Verglichen mit der mageren Kost von 20 Minuten auf dem Weg nach Kloten war die Ankunft in Bombay ein Festessen. Doch wie so oft bei journalistischen Festessen – es war ein Sauerbraten: Die indische Armee hatte in der Nacht zuvor die Waffenstillstandslinie zu Pakistan überschritten, acht Lager des islamistischen Untergrunds ausgehoben und den seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt in eine neue Eskalationsschlaufe gebracht. Die Zeitungen griffen zu den grossen Balkenüberschriften.
Es war schliesslich das erste Mal seit dem Krieg von 1971, dass indische Armee-Einheiten pakistanisch kontrolliertes Gebiet betraten – und Indien dies der Welt laut verkündete; und auch gleich klarstellte, nicht Artilleriebeschuss habe die Lager zerstört und auch die Luftwaffe habe nicht eingegriffen. Es waren vielmehr Kommando-Einheiten von rund 200 Mann, die in der mondlosen Nacht bis sechseinhalb Kilometer tief ins Feindesgebiet vordrangen.
„Sich nicht von Terroristen einschüchtern lassen“
Selbst der blutige Kargilkonflikt von 1999 war auf indischer Seite ein zweiwöchiger Stellungskrieg gewesen, besorgt von Geschützbatterien. Sie drängten die in Zivil verkleideten Pakistaner über die Waffenstillstandslinie zurück. Es war verständlich, dass die Zeitungen diesmal dem rabiaten Parteichef der regierenden BJP recht gaben, der den „Aufstieg eines neuen Indien“ pries, „das sich nicht mehr von Terroristen einschüchtern lässt“.
Für Amit Shah ist der Bannerträger dieses neuen Zeitalters natürlich sein Chef Narendra Modi. Nachdem ein Selbstmord-Kommando vor zehn Tagen ein indisches Armeelager in Kaschmir angegriffen hatte und dabei achtzehn Soldaten starben, hatte Modi gelobt, dass dieser feige Akt nicht unbestraft bleiben werde.
„Liberale Chimäre“
Es war eine bedeutend harschere Wortwahl als jene im letzten Januar, als Terroristen ebenfalls eine Garnison in Pathankot im indischen Panjab angegriffen hatten. Damals hatte sich Modi zurückgehalten. Er lud seinen pakistanischen Amtskollegen Nawaz Sharif ein, eine gemeinsame Abklärung gegen die Hintermänner des Attentats durchzuführen.
Doch wie so oft versandete die Untersuchung, und der Goodwill verebbte rasch. Damals hatte Sharif noch von der Unschuldsvermutung seiner Zivilregierung profitiert. Pakistans Komplizenschaft wurde einmal mehr den allmächtigen Generälen angelastet. Es ist eine alte indische Argumentation: Sie geht von zwei Machtzentren in Pakistan aus, von denen nur das militärische einen Frieden mit Indien ablehnt. Für die hartgesottenen BJP-Nationalisten ist es eine liberale Chimäre – aber Modi hatte sie zumindest testen wollen.
Getöteter Volksheld
Diesmal allerdings liess sich diese Fiktion nicht halten. Denn das Attentat vom 18.September folgte auf einen heissen Monat von schweren Unruhen in Kaschmir, als Folge der Erschiessung des jungen Kaschmirers Burhanuddin Wani. Dieser hatte sich gebrüstet, ein lokaler Kommandant der „Hizbul Mujaheddin“ zu sein. Sein Katz-und-Maus-Spiel mit den indischen Häschern hatte ihn im Kaschmirtal zum Volkshelden gemacht.
Als Wani schliesslich von indischen Militärs erschossen wurde, kam es zu zahlreichen Demonstrationen, die brutal niedergeschlagen wurden. Pakistan nutzte die anti-indische Stimmung und machte aus Wani einen Freiheitshelden und Märtyrer. Und in der Uno-Generalversammlung war es ausgerechnet Nawaz Sharif, der diese Bezeichnung dort wiederholte – notabene für ein Mitglied der international als Terrororganisation geächteten „Hizbul Mujaheddin“. Nur Monate zuvor hatte ihr Sharif noch einen „gnadenlosen Vernichtungskampf“ angesagt.
Verschaukelter Modi
Narendra Modi fühlte sich verschaukelt, von einem Mann, für den er in einer spontanen Geste nach Lahore gereist war, um ihm persönlich seine Geburtstagswünsche zu überreichen. Der Anschlag auf die Garnison von Uri wurde damit zu seinem Rubikon, denn es waren ausgerechnet die Hizbul Mujaheddin, die sich stolz dazu bekannten. Modi beschloss, ihn zu überschreiten.
Die Vorbereitungen dazu zeigten, dass er nicht blind vor Wut handelte, sondern den Einsatz sorgfältig vorbereitete. Der Angriff erfolgte nicht auf pakistanischem Territorium, sondern in Azad Kashmir, das Pakistan als „freie Region“ einstuft. Auch wenn diese Unterscheidung eine legale Fiktion ist, sollte sie genügen, um Pakistan nicht zu einer Eskalation zu provozieren. Die Kommandoaktion wurde zudem nicht als „Rache für Uri“ ausgegeben, sondern als Präventivschlag gegen Terroristen-Camps, in denen mehrere Infiltrationen von Suizid-Attentätern nach Kaschmir vorbereitet wurden, wie immer im Zeitfenster zwischen Monsun und Winter, wenn die hohen Himalaya-Übergänge noch passierbar sind.
Pakistans Terror-Toleranz
Für den Augenblick scheint Modis Rechnung aufzugehen. Die Nacht-und-Nebel-Aktion erlaubte es Pakistans Armee, sie schnurstracks zu leugnen; es sei ein heftiges Artilleriegefecht gewesen, das in Krisenmomenten routinemässig an Intensität zunehme. Auch die internationale Gemeinschaft kann offensichtlich mit einem „Präventivschlag gegen Terroristen“ leben, ohne gegen Delhi diplomatische Schritte gegen die schwere Grenzverletzung zu unternehmen. Das Communiqué des amerikanischen Staatsdepartements begann vielmehr mit einer erneuten Verurteilung des Terrorangriffs vom 18. September und machte indirekt Pakistan für die indische Reaktion darauf verantwortlich. Auch Russland beschwerte sich über Pakistans Terror-Toleranz, und selbst China stellte sich nicht hinter seinen Allwetterfreund.
In Indien selber allerdings nehmen die Medien das Datum des 28. September als ein historisches wahr. Für sie ist der Grenzübergriff dieser Woche auch die Überschreitung einer weit wichtigeren Grenze, die Indiens jahrzehntelange „strategische Zurückhaltung“ erstmals deutlich hinter sich lässt. „Strategic Restraint“ war der Ausdruck der pazifistischen Grundhaltung der Staatsgründer Gandhi und Nehru, für die militärische Konflikte moralisch dubios waren.
Crazy Generals und crazy Mullahs
Sie erhielt zusätzliches Gewicht, als die verfeindeten Nachbarn 1999 ihr Arsenal mit Atomwaffen zu bestücken begannen. Im Jahr 2001, als Attentäter das indische Parlament zu stürmen versuchten, mobilisierte Delhi die Armee. Aber es verzichtete auf einen militärischen Erstschlag, aus Angst vor einer Nuklearisierung des Konflikts, sollte Pakistan in eine unvermeidliche konventionelle militärische Niederlage hineinrutschen.
Islamabad hat mit der atomaren Eskalationstheorie weiterhin erfolgreich gespielt. Sie bietet ihm einen strategischen Schirm, hinter dem es seine „low-intensity warfare“ gegen Indien weiterführen kann. Das pakistanische Establishment fördert sogar, wie mir einmal ein pakistanischer Freund versicherte, die internationale Angst vor einer islamistischen Übernahme des Landes, in deren Händen eine „Islamische Bombe“ eine enorme Gefahrensteigerung darstellen würde. „Even Indians agree that crazy Generals are preferable to crazy Mullahs.“
In den sauren Braten beissen
So erstaunte es nicht, dass der pakistanische Verteidigungsminister Khwaja Asif noch am letzten Dienstag versicherte, sein Land werde nicht zögern, mit „taktischen Atomwaffen“ auf eine Aggression Indiens zu antworten. Doch nun könnte die unerwartet zahme Reaktion Islamabads auf Modis quasi-militärische Herausforderung bedeuten, dass diese Blase geplatzt ist. Mehr noch: Das ständige Fuchteln mit der Atomwaffe hat dazu geführt, dass der internationale Druck auf Pakistan zunimmt, sich endlich seiner Terrorwaffe zu entledigen.
Auch Pakistans südasiatische Nachbarn reagierten ähnlich. Mit Ausnahme Nepals und der Malediven haben alle Mitglieder des Regionalpakts SAARC ihre Teilnahme am nächsten Gipfeltreffen in Islamabad abgesagt und den verdeckten Waffengang Delhis gutgeheissen. Es scheint, dass Nawaz Sharif in den sauren Braten beissen muss, den ihm Modi diesmal vorgesetzt hat. Aber ebenso sicher ist, dass seine Generäle derweil die Messer wetzen, um weiterhin ihrem alten Stratagem gegen den ungeliebten Grossen Bruder nachzuleben: Nicht Surgical Strikes, sondern Death by a thousand small cuts.