Um Mitternacht vor dem 1.November findet in Indien ein epochales Ereignis statt. Zum ersten Mal in seiner Geschichte als Föderation wird ein Bundessaat – Jammu&Kaschmir – aufgespalten; und zum ersten Mal wird ein Bundesstaat zu einem „Union Territory“ (UT) degradiert.
Rückgriff auf koloniale Praxis
Wie so Vieles im „freien“ Indien ist auch die Institution des UT ein koloniales Erbe. Dieser legale Status ist ein Zwitter zwischen einem Gliedstaat mit seinen weitgefassten Rechten und einem Territorium, das direkt vom Zentralstaat regiert wird. Bisher waren es kleine Regionen – wie die Hauptstadt Delhi – oder ehemalige portugiesische und französische Besitzstücke – wie Pondichéry – die UT-Status besassen.
Auch Goa war ein UT, bevor es 1987 zu einem vollen Bundesstaat erhoben wurde. Nun geschieht das Gegenteil: Ein Territorium von der fünffachen Grösse der Schweiz erhält einen Lieutenant Governor als Delhis Statthalter, dem die Polizei und die Zivilverwaltung unterstellt sind. Eine Art „Diarchie“ also, wäre da nicht die vollständige Kontrolle der Finanzen durch den Zentralstaat. Sie gibt den Namen „Union Territory“ diesen verräterischen Beiklang – ein „territory“, also nicht viel mehr als eine geografische Grösse.
Im Fall Kaschmirs kommt noch viel mehr hinzu. Weil der Beitrittsvertrag aus dem Jahr 1947 dem Volk eine weitgehende Autonomie zugestand, hatte Kaschmir eine eigene Verfassung, eine Fahne, und (zumindest theoretisch) eine eigene Gerichtsbarkeit. Nur Verteidigung, Aussenbeziehungen und die Verabschiedung des Budgets wurden der Kompetenz Delhis unterworfen.
Delhis Diktat
Nun geschieht das Gegenteil: von den 309 Landesgesetzen wird die Hälfte eliminiert und durch 106 Gesetze des Zentralstaats ersetzt. Alle unabhängigen Kommissionen – wie etwa jene für Menschenrechte – werden aufgehoben; und das Obergericht untersteht nun auch formell dem Obersten Gericht in Delhi.
Bis ein neues Regionalparlament gewählt ist, folgt Kaschmir weiterhin dem Diktat Delhis (in Ladakh wird es sogar so bleiben: es bekommt kein eigenes Parlament). Die Grundrechte, namentlich freie Meinungsäusserung, Versammlungsfreiheit und individueller Rechtsschutz (Habeas Corpus) sind weiterhin ausser Kraft gesetzt.
An die tausend „politically sensitive persons“ bleiben auch drei Monate nach Einführung des Ausnahmezustands in Haft. Oppositionspolitiker aus anderen Teilen Indiens wurden bisher nicht zugelassen, mit dem besonders exquisiten Nadelstich, sie nach Srinagar fliegen zu lassen, auf dem Flughafen stundenlang warten zu lassen, um sie dann zurückzuschieben.
Eine Lücke für die „New York Times“
Auch Ausländer, allen voran Korrespondenten, dürfen nicht einreisen, wohl aber indische Journalisten, in der (berechtigten) Annahme, dass die meisten regierungsfreundlich berichten werden. Allerdings gehen dem Innenminister damit indische Mitarbeiter ausländischer Medien durchs Netz.
So berichtete eine Korrespondentin der New York Times, am Donnerstag: „As I drove into town, armed paramilitary personnel, some wearing bandannas and others with their faces covered with black masks, dotted both sides of the road. The only movement was of ambulances, riot control vehicles and locals ferrying the sick to hospitals.“
Friedhofsruhe
Dennoch ist es Delhi bisher weitgehend gelungen, zumindest gegenüber dem eigenen Publikum den Eindruck zu vermitteln, der Übergang gestalte sich friedlich und ohne Proteste der Bevölkerung. Es herrscht tatsächlich, wie die NYT-Journalistin festgestellt hatte, Ruhe. Aber es ist eine Friedhofsruhe.
Die Bevölkerung hat das Zückerchen einer allmählichen Lockerung des Ausgehverbots weitgehend ausgeschlagen. Es kommt aber auch nicht zu Zusammenrottungen. Dort, wo sie spontan entstehen könnten – beim Freitagsgebet in grossen Moscheen – bleibt das Versammlungsverbot in Kraft.
Schweigemärsche, und erst recht Steinschleuder und „Azadi’-Chöre („Azadi“ bedeutet „Unabhängigkeit“) sind aussichtslos angesichts des militärischen Lockdown. Die einzige Form der Verweigerung ist eine paradoxe: Statt der Missachtung von Verboten wird die Verweigerung von Geboten (bzw. Bewilligungen) praktiziert – auch wenn sie ins eigene Fleisch schneidet. Die Leute dürfen wieder einkaufen gehen, doch sie tun dies nur frühmorgens und abends; dazwischen gehen die Rolläden wieder runter.
Köder für Wendehälse
Es ist wie Hungerfasten: Die Not vergrössert die Entschiedenheit des Widerstands; aber sie vertieft auch die Bitterkeit und die völlige Entfremdung vom Rest Indiens. Modi und sein rabiater Innenminister Amit Shah scheinen dies hinzunehmen. Sie glauben zu wissen, dass Kaschmirer zwar gerne träumen – von der Unabhängigkeit etwa – dass sie aber als durchtriebene Geschäftlimacher gelernt haben, sich anzupassen und kleine Vorteile zu erspähen.
Tatsächlich haben Shah und der Geheimdienstchef Doval bei den Massenarresten im August sorgfältig darauf geachtet, potentielle Wendehälse in Ruhe zu lassen. Es sind meist Geschäftsleute oder erfolglose Politiker, die von den etablierten Politikerfamilien der Region geschnitten wurden.
„Auch ehemalige Terroristen sind dabei. Man hatte sie am Leben gelassen, wenn sie sich ‚umdrehen‘ liessen. Nun sind sie bereit, für den Staat das Grobe zu erledigen, wieder mit Gewalt wenn nötig. Sie alle hoffen, irgendwann einmal als Wahlkandidaten aufgestellt zu werden. Bei freien Wahlen blieben sie natürlich chancenlos – aber wer redet schon von freien Wahlen?
Leiser Widerspruch im Ausland
Im Land läuft also alles mehr oder weniger nach Drehbuch. Nur im Ausland regt sich unerwartet leiser Widerstand. Während Jahrzehnten hatte sich die ‚freie‘ Welt hinter Delhi gestellt, wenn es darum ging, den Kaschmirkonflikt als Indiens innere Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Diese Haltung hatte sich nach 9/11 noch verfestigt, waren die Terroristen des Jihad doch oft dieselben, die auch über die Waffenstillstandslinie einsickerten.
Doch nun tut Delhi der Welt den Gefallen, einen alten Eiterherd – den ältesten der Uno – herauszubrennen. Und diese zeigt sich betupft. Selbst auf den strategischen Partner USA ist kein Verlass mehr. Vor zwei Wochen kam es in einem Kongress-Hearing zu lauter Kritik an Delhis humanitärer Mission“, sogar vonseiten des State Department.
GONGO – neue Zutat im Akronym-Salat
Wie sich dagegen wehren? Indem man Politiker nach Kaschmir einlädt und ihnen die Realität hautnah vor Augen führt. Doch wie kann man verhindern, dass dabei unschöne Fragen gestellt und Zivilisten auf offener Strasse angesprochen werden? Ein mysteriöser Thinktank namens International Institute for Non-Aligned Studies hatte die Antwort: Eine Delegation von europäischen Volksvertretern, die instinktmässig mit Muslimen wenig anfangen können!
Der Vorschlag des GONGO wurde akzeptiert (GONGO ist eine hübsche neue Zutat in unserem Akronymen-Salat: Government Organised NGO). Es nahm Kontakt mit neugewählten Rechtsaussen-Vertretern im EU-Parlament auf. Eine Delegation von 23 MEPs, meist aus den Reihen der Lega, dem Rassemblement National, der AfD und osteuropäischen Regierungsparteien, erhielt prompt eine offizielle Einladung.
Das Potpourri erhielt zu Wochenbeginn ein Briefing in Delhi – durch niemand Geringeren als den Premierminister selber – und wurde darauf nach Kaschmir geflogen. Dort wurde ihnen ein Potemkinsches Dorf namens Srinagar vorgestellt: Sorgsam ausgewählte Volksvertreter, sorgsam ausgewählte Besuchsorte, sorgsam ausgewählte Journalisten.
Das Kalkül ging auf – fast. Die MEPs zeigten sich dankbar über die Gratisreise. Sie waren beeindruckt von den Anstrengungen der Regierung, die des weltweiten Terrors Herr werden will: Und klar brauchte diese dafür Rückendeckung, sprich: die Garantie, dass sie frei schalten und walten konnte, um eine „innere Angelegenheit“ Indiens zu erledigen.
Wird Angela Merkel aus dem Schatten treten?
Die etwas unerfahrenen Diplomaten der Modi-Regierung hatten allerdings gerade diesen Anspruch aufs Spiel gesetzt, als sie ausländische Parlamentarier einluden. Und hatten sie nicht ihren eigenen Politikern den Zutritt verwehrt, den sie den Ausländern zugestand? Ein Entrüstungssturm brach los, dem sich sogar Stimmen aus der Regierungspartei beimischten. Und auch der EU-Reisegruppe war nicht mehr wohl. Thierry Mariani vom Marine Le Pens RN, meinte entrüstet: „Sie nennen uns Faschisten und haben damit unser Image besudelt.“
In den nächsten Tagen steht ein deutscher Grossbesuch an, angeführt von der Bundeskanzlerin. Es wird sich weisen, ob Angela Merkel den Mut hat, aus dem Schatten herauszutreten, den europäische Parlamentarier mit ihrer General-Absolution in Sachen Kaschmir geworfen haben. Allerdings – sie wird von einer hochkarätigen Geschäftsdelegation begleitet. Die Herren Modi und Shah können also einigermassen zuversichtlich sein.