Sie hat schon etwas für sich, diese Wendung „vom hohen Ross“. Man sitzt nicht nur hoch über Menschen, selbst wenn sie aufrecht stehen; das Pferd ist ja auch eine Waffe – bei Polizei-Einsätzen etwa, früher auch als Schlachtross. Seine latente Gefährlichkeit wirkt also zusätzlich einschüchternd; und herablassend.
Vier Tage ritten wir in Rajasthan durch Dörfer, über Felder, Salzebenen und durch hohes Schilfgras, jeden Tag vier bis sechs Stunden. Doch keinen Augenblick lang hatten wir das Gefühl, Herrenreiter zu sein. Wenn das Sprichwort vom „hohen Ross herab“ für uns eine Bedeutung hatte, dann war es der bange Gedanke, was wohl passieren würde, wenn wir von dieser Höhe auf den Boden herabstürzen würden.
Nicht nur diese Aussicht hielt uns oben auf dem Sattel und unten auf dem Boden der Realität. Es war auch die Reaktion der Leute, die von unserer kleinen heranpreschenden Schwadron überrascht wurden – die im Sand spielenden Kinder und die Greisinnen, die unter dem Türrahmen sassen und Erbsen schälten, die Bauern auf dem Feld, Fahrradfahrer, Frauen mit Tonkrügen auf dem Kopf, und der Schafhirte, der lange Stab quer über den Schultern liegend, Hände und Arme lässig daran gehängt. Am meisten überrascht waren die Büffelherden auf ihrem Heimweg am Abend, die im Staub davonstoben.
„Pferde sind am Anzug!“
Wir ritten meist durch eine Gegend ohne Strassen, ohne Verkehrslärm, auf staubigen Wegen, quer durch Savannengras oder über frisch gepflügte Felder. Wir waren ungebetene Gäste, aber für unsere unfreiwilligen Gastgeber waren wir wohl eher ein lustiges Intermezzo als eine heranstürmende Gefahr.
Mit unseren Betreuern waren wir zwischen zehn und zwölf Reiter, deren Getrappel in der Stille der weiten Landschaft offensichtlich schon von weit her zu hören war. Noch bevor wir ein Dorf erreicht hatten, waren die Kinder bereits aus Häusern und Büschen herausgelaufen. Sie schlugen fröhlich Alarm, Frauen hielten mit dem Wasserhochziehen am Brunnen inne, ein Bauer rief ins Haus hinein „Ghode Aaye!“ – Pferde sind am Anzug!
Im Hindi heisst „Ghoda“ „Pferd“. Das „d“ ist ein Schnalzlaut, der weit hinten geformt wird und daher wie ein halbes „r“ daherkommt – und ‚„Ghora“ heisst ‚„Weisser“, „Ausländer“. Unser Begleiter Devdutt Singh erklärte mir einmal lachend, manchmal höre er „Pferd“ und manchmal „Weisser“. Neben einer Australierin war ich das einzige diesbezügliche Exemplar – der Rest der Kavalkade bestand aus Mitgliedern meiner indischen Familie.
Ein bisschen perplex
Ob weiss oder Pferd oder beides, unsere Publikum zeigte sich weder ängstlich noch unterwürfig, höchstens ein bisschen perplex darüber, dass Weisse mit dem Fortbewegungsmittel der Rajput-Krieger daherkamen. Aber vielleicht galt das Staunen gar nicht unserem Vehikel, sondern der Tatsache, dass überhaupt jemand bei ihnen vorbeischaute.
Das mit der Unterwürfigkeit gilt es allerdings einzuschränken. Wenn wir uns am Abend irgendeiner alten Festungsanlage näherten – unserem üblichen Nachtquartier – sahen wir plötzlich, wie Leute ihr Fahrrad anhielten oder das Ochsengespann zum Stehen brachten – und ihre Hände falteten und sich verneigten.
Ich merkte rasch, dass die Demutsgeste nicht uns Ghod/ras galt. Sie war für unseren jeweiligen Rittmeister bestimmt, der meist ein Mitglied aus einer der lokalen Adelsfamilien war. Es waren diese jungen Männer, die vor einigen Jahren mit alten Schulkollegen aus Delhi die Bijaypore Horse Safari gegründet hatten und sie im Turnus begleiteten.
Ein Schwert im samtbezogenen Schaft
Reitbegleiter oder nicht, und in welchem Alter auch immer – der Respekt vor dem feudalen Landadel scheint immer noch einer gelebten Tradition anzugehören, genauso wie die Einfachheit und Armut der Dörfer, die Holzpflüge und Ochsengespanne. (Es gab hie und da einen Traktor zu sehen, es gab Stromleitungen und – die dritte Konzession an die Moderne – jedes Dorf hatte eine Schule.)
In Bhowrani, wo Devdutt Singh der lokale Thakur – Landlord – ist, sahen wir dies an einem Morgen bei einer Bauern-Versammlung, kurz bevor wir wieder aufsattelten. Sie sassen im Innenhof von Singhs Stadthaus, in blendend weissen Dhotis und prächtigen Turbanen. Vor ihnen sass der Raja, nur durch ein Kissen erhöht – und durch das Schwert, das neben ihm lag, wohlweislich im samtbezogenen Schaft.
Wir verstanden nicht recht, über was verhandelt wurde, aber umso deutlicher lag die soziale Auslegeordnung vor uns: Der Raja, der nach ein paar Paukenschlägen zu reden begann, während seine Hand lässig über die goldene Halskette an seiner Brust glitt; die Bauern, die ihrem ehemaligen Lehensherrn demütig lauschten, der dreijährige Thronfolger, auch er in Weiss gekleidet, lief in seinen blauen Mokassins zwischen den Bauern herum, jeder von ihnen ein Chacha – Onkel.
Demutsgeste
Bevor die Versammlung zur Tagesordnung überging, kam es zur Zeremonie des „Opiumwassers“: Ein Mann mitten in der Zuhörerschaft sitzend, zerrieb in einem Mörser einen kleinen Opiumblock, und streute das Pulver in einen Kupferbehälter mit Wasser. Ein zweiter Mann ging damit zum Thakur, schüttete ein bisschen in seine eigene Handfläche und offerierte sie dem Raja. Dieser schlürfte, dreimal, das Wasser direkt aus der Hand des Bauern.
Es war eine dieser ausserordentlichen Gesten, die in Indien unerwartet auftauchen: Das Opium soll die Versammlung versöhnlich stimmen, den „Richter“ gleich wie die „Bittsteller“, den hochkastigen Landlord wie seine (früheren) Pächter.
Der Akt des Trinkens bedeutete aber noch mehr. Mit seinen Lippen berührte das feinrasierte Gesicht des Adligen die schwielige grobe Bauernhand und empfing das Geschenk von Wasser. Für eine Gesellschaft, in welcher Kastenhierarchie durch Vermeiden der rituell beschmutzenden Berührung ausgedrückt wird, war dies eine ausserordentliche Demutsgeste. Auf subtile Art stellte sie wieder ein Gleichgewicht her.
„Sie sorgen für unsere Sauberkeit“
In einiger Distanz zur Veranda mit der versammelten (männlichen) Dorfgemeinschaft, und zwei Treppenstufen darunter, im Sandboden, sass derweil eine kleinere Gruppe von Männern. Ihre Turbane waren fast noch leuchtender als die der anderen Teilnehmer, alle in der gleichen grellen Rosafarbe.
Zuerst meinten wir, es sei wegen des schattigen Baums, dass sie abseits sassen. Doch später, als wir nebeneinander durch die Graslandschaft Rajasthans ritten, klärte mich Devdutt Singh auf: Diese Männer sind Bhangis, gehören also der Kaste der Dalits an. „Sie sorgen für unsere Sauberkeit, reinigen die Kanäle und die Strassen“, sagte er sachlich.
Da war sie wieder, diese paradoxe Doppelrealität Indiens: Eine Gruppe von Menschen, die immer noch „aussen vor“ bleiben, die rituelle Unberührbarkeit sichergestellt durch die räumliche Distanz, und, so erfuhr ich, durch das Rosa der Turbane (bzw. den Saris bei den Frauen). Doch auch sie waren Teilnehmer, und sie trugen die Turbane ebenso patriarchalisch stolz wie die höherkastigen Bauern.
Hartnäckiges Festhalten an Riten und Gesten
Nicht genug damit, dass das Opiumwasser „oben“ seine Runden gemacht hatte. Nun kam der Mann, dem der Raja „aus der Hand“ getrunken hatte, die beiden Treppenstufen herab. Er goss wiederum Wasser nach, jeder Dalit beugte sich über seine Hand und schlürfte. Alle wussten, dass der Graben der Kastentradition weiterhin bestand – und dass er auch überbrückt wurde.
Ein mehrtägiger Ritt durch eine abgelegene Region Rajasthans mag das Sitzleder arg strapazieren und auch den einen oder anderen harmlosen Sturz provozieren. Es ist aber eine Form touristischer Fortbewegung, die nicht auf das Automobil angewiesen ist, nicht auf die Strasse, den Verkehr, die Verbindung zu Stadt – und damit auch nicht auf die Moderne. Und er hinterlässt die Erinnerung einer kleinen Liebesgeschichte, zwischen Pferd und Reiter.
Es ist nicht das „ewige Indien“, das sie bietet, obwohl ich oft an das Reisen vor vierzig Jahren erinnert wurde. Aber es ist auch nicht ein Indien, das sich seiner ewigen Traditionen entledigt hat, sei es aus Not – die Armut ist allgegenwärtig – oder aus freiem Willen; im hartnäckigen Festhalten an Riten und Gesten, die den Lebenshorizont immer noch mit Bedeutung füllen.