Oder sind es tieferliegende Tabus, die Regierungsführung unterwandern und die Armen stigmatisiert? Diwali, die indische Weihnacht, ist vorbei. Die Öllampchen auf den Simsen der offenen Fenster sind verschwunden, der Rauch der Knallkörper hat sich verzogen. Aber nach dem Fest ist vor dem Fest. Schon kündigt sich das Chath-Fest an, damit nach der Göttin Lakshmi der Sonnengott nicht zu kurz kommt. Und nun entdeckte ich beim Morgenspaziergang wieder ein brennendes Öllämpchen, in profaner Gesellschaft: In einem Kartondeckel beim Hauseingang abgestellt, darin ein stielloser Reisbesen, ein bisschen Asche und Dreck, ein Krapfen (gefüllt mit einer Paste aus Kokosfleisch, Koriander und Honig), Agarbattis und Blumenknospen.
Was soll dies denn jetzt? fragte ich den Gärtner. Er lächelte etwas beschämt. „Bhalli“, sagte er. Wer ist Bhalli? Ein böser Geist, ein ‚Bhuut‘, quasi der Gott des Abfalls. Mit der Demutsgeste eines Lämpchens und einer kleinen süssen Versuchung soll auch er zufriedengestellt werden und der Hausfrau helfen, ihr Haus sauber zu halten. Dies tut er recht gut, denn die meisten Hütten, die ich in Indien betrete, sind sauber, das Metallgeschirr glänzt, der Vorplatz wird täglich gereinigt. Nur: Was tut Bhalli mit den Überresten seines Geschenks? Nichts. Es wird draussen gelassen, der Morgentau lässt den Karton verfaulen, streunende Hunde schnappen sich den Krapfen, der geweihte Dreck wird wieder.. normaler Abfall.
Weg damit, auf die Strasse!
Es ist das alte indische Lied, und die Tonart lautet NIMBY – ‚Not In My Back Yard‘: Was drinnen ist, ist mein Heim, heilig und sauber; was draussen ist, geht mich nichts an. Also: Weg damit, über die Mauer, oder auf die Strasse. Der Beweis liegt buchstäblich auf der Strasse. Jeder Indien-Besucher greift zum Reinigungstüchlein und hält es sich vor die Nase, wenn er an diesen Abfallhalden vorbeihastet. Sie sind eines dieser allindischen Symbole, die beweisen, dass Indien ein einig‘ Land ist, nicht nur in seinen Göttern und Tempeln, sondern auch in der Indifferenz gegenüber ihrem Abfall.
Auch der Körperabfall gehört dazu. Von den (laut UNO) 1.1 Milliarden Menschen, die sich im Freien erleichtern, leben 58 Prozent in Indien. Das ergibt pro Tag etwa 500 Millionen Darmentleerungen auf die heilige indische Erde. Wer in Indien mit dem Zug unterwegs ist, kennt sie, diese Freiluft-Toiletten. Keiner hat es so drastisch beschrieben wie V.S.Naipaul, als er in ‚Area of Darkness‘ von diesen kauernden Gestalten sprach, „eternal and emblematic, as Rodin‘s ‚Thinker’: They defecate mostly on the Railway tracks. But they also defecate on the beaches; they defecate on the hills; they defecate on the river banks; they defecate on the streets; they never look for cover.”
“Zuerst Toiletten, dann Tempel”
Es wäre unfair, zu behaupten, dass sich nur Indienfahrer darüber aufhalten. Gandhi hat es vor bald hundert Jahren getan, als er von Indien als einer einzigen grossen Latrine sprach. Nun erhielt er endlich auch von einigen prominenten Politikern Zuspruch. Jairam Ramesh, Minister für Ländliche Entwicklung, meinte letztes Jahr, Indien habe mehr Tempel als Toiletten: „Wir mögen in noch so viele Tempel gehen, wir werden nicht erlöst werden. Toiletten und Reinlichkeit verdienen Priorität“. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich. Die BJP warf Ramesh vor, „das feine Gewebe von Religion und Glauben“ beschmutzt zu haben. Doch nun hat ihr Spitzenkandidat Narendra Modi kürzlich dasselbe gesagt: „Mein Image erlaubt es mir nicht, dies zu sagen, doch in Wirklichkeit denke ich: Zuerst Toiletten, dann Tempel“.
Der Ausspruch des Hindu-Politikers ist wichtig, weil der Hinduismus mitverantwortlich ist für diese merkwürdige Ambiguität von Sauberkeit und Dreck. Für den traditionellen Hindu ist jeder körperliche Abfall - Kot, Urin, Haar, Ohrenschmalz, Eiterbeulen, Blut, Ausdünstungen – tote Materie, die man sich ‚vom Leib hält‘, will man sich nicht rituell verunreinigen.
Wenn es die Kastenlosen nicht gäbe
Dieses Körperbild gilt auch für den physischen Körper der Heimstatt. In Bihar besuchte ich einmal eine Siedlung für landlose Familien. Jede nutzte ihre Toilette als Gerümpelkammer. Auf die Frage, wo sie denn … kam zur Antwort, „Draussen auf dem Feld“. Und warum dies? Die Frage belustigte sie. Wie können wir unseren Abfall im eigenen Haus loswerden, wir würden uns ja verunreinigen!
Es gibt einen noch perfideren Bezug zum Hinduismus, und er hat mit dem ‚sozialen Körper‘ des Kastensystems zu tun, vom Kopf in Himmelsnähe (die Brahmanen), bis zu den Füssen im Dreck – die Dalits. Wer würde sich des Abfalls von toter Materie annehmen, wenn es die Kastenlosen nicht gäbe? Und da sie sich mit den Exkrementen verunreinigen (dazu zählt durchaus auch die Leiche eines Brahmanen), ist es nur logisch, dass sie den Anschluss zur menschlichen Gesellschaft nicht verdienen. Kasten-Hindus müssen daher jede Berührung mit ihnen meiden, wollen sie nicht ihrerseits der Kaste verlustig gehen. Das ist einer der Gründe, warum Indien immer noch 750‘000 ‚Manual Scavengers‘ zählt, die anderer Leute Kot entfernen müssen.
Die quasi-religiös legitimierten Vorurteile haben sich auch im Gebälk des Staats eingenistet, obwohl die Verfassung ihm vorschreibt, den Kastenunfug zu beseitigen. Es gibt ein Gesetz, das die manuelle Säuberung von Fäkalien verbietet. Dennoch beschäftigen etwa die Eisenbahnen immer noch 170‘000 ‚Bhangis‘, die nur dies tun. Der Status dieser Dalit-Subkaste ist so tief, dass sie selbst für andere Dalits als ‚unberührbar‘ gelten.
Schulen ohne Toiletten
Es ist nicht nur eine abscheuliche Praxis, sie kommt Indien auch teuer zu stehen. Nur gerade 0.04% Prozent des Sozialprodukts fliessen in Hygiene- und Trinkwassermassnahmen, ein Hundertstel dessen, was für Nahrungsmittelsubventionen eingesetzt wird. Doch was nützt Nahrung, wenn der Magen voller Krankheitskeime ist, die jährlich den Tod von 400‘000 Kindern an Diarrhöe verursachen, von anderen ‚Killern‘ wie Typhus, Cholera, Hepatitis zu schweigen?
Auch für Sozialindikatoren wie Schulbildung hat die Stigmatisierung der Notdurft Folgen. Nur 44% der Schulen haben Toiletten für Mädchen. Es ist einer der Gründe, warum viele Eltern ihre Töchter nicht in die Schule schicken. Und sind es überhaupt 44%? Kürzlich besuchte ich eine Dorfschule in Rajasthan. Ich fragte den Schulleiter, ob es auch eine Mädchentoilette gebe. „Selbstverständlich“, sagte er. In einer Ecke des Schulareals fand ich sie, zwei kleine Kuben, bemalt mit den Konterfeis eines Mädchens und eines Knaben. Die Türen waren eingerissen, der Boden aufgebrochen. Einerlei, stellte ich fest, denn das Dorngebüsch darumherum war so dicht, dass Niemand über die Schwelle treten konnte.
Nun heftet sich die Hoffnung auf die Gates-Stiftung, die eine Toilette erfinden will, die billig, wasserlos und dennoch hygienisch ist. Denn es ist klar, dass die gute alte Wasserspülung für eine Milliarden-Bevölkerung logistisch, wirtschaftlich und ökologisch unmöglich geworden ist. Wenn’s nur eine technische Herausforderung wäre, hätten die Inder sie längst gelöst – die städtische Industal-Zivilisation errichtete vor 4500 Jahren unterirdisch bereits Frisch- und Abwasserleitungen. Aber das war vor den Ariern mit ihren Kasten-Tabus.