Wahlen sind das Aushängeschild der Demokratie. Nirgendwo ist dies so wahr wie in Indien. Es ist nicht nur das grösste demokratische Land der Welt. Während langer Zeit war es auch das Land mit den meisten Analphabeten, das sich seit der Staatsgründung den Luxus von Wahlen auf Lokal-, Regional- und Bundesebene für alle Frauen und Männer leistete.
Die soziale und physische Distanz zwischen Wählern und Politikern hält die Bewohner der über 650'000 Dörfer nicht ab, sich der Sonne und Hitze zu stellen (Die Parlamentswahl findet fast immer im Hitzemonat Mai statt). Nach getaner Wahl weisen sie immer noch stolz den waschfesten Farbtupfer auf der Fingerkuppe vor. Er beweist, dass man seine Pflicht getan hatte (und verhindert, dass man sich gleich wieder hinten in die Warteschlange stellt).
Für uns Korrespondenten waren Wahlkämpfe journalistische Höhepunkte. Sie waren Anlass zum Schwärmen – über das schiere Organisationstalent einer riesigen Wahlbehörde, die selbstlose Arbeit einiger hunderttausend Wahl- und Sicherheitsbeamten. Und vor allen andern Dingen schwärmten wir über den unerschütterlichen Glauben der Wählerin, dass jede Stimme zählt.
Mit Repressalien gedroht
Mit der wachsenden Vertrautheit kam dann auch Ernüchterung auf, der schleichende Verdacht, dass Wahlen vielleicht nicht nur das „Grosse Fest der Demokratie“ sind, sondern oft auch ein Schmierenstück. Bei mir kam der Augenblick des Erwachens im Jahr 1991, in einem Dorf in Bihar.
Ich hatte zwei Stunden vor dem Schulhaus verbracht, die Stimmabgabe beobachtet, mit wartenden Wählern gesprochen, das Sicherheitsdispositiv bewundert. Als ich durch das leere Dorf zum Auto zurückging, sah ich in einer Seitengasse einige Leute vor ihren Hütten sitzen.
Ich ging auf sie zu und fragte, ob sie bereits gewählt hätten. Nach einigem Zögern erklärte mir ein alter Mann, sie seien Dalits. Die landbesitzenden Bauern aus der Rajput-Kaste hätten ihnen mit Repressalien gedroht, falls sie wählen gingen. Sie wollten sicherstellen, dass ihr Kandidat das Rennen machte.
Angeklagte Kandidaten
Mit der Liberalisierung der Wirtschaft nach 1991 wurden Wahlkämpfe immer teurer. Der Graben zwischen dem zugelassenen Höchsteinsatz und den effektiven Kosten weitete sich aus. Der demokratische Wahlprozess wurde zum wichtigsten Wachstumsfaktor der Korruption.
Entsprechend wuchs auch die Zahl der Kandidaten, die mit einem Bein (oder beiden) in der Haftzelle standen. Gemäss dem Centre for Democratic Reform stehen in dieser Wahl dreissig Prozent aller Kandidaten unter Anklage, ein Drittel davon für schwere Verbrechen.
Dennoch blieb der politische Schlagabtausch bei jeder Wahl spannend, je mehr die Kongresspartei ihre Dominanz einbüsste und sich das Parteienspektrum regional und ideologisch auffächerte. Die Vielzahl von Kandidaten ebenso wie der ideologischen Rezepte führte aber auch zu einer merklichen Verschärfung des Tons, je höher der monetäre Einsatz – und das Risiko einer Niederlage – wurden.
Demagogie kann vieles
Die letzte Wahl im Jahr 2014 schien diesen Trend zu unterbrechen. Narendra Modi, mit einer überfliessenden Wahlschatulle und demagogischem Talent reich gesegnet, produzierte einen wahren Wirbelsturm von Wahlkampf, der die Opposition lahmlegte. Er versprach ein Reich, in dem die Hindus das Sagen haben würden, das aber alle am kommenden Wohlstand teilhaben liesse.
Fünf Jahre später bleibt Modi der weitaus populärste Politiker, aber seine Aura des Wohlstandsmagiers hat er eingebüsst. Damals hatten die Wähler für ihn gewählt, selbst wenn der jeweilige BJP-Kandidat der üblichen schmierigen Politikerkaste angehörte. Würde er auch diesmal das schlechte Image seiner Partei überstrahlen?
Demagogie kann vieles – aber ihre Versprechen löst sie selten ein. So ergeht es auch Modi. Die tiefe Krise der Landwirtschaft, von der immer noch die Hälfte der Bevölkerung lebt, bleibt ungelöst. Auch das urbane Umfeld ist davon betroffen, denn Arbeitsnot treibt Millionen in die Städte und vertieft den Mangel an Jobs.
Angriff auf die bewährten Sündenböcke
Das Desaster der Geldvernichtung hat die Krise noch vertieft – und diesmal kann sich Modi nicht aus der Verantwortung stehlen. Die Zeichen standen also nicht besonders gut, als der Wahlkampf von 2019 einsetzte. Doch quasi rechtzeitig zum Wahlkampfbeginn kam der Terroranschlag in Kaschmir. Modi nutzte die Gelegenheit, mit einer riskanten Strafaktion gegen Pakistan den politischen Gewinn zu kassieren.
Bis heute ist nicht geklärt, wie erfolgreich die Luftangriffe gegen angebliche Terror-Camps waren; und ob die harte Faust Delhis gegen den Bundesstaat Kaschmir den Anschlag provoziert hatte. Doch wie kein Zweiter versteht es Modi, den Spiess umzudrehen und aus einer möglichen Niederlage einen Sieg zu konstruieren. Dank den gefügigen elektronischen Medien wurde aus einer konfusen Strafaktion ein entscheidender Sieg gegen den Erzfeind konstruiert.
Von da war es nur ein kleiner Schritt, um die gesamte Opposition zu pakistanhörigen Landesverrätern zu stempeln. Als dann die Modi-Welle immer noch ausblieb, schossen sich der Premierminister und sein Parteichef Amit Shah auf ihre bewährten Sündenböcke ein: Muslimische Migranten aus Bangladesch und Myanmar, welche die Hindu-Mehrheit (über achtzig Prozent!) gefährden; und die liberale Elite, die mit ihrer Kritik die Rolle des propakistanischen Quislings übernimmt.
„Muslimfresser“
Es wurde, so meinen meine schreibenden Ex-Kollegen, der hässlichste Wahlkampf seit Beginn der Indischen Republik. Modi und Shah sind Strassenkämpfer. Das ideologische Feindschema dient der Mobilisierung einer Armee von gewaltdurstigen Anhängern.
Die Kandidaten-Auslese zeigt ohnehin, dass die BJP inzwischen auf die Unterstützung der muslimischen Minderheit praktisch verzichtet und statt dessen „Muslimfressern“ den Vorzug gibt. In Bhopal nominierte die Partei Pragya Singh Thakur, eine selbsternannte Hindu-Nonne in orangenem Asketenkleid, die gegen Kaution auf freiem Fuss steht. Sie wird von der Anti-Terrorbehörde angeklagt, an mehreren Bomben-Attentaten gegen muslimische Gebetsstätten führend beteiligt gewesen zu sein.
Trotz dieser Strategie der offenen hasserfüllten Konfrontation bleibt nach sechs Wochen Wahlkampf offen, wie überzeugend Modis Partei abschneiden wird. Dies ist in erster Linie der Opposition zu verdanken. Sie versucht zu verhindern, dass das bestehende Majorzsystem die Aufsplitterung der Stimmen auf viele Parteien die relativ grösste Partei – unzweifelhaft die BJP – zur Siegerin macht.
Gift und Gegengift
Es kam zu einer Reihe Wahlabsprachen. So macht etwa die Kongresspartei mit regionalen Parteien gemeinsame Sache. In Indiens grösstem Bundesstaat Uttar Pradesh haben die „sozialistische“ SP und die Dalit-Partei BSP ihr Kriegsbeil begraben und sich auf eine gemeinsame Kandidatenliste geeinigt. Fast ein Drittel seiner Sitze gewann Modi 2014 in diesem Bundesstaat.
Regierende Regionalparteien wie jene in den ostindischen Bundesstaaten Odisha und Westbengalen fühlen sich stark genug, um allein gegen Modi anzutreten. In Westbengalen tut dies Chefministerin Mamata Banerjee, indem sie dem Gegner mit gleicher Münze heimzahlt.
BJP-Chef Shah warf ihr vor, muslimische Migranten aus Bangladesch anzulocken und als „Stimmenfutter“ zu missbrauchen. Banerjee schoss zurück und sprach Modi die Legitimität als Premierminister ab. Derweil setzt ihre Partei den Strassengangs der BJP eigene Schlägerkommandos entgegen. „Gift kann man nur mit Gegengift unschädlich machen“, gab ein Banerjee-Anhänger zu Protokoll.
Einmal mehr: Indien am Scheideweg
Eines ist der Opposition, und namentlich dem Kongress-Präsidenten Rahul Gandhi, nicht gelungen: Den Leistungsausweis der Modi-Regierung zum beherrschenden Wahlthema zu machen. Auch Modi und Shah vermeiden es, darauf sprechen zu kommen. Es ist ein Indiz, dass es kein Ruhmesblatt ist. Sie schiessen sich lieber auf die ‚„andesverräterischen“ Gegner ein.
Nächste Woche geht der Wahlkampf mit der letzten Abstimmungsphase zuende. Am 23. Mai kommt es zur (elektronischen) Auszählung. Da Exit Polls inzwischen verboten sind, lassen sich keine verlässlichen Voraussagen machen. Die meisten Beobachter tippen auf einen Sieg Modis.
Entscheidend wird aber das Ausmass des Siegs (und der möglichen Sitzeinbussen) sein. Wird er ähnlich überwältigend wie 2014, dann hat Modi freie Bahn, an seiner Vision einer starken Hindu-Nation weiterzubauen, mit den Minderheiten als Bürger zweiter Klasse. Doch sollte die BJP trotz einer relativen Mehrheit beträchtliche Stimmenverluste einstecken, wird der Weg ins Hindu-Reich zu einem Umweg, mit Stolpersteinen und lästigen Koalitionspartnern. Einmal mehr steht Indien an einem Scheideweg.