Ökonomen brauchen gern Buchstaben, um Wachstumstrends zu beschreiben. Auch in Indien: Wird der Aufschwung nach der Pandemie eine V-Kurve beschreiben? Oder nimmt er einen W-, U- oder gar L-Verlauf? Nichts von alledem: Der K ist der passende Buchstabe, denn er beschreibt Trends, die nach oben und nach unten zeigen.
Nun kommen sie wieder. In den Feldern rund um unser Haus, manchmal von wildem Zuckerrohr verdeckt, tauchen die blauen Plastik-Blachen der Wanderarbeiter auf. Wäschestücke hängen vielfarbig zwischen Bäumen, Frauen ziehen Wasser aus einem Tiefbrunnen, Männer gehen mit der Axt ins nahe Wäldchen.
Arbeitssuche
Es ist ein vertrautes Bild, wenn der Monsun einmal vorbei ist; und ein untrügliches Zeichen, dass die Wirtschaftstätigkeit im Land wieder angezogen hat. Vor zwei Jahren war es eine Fluchtbewegung vor dem «Lockdown» gewesen – und sie verlief in der Gegenrichtung.
Kann man nun wieder von einem wirtschaftlichen «Sog» sprechen, der die Familien aus dem Landesinnern in die Städte zieht, mit ihren zahllosen Gelegenheitsarbeiten und Fabriken? Oder ist es der «Push»-Faktor, der die Menschen aus dem wenig produktiven Landesinnern in die Küstenregionen treibt? Ich fragte einen der Wanderarbeiter. Ja, dieses Jahr sei kein Telefonanruf von einem Baumeister gekommen. Sie seien aufs Geratewohl gekommen und hofften auf Arbeit im Bausektor – Ziegel brennen, Steine klopfen, Zement mischen.
In Mumbai dagegen sind es die kleinen informellen Arbeitsmärkte, die das Ziel der Migranten sind. Meist in der Nähe von Bus- und Zugterminals gelegen, ziehen sie jeden Morgen junge Männer an. Sie hoffen auf irgendeinen Arbeitsvermittler, der sie für einen Tag (oder eine Woche oder eine Saison) anheuert. Hinter dem Nationalmuseum an der Südspitze der Stadt tummeln sich in diesen Tagen besonders viele Leute. Sie tragen alle Maske und sehen nicht aus wie Leute, die in den Steinbrüchen arbeiten.
Schwacher Privatkonsum
Sind auch sie ein positives Signal, dass die Wirtschaftstätigkeit wieder an Fahrt gewonnen hat? Mit einem Wachstum von 8.4% im ersten Halbjahr 2021 (April–September) hat die Wirtschaftstätigkeit das Loch gefüllt, das die Pandemie im ersten Covid-Jahr in das Arbeitsleben gerissen hatte. Sie hat damit sogar das BSP im letzten «normalen» Jahr (2019–2020) knapp überholt. Die Investitionsvolumen ist sogar das höchste in den Vergleichsperioden der letzten fünf Jahre.
Am besten scheint sich die Grossindustrie in der Krise zurechtgefunden zu haben. Mit Ausnahme einiger Sektoren (etwa Motorfahrzeuge) haben namentlich die grössten 300 Firmen des Landes ein sattes Wachstum der Gewinne vorzuweisen, was sich auch im gegenwärtigen Börsenboom manifestiert.
Paradoxerweise spiegelt der Privatkonsum (er steuert über 50 Prozent zum Gesamtprodukt bei) dieses Wachstum in keiner Weise. Die Showrooms der grossen Motorrad-Hersteller gleichen vollen Lagerhallen. Dies wirft die Frage auf, warum die wichtigsten Firmen des Landes so grosse Gewinne einstreichen (und Rekordsummen an den Fiskus abliefern) können. Ein Grund mag die Zunahme der Exporte sein, denn zum ersten Mal nach vielen Jahren ist das Handelsdefizit leicht geschrumpft.
Die Erklärung für dieses Paradox findet man ausgerechnet bei den Arbeitsnomaden in Alibagh und den dicht gedrängten Menschentrauben der Arbeitsbörsen in Mumbai. Dort suchen die meisten nämlich nicht mehr einen festen Arbeitsplatz, sie wären schon mit den Brosamen eines Tagelohns zufrieden. Viele von ihnen sind ehemalige Industriearbeiter, die im drakonischen Lockdown des ersten Covid-Jahrs ihren Job verloren haben und ihn jetzt nicht mehr vorfinden.
Zu wenig Arbeit
Die Arbeitssuchenden sind weniger ein Indiz für die beschleunigte Wirtschaftstätigkeit als für eine galoppierende Arbeitslosigkeit. Studien von Forschungsinstituten kommen zum Schluss, dass die meisten Firmen im «formellen» (d. h. vertraglich gesicherten) Bereichen die Krise als Chance nutzten. Sie haben die Arbeitsprozesse weiter rationalisiert und konnten trotz des Konsumrückgangs Produktivität und Gewinne steigern. Sie waren auch besser gewappnet für die logistischen Umbrüche der Covid-Krise als kleine und mittlere Untermehmen, deren Marktanteile sie übernehmen konnten – oft mitsamt der Firma.
Was sie dabei nicht übernahmen, war das Personal. Denn nirgends sind Produktivitätssteigerungen leichter zu erreichen als bei der «Ausdünnung» des Faktors Arbeit. Dies gelang relativ leicht unter den Festangestellten. denn just in den ersten Monaten von Covid hatte das Parlament praktisch ohne Debatte neue, arbeitgeberfreundliche Arbeitsgesetze verabschiedet. Noch einfacher war es beim riesigen Heer von Vertragsarbeitern, die ohnehin kaum Arbeitsschutz geniessen.
Dieser Trend setzte bereits vor Jahrzehnten ein, angefeuert und legitimiert durch die alten Arbeitsgesetze, die Entlassungen weitgehend verunmöglicht hatten. Ein Beispiel ist die arbeitsintensive Textilindustrie. Während Länder wie Bangladesch und Vietnam ihren Anteil am Weltmarkt auf über sechs Prozent verdoppeln konnten, dümpelt die indische Bekleidungsindustrie seit Jahrzehnten bei 3%.
Mangelhafte soziale Absicherung
Allein in den fünf Modi-Jahren zwischen 2016 und 2021 sank die Zahl festangestellter Fabrikarbeiter von 51 auf 27 Millionen (gemäss einer Studie des «Centre for Monitoring the Indian Economy», CMIE). Ersetzt werden sie durch automatisierte Abläufe.
Diese Rationalisierungsprozesse entsprechen der kapitalistischen Logik. Aber sie zirkeln den Faktor Arbeitskraft weg, und dies in einem Land, das jedes Jahr vierzehn Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt wirft. Im Covid-Ausnahmezustand hat sich dieser Prozess noch beschleunigt. Dies erklärt das statistische Paradox von stagnierendem Konsum und hohen Firmengewinnen – und rechtfertigt den Ausdruck «K-Kurve».
Noch deutlicher sind die Zahlen der offiziell registrierten Arbeitslosigkeit (in denen die strukturelle Unterbeschäftigung – bzw. Selbstausbeutung – der riesigen Masse «informeller Arbeiter» nicht einbezogen ist). Indien hat gemäss Weltbank unter allen aufstrebenden Volkswirtschaften die weitaus tiefste Beschäftigungsrate (46 Prozent). Die Arbeitslosenzahl von 7.9% mag relativ moderat erscheinen; sie verschweigt aber die Tatsache, dass in einem armen Land mit einem schwachen Sozialschutz die meisten Menschen gar keine Wahl haben, als zu arbeiten, wollen sie nicht Hunger leiden. Dies gelingt bei weitem nicht allen. In den letzten Jahren hat die Zahl der Menschen «unter der Armutsgrenze» auch in absoluten Zahlen wieder zugenommen.
Wachsende Spannungen
Die jüngste Studie des CMIE bricht zudem mit einem weiteren, oft leichtfertig herumgereichten Wunschdenken. Die viel gepriesene «demographic dividend» sieht in Wahrheit so aus: 28% der 20-30-Jährigen verloren 2019/20 ihren Job, mehr als 30 Millionen. Besonders ernüchternd war die Aufschlüsselung dieser Zahl gemäss Ausbildungsstand. Je besser die Schulbildung, desto höher die Jobverluste; bei den College-Abgängern waren es 63%.
Diese Zahlen verblassen, wenn man, wie das CMIE es tut, die Zahlen nach Geschlecht aufteilt. Der Anteil arbeitender Frauen nimmt gemäss einem langfristigen Trend immer mehr ab – er fiel in den letzten zwanzig Jahren von über dreissig auf unter zwanzig Prozent. In der Covid-Krise waren Frauen die ersten, die entlassen wurden. In städtischen Agglomerationen finden heute 92 Prozent aller arbeitswilligen Frauen keinen Job. Dies hat allerdings nicht nur ökonomische Gründe. Patriarchalische Normen (auch unter Frauen) halten junge Frauen davon ab, einen Job zu suchen, solange einer ihrer Brüder arbeitslos ist. Zudem leidet Arbeit immer noch unter dem (Kasten-) Stigma einer entwürdigenden Tätigkeit. Nicht mehr arbeiten müssen – ein Statussymbol!
Umgekehrt lösen wirtschaftliche Faktoren wie der riesige Job-Überhang psychologische Prozesse der Machtlosigkeit und Sinnentleerung aus. Angefeuert von den Sozialen Medien, und von Politikern geduldet, wenn nicht gefördert, ist die Gewaltbereitschaft unter jungen Männern sprunghaft gestiegen. Die Politik nutzt die keimende Wut einer «Lost Generation» und hetzt diese gegen Angehörige von Minderheiten auf, an denen sie ihr Mütchen kühlen – und ihre wachsende Marginalisierung betäuben können. Eine Stehauf-Comédienne fand für das alte Stratagem des «Divide and Rule» kürzlich eine Formel, die dem heutigen Staat gelegen kommt: «Distract and Rule».