Mit einem nie dagewesenen Aufwand weihte Premierminister Narendra Modi am Montag den neuen Ram-Tempel in Ayodhya ein. Es war gleichzeitig das offizielle Begräbnis der Ersten Republik und ihrer liberal-westlichen Prinzipien. RIP: 1947–2024.
Wie so vieles in Indien ist auch die Etymologie voller religiöser Anspielungen. Und seit die Stadt Ayodhya zu einem Symbol gegensätzlicher Ideologien geworden ist – gilt in Indien der Primat der Religion oder der Primat des Staats? – bekämpfen sich auch dessen Namensdeutungen.
Wurde der Name früher mit der Region Avadh in Verbindung gebracht, deren Hauptstadt Ayodhya in antiker Zeit gewesen sein soll, so sind es nun zwei mögliche Herleitungen aus dem Sanskrit, die Deutungshoheit anstreben. «A-Judh» bedeutet «ohne Krieg», aber man ist sich uneins, ob damit «uneinnehmbar» gemeint ist – eine waffenstarrende Festung also – oder, verwandt damit, eine «Zone des Friedens».
Früher wurde die erste Version von Muslimen ins Spiel gebracht, als Beweis dafür, dass die lokale Babar-Moschee fest in ihrer Hand war. Seit der Stürmung und Schleifung der Moschee am 6. Dezember 1992 sind es die Hindus, für die der Geburtsort von Gott Ram fortan uneinnehmbar bleiben soll.
Zeitenwende zum Hindu-Staat
Und nun, seit dem 22. Januar 2024, als Ram wieder als Gottheit in seinem Tempel eingesetzt wurde, soll daraus ein «Ort des Friedens» werden. So will es der Mann, der wie kein anderer auf Gewalt gesetzt hatte, um die Festung einzunehmen. Nun, nach einem überwältigenden politischen Sieg, will er dort, und für ganz Indien, «Ram Radschya», die weise Herrschaft Rams zum Durchbruch bringen.
Es wäre tatsächlich die Zeitenwende, die Narendra Modi seit der Grundsteinlegung vor drei Jahren immer wieder angesprochen hat. Am Montag, nach der feierlichen Einweihung des Ram-Tempels, beschwor er sie noch einmal, diesmal gar in planetarischen Metaphern: Der Tag wird das Rad des «Dunklen Zeitalters» ablösen und eine neue Zeitrechnung beginnen, die (einmal mehr) tausend Jahre überdauern wird. Andere Kommentatoren griffen zu geologischen Bildern und sprachen von einer «tektonischen Verschiebung», die sich an diesem Tag vollzogen habe.
Deutete auch die sanfte Rhetorik von Premierminister Modi eine Zeitenwende an? Wie kein zweiter Politiker versteht er sich in allen Registern virtuos auszudrücken, und es war nicht das erste Mal, dass Honig aus seinem Mund floss. Doch vielleicht zum ersten Mal versagte er sich die berüchtigten Seitenhiebe und hasstriefenden Anspielungen. Mit den für ihn typischen Wortpaarungen, die sich gegenseitig verstärkten oder ablösten, strömte er nur Konzilianz aus: Nicht nur «Vijay» – Sieg – bedeute der heutige Tag, sondern auch «Vinay» – Demut; Ram sei nicht nur Feuer sondern auch Energie, nicht nur Kampf, sondern auch dessen Lösung.
Modi hatte – nach einem elftägigen Fasten und dem gleichzeitigen Besuch von sechs Ram-Heiligtümern in ganz Indien, mit zigtausend Flugkilometern – die Zeremonie noch halbwegs religiös begonnen, mit Gebeten und Ritualen. Und er war es, der dem Knaben Ram in der zentralen sakralen Geste die Augenbinde abnahm und ihm damit symbolisch die Welt übergab.
Modi als Statthalter Rams
Doch von diesem Akt der göttlichen Geburtshilfe leitet Modi nun auch das Recht ab, Rams Reich in dessen Namen zu regieren. In der Rede danach, mit dem Tempel im Rücken und der ganzen Nation als (TV)-Zuschauerschaft, rückte er die politische Dimension rasch wieder in den Mittelpunkt: Er appellierte an das Volk, den Blick von «Dev» zu «Desh», von «Ram» zu «Raschtra» zu wenden: von der Gottesstatue auf das Land, von Ram auf die Nation.
Aus dieser gottgegebenen Legitimität heraus appellierte er nun an seine Landsleute, «den Bau des Tempels hinter sich zu lassen, und von diesem Augenblick an ein kraftvolles, grossartiges und göttliches Indien zu schaffen». Bemerkenswert an dieser Wendung: Modi wandte sich ausdrücklich an alle Bürger, und er sprach von Indien, vermied also das Reizwort «Bharat», mit dem seine Regierung zu spielen begonnen hat als Ersatz für das (angeblich kolonial-englisch) belastete «India».
Liegt der Preis für solch salbungsvolle Worte, den ein indischer Muslim – oder überzeugte Säkularisten wie unsereiner – bezahlen müssen, darin, dass sie nun in einem Land leben, in dem Religion völlig von der Politik vereinnahmt worden ist? Der Journalist Rahul Dev, ein gläubiger Hindu, erklärte, er sei erschrocken, als er sah, wie Tausende von Hindu-Würdenträgern sich vor Modi verbeugten, als er deren Ehrenspalier abschritt. Und der Politologe P. B. Mehta sah den Augenblick gekommen, «in dem der Staat aufhört, säkularistisch, und der Hinduismus aufhört, religiös zu sein».
Autokratie und wirtschaftliches Laisser-faire
Er hätte auch hinzufügen können, dass der Staat aufhört, demokratisch zu sein. Die landesweite Begeisterung für den neuen Ram-Modi-Kult liefert Anzeichen, dass sich vermutlich eine Mehrheit der Bevölkerung mit dem Aushebeln demokratischer Institutionen abzufinden beginnt. Der quasi gottgegebene Mantel legitimiert eine autokratische Staatsführung, der sich eine plutokratische Elite andient. Zusammen wollen sie mit diesem Schulterschluss für das Land die ökonomischen Kastanien aus dem Feuer holen.
Gibt es in der Laufbahn Modis Indizien, die darauf hinweisen, ob dieser Weg erfolgversprechend ist? Nach den Pogromen von Gujerat im Jahr 2002 sorgte er als Chefminister dafür, dass in den zwölf folgenden Jahren seiner Regierungsführung keine religiösen Ausschreitungen mehr stattfanden. Die stillschweigende Marginalisierung der Minderheiten hielt an, aber Modi konzentrierte sich auf die Dynamisierung der Wirtschaft seiner Provinz.
Dies gelang ihm halbwegs. Eine Reihe von Industrien haben sich dort eingerichtet, aber es sind private Unternehmen, die vielleicht viel Steuergeld abliefern, aber wenig dazu beigetragen haben, das zentrale Problem Indiens – der riesige Überhang von freien Arbeitskräften – zu lösen. Selbst ihm nahestehende Gujerati-Unternehmer wie Mukesh Ambani und Gautam Adani sind risikobewusste Kapitalisten, für die Kapitalinvestitionen weniger konjunkturanfällig sind als die Schaffung von Jobs, angebrannte Kastanien hin oder her.
Vergleicht man diesen Bundesstaat mit anderen, hat das Wachstumsmodell Modis – eine effiziente, unbürokratische Wirtschaftsförderung privater Unternehmen – zwar ein stärkeres Gesamtwachstum gebracht, aber eine anhaltende Armut mit schlechten Sozialindikatoren zurückgelassen, ähnlich wie andere Staaten Nord- und Zentralindiens.
Für die Zukunft verspricht dies wenig Gutes. Die Laisser-faire-Politik und die mangelnden demokratischen Kontrollen haben zwar einen Börsenboom ausgelöst, bei dem heute jeder mithilfe von einigen KI-Inputs rasch Geld verdienen kann. Aber zentrale wirtschaftspolitische Eckwerte – Investitionen, Konsum, Löhne, Beschäftigung – stagnieren. Der Zufall wollte es, dass an diesem historischen 22. Januar 2024 eine Umfrage publiziert wurde, die zeigt, dass 80 Prozent der jungen Inderinnen und Inder mit Mittelschulabschluss ohne Jobs sind oder Gelegenheitsjobs ausüben müssen.
Religiös-nationale Emotionen gegen die Frustration
Persönlich bin ich überzeugt, dass die Verschärfung des Umgangs der Hindu-Mehrheit mit anderen religiösen Gemeinschaften im letzten Jahrzehnt bestenfalls Teil einer neuen kulturell-nationalen Identitätsfindung ist. Politiker versuchen, die zunehmende Frustration junger Inder ohne Jobs und mit bescheidener Schulbildung aufzufangen, indem sie alte religiöse Ressentiments neu anfachen und auf einen historischen Feind projizieren. Damit hoffen sie, von den realen Problemen abzulenken, für deren Lösung sie keine Antworten haben.
Narendra Modis Wette lautet: Die Wiederentdeckung der religiösen Substanz Indiens löst eine nationale Begeisterungswelle aus und bringt das Land an die Schwelle einer friedlichen und starken «Ram Radschya», einer weisen Herrschaft des Gottes Ram. Der Lakmustest dafür wird Modis Fähigkeit sein, der grossen Mehrheit der bald 1,5 Milliarden Inder ein Leben in Würde zu verschaffen.
Nicht nur das neue Zeitalter ist von mythischer Grösse. Auch diese Aufgabe ist eine titanische Herausforderung. Erst vor kurzem verkündete der Premierminister, dass 850 Millionen seiner Mitbürger weiterhin als «arm» eingestuft sind. Sie würden deshalb auch für die nächsten fünf Jahre mit Gratis-Nahrungsmitteln versorgt werden.