältigenden Popularität veranlasst sieht, diesen gehässigen Ton anzustimmen. Er stempelt damit immerhin ein Bevölkerungssegment von 200 Millionen Mitbürgern zum Volksfeind. Hat Hybris den Grossmacht-Aspiranten blind gemacht für das Chaos, das seinem Land droht? Es ist dasselbe Land, das er gleichzeitig zu einem zentralen Pfeiler der neuen globalen Ordnung aufrichten will.
Gift und Galle gegen die Minderheiten
Die verbliebenen liberalen Kommentatoren orten die Kehrtwende von Modis Rhetorik am Ende des ersten Drittels des Wahlkampfs. Partei-interne Exit-Polls könnten der BJP gezeigt haben, dass der Start-Slogan von «400-plus Sitzen» (also eine Dreiviertelmehrheit) von vielen Wählern als Arroganz empfunden wurde. Waren nicht sie es, die über Sieg und Niederlage zu bestimmen hatten – dem einzigen demokratischen Privileg, das ihnen noch verbleibt? BJP-Stammwähler wiederum mochten sich gesagt haben, dass sie bei einem sicheren Sieg ebenso gut zuhause bleiben konnten, statt in der brütenden Sonne auszuharren.
Fakt ist, dass die «400+»-Slogans plötzlich verschwanden. Plötzlich spie Modi Gift und Galle gegen die Minderheiten und ihren Schutzpatron Rahul Gandhi. Gleichzeitig inszenierte er sich, noch unverfrorener als bisher, als hinduistischer Heilsbringer, der sich nicht kümmern musste um so banale Dinge wie Armut, Arbeitslosigkeit, Inflation (und schon gar nicht über Wahlkommission und Gerichte).
Sich selbst erwähnte er 2852 Mal
Laut einer Wortanalyse der Reden Modis durch die Tageszeitung Telegraph erwähnte er «Rahul Gandhi» 2942 Mal (den er damit völlig unverdient zu einem gefährlichen Konkurrenten aufblies). Das Wort «Jobs» kam auf gerade 53 Erwähnungen. Er selber, abgehoben auch dank der massenmedialen Hörigkeit, erwähnte sich 2852 Mal, nicht selten in der dritten Person Singular.
Nicht nur die Hof-Medien führten zu einem Realitätsverlust. Die mächtige dreiköpfige Wahlkommission, von ihm und seinem Innenminister Amit Shah ausgewählt, liess ihn ohnehin gewähren. Er konnte sich in Hass-Tiraden überschlagen, ohne eine geharnischte Massregelung befürchten zu müssen. Aber er tat dies alles vor einem Publikum, dessen kollektives Gedächtnis wohl nichts Vergleichbares registriert hatte. Es mochte sich vielleicht auch fragen, was denn bei dieser quasi-göttlichen Allmacht eines einzigen Politikers noch übrigblieb von dem einen Gut, auf das es nach wie vor stolz ist: der Fähigkeit, Politikern Denkzettel zu verpassen.
Sind Wahlen in Zukunft nur noch Folklore?
Doch dies sind Spekulationen. Der 4. Juni wird zeigen, ob Narendra Modi wirklich alles einfordern kann – auch einen Freipass, die Verfassung nach seinem Gusto so zu ändern, dass Wahlen in Zukunft nur noch Folklore sein werden. Oder wird er und seine Partei zwar siegen, aber die Dreiviertelmehrheit – knapp/bei weitem – verfehlen? Er würde dann ein sehr populärer Politiker bleiben, aber bereichert um die Erkenntnis, dass auch der Avatar Modi sterblich ist – genauso wie die restlichen 333 Millionen Götter im Hindu-Pantheon.
Fast sicher wird es keinen Premierminister Rahul Gandhi geben. Und das wäre auch gut so. Denn der Wahlkampf hat gezeigt, dass er die Opposition nicht zu einen vermochte, trotz dem übermächtigen Drohbild von Modi. Zuerst muss Modi von der Bühne abtreten, und dann muss das grosse Reinemachen in der Regierungspartei BJP abgewartet werden. Es ist eine Partei, die in der Umarmung durch Modi/Shah zu ersticken droht und dessen stramme Hindu-Ideologie durch die Massen von Überläufern arg verwässert ist. Ob Modi vor dem Felsentempel auch darüber meditiert hat?