Es ist genau zehn Jahre her, seitdem der amerikanische Finanzdienstleister Goldman Sachs seinen ‚BRIC-Report‘ publiziert hat. ‚BRIC‘ wurde im Nu zu einem weltweit gehandelten Neuwort, nicht zuletzt weil dahinter eine gewichtige Kategorie von Staaten auftauchte – Brasilien, Russland, Indien, China - , die uns das Fürchten lehren sollten. Sie würden bald einmal als die Grossmächte des 21. Jahrhunderts dastehen, und nur die USA würden im Jahr 2050 in den Spitzenrängen neben ihnen noch überleben – an zweiter Stelle hinter China. Bereits im Jahr 2032 werde sich in dritter Position Indien platzieren, prophezeiten die cleveren Ökonomen, dank der Kombination einer Milliardenbevölkerung und einem jährlichen Wachstum von 8-10 Prozent.
Der indische Elefant, kein gemächlich trottender Dickhäuter
Dabei hatten sie nur etwas in ein Akronym verpackt, was die Milleniumsphantasien der Finanzwelt bereits voraussagten. Das ‚Wallstreet Journal‘ rief aus: „Move over, G-6! By mid-century, the economic firepower of BRIC could have you surrounded“. Im Fall Indiens ging ein CIA-Bericht noch weiter: Bereits im Jahr 2020 könne es eine wirtschaftliche Supermacht sein. Der ‚Economist‘ sah im indischen Elefanten plötzlich nicht mehr den gemächlich trottenden Dickhäuter, sondern gab ihm Flügel; und ‚Time Magazine‘ kündigte in einer Titelstory an: „Why the world’s biggest democracy is the next economic Superpower“.
In den euphorischen ersten Boomjahren des 21. Jahrhunderts wollte sich niemand fragen, wie man solche Langfrist-Prognosen wagen konnte. Obwohl Chinas Aufstieg uns hätte warnen sollen. Denn wer hätte 1958, zur Zeit des ‚Grossen Sprungs‘ und dessen Millionen von Hungertoten, vorausgesagt, wo dieses Land fünfzig Jahre später steht? Am wenigsten kritisierten die Inder den Respekt, der dem Land plötzlich entgegenschlug.
Demokratie als Feigenblatt
Viel zu lange waren sie das Armenhaus der Welt gewesen, und das Feigenblatt der Demokratie, das diese Blösse lange bedeckte, war inzwischen eingetrocknet. Die nationalistische Regierungspartei BJP holte zum Befreiungsschlag aus, und die Welt der Mächtigen honorierte es. Zuerst kam die Atombombe, dann löste Indiens IT-Industrie zur Jahrtausendwende das ‚Y2K‘-Problem, die Datumsanpassung in Millionen von Computern, die eine weltweite Angstneurose ausgelöst hatte.
‚Incredible India!‘ rief nationale Tourismuswerbung fröhlich-doppeldeutig aus, und ‚India Shining!‘ lautete 2004 lautete der Wahlslogan der BJP. Doch sie verlor die Wahl. Die Kongresspartei hatte erfolgreich dagegen gehalten. Wo leuchtet Indien? fragte es düster; gewiss nicht beim ‚Gewöhnlichen Mann‘, der weiterhin am Armentuch nagt, gewiss nicht beim städtischen Bürger, der mit Strompannen und Wasserknappheit und Abfallbergen leben muss. Der Kongress gewann die Wahl, knapp nur, (eine Stimmenverschiebung von 1.5%) und dank dem Majorz-Wahlsystem, in dem der Gewinner Alles gewinnt.
Die Strippen zog Sonia Gandhi
Dieses Prinzip des ‚Winner takes all‘ fegte auch nüchterne Wahlanalysen beiseite und stärkte die siegreiche Partei im Glauben, dass ihre Armutsstrategie den Sieg gebracht hatte. Wenn sie die arme Mehrheit mit Wohlfahrtsprogrammen bei der Stange halten könne, würde ihr auch in Zukunft nichts passieren. An der Spitze der Regierung stand mit Manmohan Singh zwar ein ausgewiesener Ökonom. Doch die Strippen zog weiterhin Parteipräsidentin Sonia Gandhi, die ihm das Amt grosszügig angeboten hatte (Singh hat noch nie eine Wahl gewonnen). Mit ihrem Vorsitz im ‚National Advisory Council‘ blieb sie die Macht im Hintergrund, die der Regierung nach Belieben teure Armutsprogramme verschreiben konnte.
Diese nahm sie umso williger auf, als der internationale Wirtschaftsboom und die von der Vorgängerregierung eingeführten Steuerreformen und wirtschaftsfreundliche Haltung dem Land tatsächlich die hohen Wachstumsraten bescherten, die der BRIC-Bericht vorausgesagt hatte. Einige dieser Initiativen waren zudem sinnvoll, etwa das Gesetz über das Informationsrecht, das den korrupten Staat zwingen sollte, seine Bücher offenzulegen. Auch eine Arbeitslosenversicherung für die grosse Masse der Armen in ländlichen Regionen war bedenkenswert, solange die Finanzierung durch wachstumsfördernde Reformschritte sichergestellt würde, und die Hilfsgelder nicht versickerten.
Die Reformen unterblieben
Doch wie so oft bei wohlgemeinten sozialreformerischen Projekten war es für die Politiker viel bequemer, den Kuchen zu verteilen (und sich nebenbei zu bereichern) statt sicherzustellen, dass er auch wuchs. Die Reformen unterblieben, und als der Kongress 2009 wiedergewählt wurde und die weltweite Hochkonjunktur plötzlich einbrach, brach auch das Wachstum ein. Seit vier Jahren befindet sich die Wirtschaft im Sinkflug und erreichte letztes Jahr mit knapp 5% Wachstum die Tiefstmarke seit der Jahrtausendwende. Noch schlimmer: Die Anstrengungen der Regierung, der Armut beizukommen, indem sie dem Problem einfach immer mehr Gelder entgegenwarf, brachte keine Wende. Wichtige Indikatoren – die Unterernährung von Kleinkindern, die Anämie bei Müttern, die Lernresultate bei angeblich alphabetisierten Jugendlichen – zeigen nur minimale Verbesserungen. Sie können die demografische Zeitbombe nicht entschärfen, die mit den dreizehn Millionen Jobsuchenden tickt, welche jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt gespült werden.
Statt den staatlichen Sektor zu reformieren, platzten dem Premierminister Korruptionsskandale ins Gesicht. Sie kosteten ihm nicht nur den Ruf des kompetenten Reformers, sondern auch den des ehrlichen Maklers. Manmohan Singh mag, so die öffentliche Meinung, persönlich integer sein, aber er toleriert die krasseste Korruption um sich herum. Nichts illustriert diesen Doppelschlag drastischer als der ‚Coalgate‘-Skandal. Mit seinem Wortspiel deutet er an, wie sich das blitzende Weiss von Singhs Image immer mehr mit dem Kohlenstaub der Korruption einfärbt. Die überfälllige Reform des Kohlenabbaus durch die Vergabe von Schürf-Lizenzen an Privatfirmen blieb stecken, weil die Lose in ‚Sweetheart Deals‘ vergeben wurden, statt durch öffentliche Ausschreibungen. Und Manmohan Singh war der zuständige Bergbau-Minister.
Das Pro-Kopf-Einkommen sinkt
Indien hat kein Monopol auf Korruption, aber es ist eines der Länder, in dem die Verbindung polit-bürokratischer und wirtschaftlicher Partikularinteressen Reformen verhindert statt beschleunigt. Wie lässt sich sonst erklären, dass das Land mit den weltweit fünftgrössten Kohlereserven der Welt letztes Jahr 130 Mio.t. Kohle eingeführt hat, einer Importzunahme von 70% gegenüber dem Vorjahr? Statt dass sich die künftige Supermacht eine zunehmende Unabhängigkeit bei der Energieversorgung erarbeitet, ist der Autarkiegrad zwischen 1984 und 2011 von 90% auf 63% gesunken. Dies hat auch wirtschaftliche Kosten. Letztes Jahr belief sich das Handelsdefizit auf 200 Mia. $ und bescherte dem Land mit 5% die drittgrösste negative Zahlungsbilanz der Welt, mit Folgen für Inflation und Wechselkurse. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen ist, in Dollars ausgedrückt, letztes Jahr von 1551 auf 1518 $ gesunken. Der wirtschaftliche Sachverständigenrat muss die stolze Ankündigung, dass Indien die Schwelle einer 2000 Milliarden-Ökonomie überschritten hat, seit zwei Jahren verschieben. Selbst die 5-6 Prozent Wachstum, die der Rat vorschreibt, damit das Land bis 2025 zu einer Volkswirtschaft ‚mittleren Einkommens‘ wird, stellt sie nun in Frage. Von einem Wachstum von 8-10%, dem Leistungsausweis für einen Platz am Tisch der Supermächte, ist Indien wieder weit entfernt. Die Rating-Agentur Standard&Poor’s hat den Daumen bereits nach unten gedreht. Indien sei, erklärte sie mit melodramatischer Wortwahl, „der erste gefallene Engel der BRICS“.