Dennoch gibt es einige Gesetzmässigkeiten, die sich über alle Widersprüche hindurch halten. Zu ihnen gehört die paradoxe Fähigkeit des Landes, immense logistische Herausforderungen zu bewältigen, aber bei banalen Alltagsproblemen – Reparatur einer Telefonleitung, Anfrage nach einer Zugsabfahrt, Zuschütten eines Grabens – zu versagen.
Eine dieser Herausforderungen, die das Land wiederum vorbildlich bewältigt hat, kam jetzt zum Abschluss, und zwar in der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März. Um Mitternacht schwärmten in allen Bahnhöfen, Schiffs- und Flughäfen Hunderte von Offiziellen aus und befragten die Reisenden; andere durchstreiften Züge, fuhren auf Schiffen und zählten die Passagiere.
Gleichzeitig wurden Hunderttausende von Menschen aus ihrem Schlaf gerissen, die in den Strassen, unter Brücken, entlang Eisenbahntrassen ihr Nachtlager eingerichtet hatten – und dies nicht nur in den grossen Metropolen, sondern in 8000 weiteren Städten des Landes. Allein in Mumbai waren es 2600 ‚Enumerators‘, die mit grossen A3-formatigen Formularen zu den Schlafenden auf dem Boden niederkauerten und begannen, Fragen zu stellen.
Es war der Abschluss der Volkszählung des Landes, das Sammeln der letzten Reste einer Bevölkerung von 1200 Millionen Menschen.
Gezählt wird in 8011 Städten und 649'989 Dörfern
Die meisten gaben bereitwillig Antwort. Während Monaten war über die Medien – Fernsehen, Radio, Plakate, Kinos, Flugblätter, Schulen, Strassentheater – die Botschaft des bevorstehenden Zensus übermittelt worden. Es war die fünfzehnte Volkszählung seit 1872.
Von den zahlreichen komplexen Vorbereitungs- und Durchführungsschritten war die Ankündigung noch eine der leichteren Aufgaben. Die erste Herausforderung war der Umfang des Unternehmens. In den drei Wochen zwischen dem 9. und 28. Februar 2011 gingen 2.7 Millionen Beamte von Haushalt zu Haushalt, nicht nur in die 8011 Städte des Landes, sondern in jedes der 649‘989 Dörfer, um die 300 Millionen Haushalte, insgesamt rund 1.2 Milliarden Menschen, zu erfassen.
Für jeden Haushalt gibt es ein Formular (fortlaufend numeriert und mit Strichcode), mit 29 Fragen – nach der Familiengrösse, dem Alter, dem Geschlecht, den Geburtsdaten, der Beschäftigung, der Schulbildung, dem Gesundheitszustand. Dies scheint einfach genug. Aber Indien ist eine komplexe Gesellschaft, mit über 6000 Sprachen und Dialekten, und mit allen geschichtlichen Phasen gesellschaftlicher Organisation zeitgleich nebeneinander. Und was für eine städtische Mittelklasse-Familie selbstverständlich ist, kann eine Dorffrau perplex lassen. Das Alter? Sie greift sich ins Haar, zeigt auf dessen graue Farbe, und sagt: "alt".
Manchmal erhalten Mädchen nicht einmal einen Namen
Das ist manchmal besser, als wenn sie eine Antwort gibt, die mit einer Null oder Fünf endet, was oft geschieht, denn diese Zahlen bringen Glück, und das ist manchen wichtiger als Genauigkeit. Daher enthält das Formular, um sicherzugehen, zwei Fragen: eine nach dem Alter, und eine nach dem Geburtsdatum. Nicht einmal die Geschlechtsangabe ist ein binäres Entweder/Oder. Denn da hat nun die Behörde auch den Transsexuellen eine eigene Box zum Abhaken bereitgestellt.
Wie viele Kinder hat die Frau? „Zwei Kinder“, und dann, nach einem Augenblick, „und zwei Mädchen“, kann die Antwort etwa lauten, die unbewusst nur Knaben den Status von Kindern zuerkennt. Manchmal haben die kleinen Mädchen nicht einmal Namen, da es für sie keine Namenszeremonie gibt und der Rufname erst im Lauf der Jahre hängenbleibt.
Und wenn sich dann die nächste Frage nach dem Alter der Kinder erkundigt, oder gar wie alt sie waren, als sie starben – wichtige demografische Parameter, gerade für die Feststellung von Diskriminierung gegenüber dem ‚girl child‘ – wird es vollends schwierig, genaue Antworten zu erhalten.
Die Grösse des Grabsteins zeigt das Alter an
Von Nachprüfen im Familienbüchlein keine Spur. Die Fragesteller müssen schon froh sein über die Antwort, die einer von ihnen in einem Stammesdorf in den Nilgiri-Bergen in Südindien erhielt. Dort gedenken die Bewohner jedes Verstorbenen mit dem Platzieren eines Steins, dessen Grösse je nach Alter variiert und deshalb eine gute Schätzung zulässt. In Kaschmir dagegen war die Frage nach toten Kindern oft ein herzzerreissender Augenblick, weil sie, nach zwanzig Jahren Bürgerkrieg, immer wieder alte Wunden aufriss. „Zum Glück ist es Frage 28“, sagte ein Beamter dem Reporter des ‚Indian Express‘. „Denn oft können sich die Leute danach nicht mehr richtig konzentrieren“.
Nur schon die Personen zu erreichen, kann strategische Vorbereitungen erfordern. Im ‚Express‘ stand diese schöne Geschichte von den Sentilenesen auf den Andamanen-Inseln, von denen es nur einige Dutzend Familien geben soll und die jeden Kontakt mit der Aussenwelt ablehnen. Aus Booten wurden Kokosnüsse und rote Tuchballen ins Wasser geworfen. Dies brachte die scheue Dorfbevölkerung an den Strand zurück, nachdem sie beim Lärm der Motoren zunächst in den Wald geflohen waren. Videokameras filmten von den Booten aus die Menschen, während sie die Geschenke aus dem Wasser fischten. Aufgrund der Aufnahmen wurden sie später gezählt, und auf gut Glück nach Geschlecht und Alter eingeschätzt.
Bei mir läutete kein Volkszähler
Letzte Woche begleitete ich Ashwini Jadav, als sie in meinem Nachbardorf Sasawne ihre Zählung durchführte. Die Lehrerin wurde, trotz ihrem seltsamen Begleiter, freundlich willkommen geheissen. Aber dies hatte wohl auch damit zu tun, dass es bei einer Mehrzahl von ihnen bereits ihr dritter Besuch war. Entweder war der Mann beim Fischfang, oder die Frau war auf dem Markt beim Fischeverkaufen, oder er reparierte irgendwo Netze, oder sie besuchte ihre verheiratete Tochter in einem Nachbardorf, oder Beide waren zum Tempel gegangen. Und bei einigen Familien spürte ich, dass sie wenig Ahnung hatten, um was es ging. Eine Frau hoffte, dass ihr Sohn nun einen Job beim Staat erhalten würde, nachdem sie dessen Personendaten preisgegeben hatte. Und mich forderte sie auf, doch etwas vom mageren Fischfang – Krill und winzige Fischchen – zu kaufen, den sie während des Interviews auf dem Boden vor dem Haus sortierte.
Die Zensus-Behörde weiss, dass eine hundertprozentige Erfassung der Bevölkerung unmöglich ist, gerade in einer Gesellschaft, in der die Armen auf der Suche nach Arbeit oft von zu Haus weg sind; oder wo politische Unruhen einen Besuch der Beamten nicht zulassen. So etwa bleiben rund 200 Dörfer in Zentralindien unregistriert, weil die maoistischen Naxaliten zum Boykott aufgerufen haben und diesen dort auch durchsetzen. Die Behörde ist zufrieden, wenn sie 98% der Bevölkerung gezählt hat. Es ist eine bemerkenswerte Trefferzahl, auch wenn 2 Prozent immer noch 24 Millionen ergeben. Nur eines hat mich verstimmt: Bei mir läutete kein ‚Enumerator‘ an der Haustür. Ich weiss, ich bin in guter Gesellschaft, mit 24 Millionen weiteren Ungezählten. Aber wer gehört schon gern zur Fehlerquote?