Vom Capitol aus hat man einen 180-Grad-Blick auf den schönsten Platz von Bombay. Er wird beherrscht vom massiven und doch filigranen Bahnhofsgebäude, dem neugotischen "Victoria Terminus". Links daneben, im gleichen indo-sarazenischen Stil gebaut, das Stadthaus, über dessen Stirnfront ein Turm in die Höhe geht, der die "multikulturelle Architektur" buchstäblich auf die Spitze treibt, eine kuriose Mischung von Kirchturm und Minarett. Dahinter eine Reihe weiterer Kolonialbauten, jede denkmalwürdig: Times of India, Madam Cama Hospital, Esplanade Court, St.Xavier’s College. Rechts vom Bahnhof geht die Kirchturmpolitik mit dem General Post Office weiter, einem Kuppelbau, der einer Moschee genauso ähnlich sieht wie der Bahnhof einer Kathedrale.
Das doppelte Zahnweh
Wäre da nicht der brandende Verkehr – sieben Strassen münden in den Platz und verwandeln ihn in eine Kreuzung – müsste so viel säkulare Frömmigkeit eigentlich zur Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe führen. Nicht nur der Verkehr verhindert dies, auch die restlichen 180 Grad Blickwinkel tragen das Ihre dazu bei. Hier stehen ebenfalls Vorzeigebauten des 19.Jahrhunderts, doch nur noch die Namen – Hotel Majestic, Hotel Empire Royal, Capitol Theatre – erinnern daran. Die Fassaden sind mit Plakaten vollgeklebt oder mit schiefhängenden Firmenaufschriften versehen, und sonst blättert der Putz. Nur eine davon hebt sich ab. Über dem löchrigen Dach des Capitol prangt ein weisses Leuchtschild, das ein einziges Wort ziert: "Zähne".
Es war dieses deutsche Wort, das mich das Capitol Theatre überhaupt erst wahrnehmen liess, als ich in den vergangenen Wochen immer wieder den Bahnhofplatz überquerte. Gleich doppeltes Zahnweh hatte mich hierher getrieben. Zum einen waren es ganz normale Zahnschmerzen, die mich auf den elektrischen Stuhl von Dr.Rohini Coutinho brachten. Dann liessen mich auch die klaffenden Löcher in meinem Aufenthaltsstatus regelmässig zur Fremdenpolizei pilgern, in ein abgetakeltes Wohnhaus hinter dem Cama Hospital. Dort würde nächstens entschieden, ob der angedrohte Deportation Order das Ende meines indischen Gastrechts bedeuten würde.
Die wichtigen Papiere
Dass ich meine Grey Card dann doch noch rechtzeitig in Händen hielt, verdankte ich schliesslich der säkularen Kraft des Staats, in diesem Fall des schweizerischen. Eine Nebenrolle beim Indien-Besuch von Bundesrat Alain Berset hatte die Botschaft bewogen, sich für mich einzusetzen. Auch der Hl. Franz Xaver hatte am Ende vielleicht noch seine Hand im Spiel. Tage vor der Ausweisung verlangte das FRRO nämlich plötzlich ein Indemnity Certificate auf Stempelpapier mit notariell bestätigten Unterschriften von meiner Frau und mir.
Wie konnte dies gut gehen, fragte ich mich bestürzt, als ich an jenem Freitagmittag zum Esplanade Court rannte. Der Büroschluss stand bevor, und es folgten mehrere Feiertage. Meine Frau war irgendwo unterwegs, für ein anderes Dokument. Auf der Mauerbrüstung vor dem Gericht sassen Männer, vor ihnen ein Schemel mit uralten Schreibmaschinen bestückt. Es waren die Verfasser von Gerichtspetitionen, die nur in Maschinenschrift entgegengenommen wurden.
Beeindruckende Sauberkeit
Ich rannte auf den erstbesten zu, er spannte das Urkundenpapier in die alte Underwood, klapperte den Vorlage-Text ab, riss ihn heraus und rannte ins Gerichtsgebäude. Zehn Minuten später kehrte er mit dem Dokument zurück, mit Stempeln und Siegeln übersät. Selbst die Unterschrift meiner Frau war bestätigt – obwohl sie noch fehlte. „It was difficult‚ but I manage”, sagte Francis d’Souza. “I see you are Christian also, so I feel, I must help you.”
Auch die Zahnärztin hatte einen portugiesischen Namen, aber dies war neben ihrer Adresse im Capitol das einzige koloniale Relikt. Wer den dunklen Hauseingang einmal gefunden hatte und von der knarrigen Holzstiege in ihre Praxis trat, wurde fast geblendet von deren kühlen weissen Pracht. Konservenmusik war im Hintergund zu hören - von Pachelbel bis "Oh Champs Elysees" - und die Sauberkeit weckte fast zwanghaft das Bedürfnis, die Schuhe auszuziehen und die Hände zu waschen; umsomehr als das Personal – es waren nur Frauen – barfuss herumschwebten.
Das vernachlässigte Opernhaus
Es war schwierig, sich des Ätherdufts der Symbolik der architektonischen Zeichenwelt rundherum zu erwehren: Die Kolonialbauten, die Indien sorglos mit der Patina von Dreck und Vernachlässigung versehen und damit assimiliert hat; mitten in diesem bröckelnden Mauerwerk eine Zahnklinik, in der jede sterilisierte Pinzette aus einem frisch aufgerissenen Zellophanumschlag gezogen wird.
Nach einer Behandlung zeigte mir Dr. Coutinho einmal die hinteren Räume des Capitol. Als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, stand ich plötzlich auf der Estrade über einem grossen Publikumsgraben, verstaubt und gähnend leer, die Stukkaturen und Teak-Balustraden intakt: Es war das erste Opernhaus der Stadt Bombay gewesen. Was in jeder anderen Weltstadt restauriert und zur Besucherattraktion aufsteigen würde, dämmert hier vergessen dahin.
Doch dann war da auch das weissschimmernde Plakat auf dem schiefen Ziegeldach, mit seiner zischenden deutschen Vokabel. Der indische Staat war nicht nur lethargische Ineffizienz. Er hatte, so sinnierte ich, ebenfalls Zähne gezeigt und mich ins Messer laufen lassen, als ich es wagte, ohne gültigen Einreisestempel ins Land zu platzen. Ich hatte nur den Schlendrian der Beamten im Hinterkopf, die erwartungsvollen Blicke von Korrumpierbarkeit in ihren Gesichtern. Sie würden sich schon bereden lassen, mir ein Temporär-Visum auszustellen, lang genug, um mir einen Ersatz-Ausweis zu beschaffen.
“You are one of us”
Nichts da. Die Beamten waren höflich, freundlich fast – und beorderten den Flughafen-Manager der SWISS zu sich, damit er mir einen Sitz in der abflugbereiten Maschine freimache. Und als ich dann doch eine Galgenfrist zugestanden erhielt, machten die Berufskollegen hinter dem Victoria Terminus mir klar, dass ich in zwei Wochen das Land verlassen müsse, Zahnweh hin oder her. Erst als eine diplomatische Botschaft des Generalkonsulats in Stellung ging, liessen sie sich erweichen; insgeheim rechneten sie wohl weiter damit, dass ich das komplizierte Prozedere keineswegs rechtzeitig würde abschliessen können. Dass es dennoch gelang, war, neben dem Einsatz meiner indischen Familie, ein bisschen auch Francis d’Souza vor dem Esplanade Court zu verdanken.
À propos Familie. Sie ist das archetypische Destillat meiner dreissig Jahren Indien-Erfahrung, die Einsicht in das Primat der Familie, in allen Lebenslagen, sogar einer Beamtenstube im Hauptquartier der Kripo. Das lange Antichambrieren hatte Ärger und Ungeduld allmählich aufgeweicht, man kam ins Gespräch, witzelte über sich selber; einmal erhielt ich sogar einen Tee serviert. Eins ergab das andere. Ein Beamter erkundigte sich nach dem offiziellen Status der Enkelkinder, ich machte eine Bemerkung zur Kochkunst der Gemahlin, als zur Mittagszeit die Tiffin-Box geöffnet und die Chappatis entfaltet wurden. Und plötzlich, aus dem Nichts, die Bemerkung: „Twenty-eight years in India! That’s a long time.” Dann, nach einer Pause, und fast ohne Ironie: “You are one of us.”