Plötzlich ist Indien aus dem euphorischen Wunschtraum einer erfolgreichen Covid-Politik erwacht und weiss nicht mehr aus und ein. Die Infektionen vermehren sich in atemloser Eile, und den Spitälern fehlt es an allem, was die Behandlung der schweren Fälle sicherstellen würde: Personal, Betten, Ventilatoren, Sauerstoff, Medikamente, Transport-Infrastruktur.
Die atemlose Eile verbindet sich symbolträchtig mit der Atemnot, in der sich tausende von Patienten befinden. Vielen wird nur ein Minimum an Sauerstoff zugeführt, um sie am Leben zu erhalten und die Knappheit von Sauerstoffreserven zu bewältigen. Täglich kommen nun Nachrichten, laut denen Patienten an den Folgen mangelnden Sauerstoffnachschubs gestorben sind; selbst im reputierten Ganga Ram Hospital in Delhi starben am Donnerstag 25 Menschen.
Panik wegen schwindender Reserven
Plötzlich sind die unförmigen, schweren Stahlflaschen zum kostbarsten Gut des Landes geworden. Jeder Lastwagen wird argwöhnisch beäugt und beim Entladen durch Personal abgeschirmt. Statt die Transporteure rasch durchzuwinken, werden sie von der Polizei angehalten; sie will kontrollieren, ob es sich um Diebesgut oder eine legitime Warenlieferung handelt. Ein Minister der Provinzregierung von Delhi warf dem Nachbarstaat Haryana vor, Sauerstofflieferungen für die Hauptstadt in seine eigenen Spitäler umzuleiten. An der Börse machte eine Firma namens Oxygen Investments einen riesigen Kurssprung; sie hat jedoch höchstens etwas mit dem Sauerstoff namens Geld zu tun.
Am 18. April löste eine Bekanntmachung des Fortis-Krankenhauses in Gurgaon, der Satellitenstadt Delhis, eine Panik aus. Die Sauerstoffreserven seien in 45 Minuten aufgebraucht, lautete der Notruf. Am Tag darauf kanzelte das Obergericht die Zentralregierung regelrecht ab. „Beg, borrow or steal – but for heaven’s sake, do something!“, liess es sich vernehmen. Bereits hat sich ein Schwarzmarkt für medizinischen Sauerstoff gebildet. Im „Indian Express“ las man, Familien hätten sich ein Notfall-Bett verschaffen können, weil sie mit dem Patienten auch die Sauerstoffflasche mitbrachten.
Tausende von kleinen Industriefirmen, besonders aus der Chemie und Metallverarbeitung, müssen sich auf demselben Markt nun teuer versorgen. Der Grund: Gross-Lieferanten, namentlich aus der Stahl- und Erdölindustrie mit ihrer hauseigenen Sauerstoff-Herstellung, satteln rasch auf medizinischen Sauerstoff um, um die akute Notlage nicht in eine Katastrophe ausarten zu lassen.
Den nahezu hysterischen Aufruf des Delhi-Gerichts erklärte das Nachrichten-Portal „Scroll.in“ seinen Lesern wie folgt: Noch vor einigen Wochen habe die Regierung Modi erklärt, es bestehe kein Grund zur Panik. Die landesweite Produktion von industriellem Sauerstoff betrage 7100 Tonnen pro Tag. Die Spitäler benötigten „nur“ 3800 davon; zudem bestehe eine Reserve von 50’000 Tonnen.
Nun hat sich aber im gleichen Zeitraum die Zahl der Infektionen verdoppelt – von 1,2 auf 2,4 Millionen aktive Fälle. Damit ist auch der Bedarf an medizinischem Sauerstoff auf 8000 Tonnen pro Tag gestiegen – mehr als die landesweite Produktion. Selbst wenn die täglichen Fallzahlen wider Erwarten stabil blieben, selbst wenn alle Industriezweige mit Ausnahme der strategisch wichtigen ihren Konsum zurückstellten, zeichne sich damit in zwei Monaten eine Erschöpfung der Reserven ab. Nun hat die Regierung reagiert. In grosser Eile erliess sie eine Notfall-Ausschreibung für den zollfreien Import von 50’000 Tonnen.
Gefährliche Sorglosigkeit der Regierung
Die Fahrlässigkeit, mit der die Regierung Modi, trunken von ihrem selbstverkündeten Sieg über Covid, die zweite Covid-Welle heranrollen liess, lässt sich auch mit dem fatalen Zwischenfall in einem Spital der Stadt Nashik, hundert Kilometer östlich von Mumbai, illustrieren. Dort war bereits vor einem Jahr ein industrieller Sauerstoff-Behälter installiert worden. Doch er wurde nie funktionstüchtig gemacht, weil die Ansteckungszahlen nach der ersten Welle zurückgingen.
Dann wendete sich das Blatt. Die Zahl der Intensiv-Patienten stieg plötzlich an und die Anlage wurde in Eile instandgestellt; nicht sorgfältig genug, wie sich zu Wochenbeginn zeigte. Ein Sockel des Behälters knickte ein, er verschob sich, beim Leitungsanschluss entstand ein Leck, Sauerstoff begann zu entweichen. 127 Patienten bekamen nicht mehr genug Luft zum Atmen. Vierundzwanzig erstickten.
Wer gehofft hatte, dass sich Premierminister Modi mit seinem Image als entschiedener Macher nun in „mission mode“ bringen würde, sieht sich getäuscht. Immerhin hat er seine Wahlkampfreden für die vier anstehenden Provinzwahlen – 38 „Grosskampf“-Veranstaltungen mit Hunderttausenden von Teilnehmern – fürs Erste sistiert.
Vor einer Woche wandte er sich an die Nation. Jedermann erwartete einen Massnahmenkatalog mit Notfallgesetzen, Roadmap und Mobilisierung von Armeediensten. Stattdessen appellierte er bei der Prävention einmal mehr an die Disziplin der Bürger. Er rief die Jungen und Mädchen des Landes auf, Teams zu bilden und in der Nachbarschaft das Maskentragen durchzusetzen.
Immerhin lockerte er die zentralisierte Impfverwaltung. Ab sofort wird Delhi den Bundesstaaten nur noch fünfzig Prozent der benötigten Impfdosen liefern; den Rest dürfen sie sich direkt auf dem freien Markt besorgen. Die drei wichtigsten Impfstoff-Hersteller erhalten zinsfreie Darlehen, um ihre Produktion hochzufahren. Zudem werden die Binnenzölle für den Transport von Impfdosen und medizinischen Gütern wie Sauerstoff ausgesetzt. Dasselbe gilt für Einfuhrzölle und Not-Zertifizierungen für Impfstoff wie Sputnik V.
Auch Privatspitäler sollen ab sofort die gleichen Freiheiten beim Testen und Impfen erhalten. Ab 1. Mai wird zudem die Altersgruppe der 18- bis 45-Jährigen zur Impfung zugelassen, obwohl von der nächsthöheren Alterskategorie (45+) erst ein Viertel eine erste Impfung erhalten hat.
Allein diese Liste zeigt, wie lange die Regierung brauchte, nur um den Weg freizumachen für naheliegende (und schmerzlose) Massnahmen: die bisher fehlende Mobilisierung von Privatspitälern, das enge Netz bürokratischer Hemmnisse bei Produktion und Vertrieb, das Abseitsstehen beim Einsatz staatlicher Finanzmittel bei der Impfdosenproduktion.
Befürchteter Preiskrieg um Imfstoffe
Die ersten Reaktionen der Bundesländer waren zunächst positiv, hatten sie doch schon lange die zentrale Steuerung der Akquisition und Vertriebswege kritisiert. Doch je genauer sie sich das Geschenk des Premierministers ansehen, desto fragwürdiger erscheint es ihnen. Viele von ihnen befürchten einen Preiskrieg. Das Serum-Institut – der weitaus grösste Lieferant von Astra-Zeneca-Impfdosen – zögerte nicht, sogleich eine Preiserhöhung in Aussicht zu stellen. Grosse Gliedstaaten wie Maharashtra, wo das Serum-Institut angesiedelt ist, könnten nun billiger und prioritär einkaufen.
Wie im letzten Jahr, als Modi die Verantwortung für die Migranten den Bundesstaaten übergab, haben viele von ihnen das Gefühl, dass der Schwarze Peter einmal mehr in ihrer Hand gelandet ist. Delhi wird seine Impfdosen weiterhin für knapp 200 Rupien (etwas über 2 Euro) beziehen und sie gratis an die restlichen 300 Millionen der über 45-Jährigen abgeben. Das sollte genügen, um die Popularitätswerte des Premierministers konstant hoch zu halten.
Die Kohorte der 18- bis 45-Jährigen ist mit 600 Millionen noch viel grösser. Der neue Richtpreis des Serum-Instituts von 400 Rupien ist aber für die ohnehin überschuldeten und unterfinanzierten Staaten ruinös, müssten sie ihn selber berappen. Premierminister Modi hat ihnen freigestellt, ihn den Impfempfängern in Rechnung zu stellen – mit dem politischen Zusatzpreis, den sie dafür bezahlen müssen.
Die Frage stellt sich, wie sich eine kostenpflichtige Injektion auf die Impfbereitschaft der Bevölkerung auswirken wird. Die Zentralregierung scheint davon auszugehen, dass die sich ausbreitende Panik diese Hemmschwelle beiseite wischen wird. Das ist aber nicht unbedingt so, besonders nicht bei den rund 350 Millionen Jungen im Alter von 18 bis 25. Sie sind ohnehin viel knapper bei Kasse als die Alten, die gratis davonkommen. Bei ihnen ist wohl auch die Bereitschaft – sprich: der Leichtsinn – grösser, das Ganze als Theater abzutun.
Für den Augenblick ist das Impfen als einzig wirksame Langzeitwaffe ohnehin in den Hintergrund geraten. Jetzt gilt es zuerst einmal, nicht angesteckt zu werden. Selbst das Testen ist nicht mehr so dringend, denn inzwischen weiss jede Person, dass sie (angesichts der hohen Zahl symptomfreier Krankheitsverläufe) vielleicht schon angesteckt ist.
Zudem ist der Impfprozess nach einem Viertel der 400 Millionen Senioren ins Stocken geraten. In meinem Wohnortsbezirk Alibagh werde ich seit einer Woche mit der Erklärung abgefertigt, der Impftermin für meinen 47-jährigen Angestellten Viraj müsse erneut verschoben werden. 52 Impfzentren wurden geschlossen, um die Salärkosten des Hilfspersonals einzusparen. Ein weiteres Motiv: Sie wollen Ansteckungen unter ihren Helfern vermeiden. Bei der Flut von Fragestellern, die sich für ihren Termin eingefunden haben, ist jedes Impfzentrum ein potentieller Superspreader.