„August Kranti Marg“, der „Platz der August-Revolution“ in Mumbai, bezieht seinen Namen aus einem Treffen der Kongresspartei am 8. August 1942. Es gipfelte im Aufruf Mahatma Gandhis, den immer noch gewaltlosen Kampf gegen das Kolonialjoch kompromisslos zu Ende zu führen. „Do or die!“ lautete der Appell an seine Mitbürger, „Quit India!“ war die Aufforderung an die britische Weltmacht.
Am letzten Donnerstag tauchte der „Quit India“-Slogan öfter in Transparenten auf, hoch über den vielen tausend Menschen, die Kopf an Kopf im August Kranti Marg standen. Allerdings war es ein anderer Gegner, der nun zum Verlassen des Landes aufgefordert wurde: „Modi/ Shah – Quit India!“. Der Spruch kam auch als Staccato-Refrain aus den Kehlen der (gemäss Polizei) rund 20’000 Teilnehmern, bevor aus einer anderen Richtung ein neuer Slogan laut wurde.
Der häufigste lautete „Azadi“ – Freiheit. Auch dieser Ruf stammt aus der Unabhängigkeitsbewegung, und wie „Quit India!“ gewann er in den landesweiten Protesten der letzten Tage eine zusätzliche Bedeutung. Nicht nur erinnerte er an die Ideale der Unabhängigkeitsbewegung, als sich die grosse Mehrheit der Inder als Teil einer Nation fühlte. Er sollte auch klarstellen, dass „Freiheit“ eine der Errungenschaften dieses Kampfs ist, die sich die jungen Inder nicht nehmen lassen wollen.
„Ich bin ein Hindu, aber kein (Sau)hund“
Das zeigten auch die Sprüche auf den anderen Plakaten. Einer begann mit „2014 – Make in India“, bezugnehmend auf die Modi-Initiative für mehr Industrieproduktion, um dann fortzufahren: „2019 – Breaking India“. Ein Plakat sagte schlicht „Ich bin ein Hindu, aber kein (Sau)hund“. Ein weiteres war ohne Worte: Es zeigte eine Hitlerfigur, die ein strampelndes Baby hochhält, das dem Premierminister verblüffend ähnlich sieht.
Wie immer bei Protestdemonstrationen, war auch jene im Zentrum der Altstadt eine paradoxe Mischung von Bitterkeit, Zorn – und Fröhlichkeit. Die allermeisten Teilnehmer waren um die zwanzig (meine Frau und ich waren – einigermassen konsterniert – weitherum die ältesten). Wie die vielen Tausend, die nun jeden Tag in zahlreichen Städten Indiens auf die Strassen gehen, war es auch in Mumbai für die Meisten das erste Mal, dass sie politisch aktiv wurden.
Ihr Zorn ist wohlbegründet, sehen sie doch, wie eine für sie sinnlose religiöse Identitätspolitik das Land zu spalten droht, die Aussicht auf eine Karriere gefährdet und eine ganze Generation einem Überwachungsstaat ausliefern will.
Menschenrechte, Demokratie, Föderalismus, Religionsfreiheit
Aber eine öffentliche Kundgebung gibt ihnen, wohl zum ersten Mal, eine ermutigende Einsicht: Wir sind dieser Gefahr nicht allein ausgesetzt, solidarische Bürger können dem Staat die Stirne bieten. So war es denn auch verständlich, dass sich zornig skandierte Slogans abwechselten mit lachendem Klatschen, Reihen im Schulterschluss unterbrochen wurden durch kleine Kreise, die ihre Protestslogans sangen und tanzten.
Der englische (nicht französische!) Begriff Participation Mystique kam in den Sinn, dieses riskante Aufgehen von individueller Identität in eine Gruppen-Emotion. Sie erlebte ihren intensivsten Moment, als die Menge feierlich, Wort für Wort, die Präambel der Verfassung nachsprach, die ihnen eine Rednerin vorlas. Es war wie eine Erneuerung des Eids auf die Grundätze, die ihnen die Verfassungsväter vorgegeben hatten: Menschenrechte, Demokratie, Föderalismus, Religionsfreiheit.
Es war auch der Augenblick, an dem die rund 2000 aufgebotenen Polizeibeamten ihre Bambusstöcke senken konnten, mit denen sie zuvor nervös hantiert hatten. Im Gegensatz zu anderen Städten, namentlich im Norden des Landes, verlief der Protesttag im (wie ein Teilnehmer ulkte) „December Kranti-Park“ friedlich.
Polizisten verprügeln Studenten
Wie stark demokratische Grundrechte gefährdet sind, zeigte das Verhalten der Polizei vergangene Woche in den von der Regierungspartei kontrollierten Bundesstaaten (das Polizeiwesen fällt in die Kompetenz der Provinz). Dort wurde ein drakonischer Kolonialparagraph im Strafgesetz bemüht – Paragraph 144 –, der jede öffentliche Ansammlung von über sechs Personen mit Haft bestraft.
In Bangalore wurde der Historiker und Gandhi-Biograf Ram Guha verhaftet, als er an einer friedlichen Kundgebung teilnahm. Journalisten wurden mit Schlagstöcken traktiert, insbesondere, wenn ihre Pressekarte einen Muslim als Träger auswies.
In Delhi drang die Polizei in den Campus der Jamia Millia-Universität – eine von Muslimen gegründete Lehrstätte – ein. Beamte zerschmetterten Büchervitrinen der Bibliothek und leerten in Studentinnen-Schlafsälen den Schrankinhalt. Sie schlugen auf unbeteiligte Studenten ein und zwangen sie, mit erhobenen Armen und in Einerkolonne in wartende Polizeibusse zu steigen. (Die Delhi-Polizei untersteht dem Zentralstaat.)
Kaltgestelltes Internet
Ein Dutzend Stationen der U-Bahn – inzwischen die wichtigste Verkehrsader der Hauptstadt – wurde ohne Warnung geschlossen, um den Zustrom von Demonstranten und Sympathisanten zu stoppen. Noch drastischer war das Abwürgen des digitalen Verkehrs. In zahlreichen Städten wurde das Internet ebenfalls ohne Ankündigung kaltgestellt.
Gerade im Bereich der digitalen Demokratie zeigt sich, dass das neue Indien unter Modi ihre vielgepriesene IT-Kompetenz („The techno-savvy“) à la chinoise umsetzt. Eine neue Studie des amerikanischen Software Freedom Law Centre (SFLC) zeigt, dass Indien das Land ist, das weitaus am meisten Internet-Sperren verhängt. In den letzten fünf Jahren waren es 16’000 Stunden; der volkswirtschaftliche Verlust wird auf 3 Milliarden Dollars geschätzt. In Kaschmir ist das Internet seit nun 140 Tagen weitgehend abgeschaltet.
Einmal mehr sind es repressive Gesetze aus der Kolonialzeit, die als Rechtsgrundlage dienen; neben dem Strafgesetz-Paragraphen 144 ist es der Telegraph Act (von 1885!). Beide rechtfertigten mit ihren Gummi-Paragraphen („Wahrung öffentlicher Ruhe“, „öffentliche Sicherheit“) den kolonialen Polizeiknüppel. Nun werden sie von dessen Opfern gegen die eigenen Mitbürger eingesetzt.
Die grösste Protestwelle seit den Siebzigerjahren
Neu (und ermutigend) ist, dass diese Opfer in der aktuellen Protestbewegung nicht nur Muslime sind, sondern zahlreiche Bürger anderer Konfessionen. Zunächst hielten sich die Islamgläubigen zurück, eingeschüchtert von Lynchjustiz und dem sorgfältig gepflegten „Terror“-Etikett. Doch die Bilder von Teilnehmern quer durch alle Schichten, in ihrer Mehrzahl Hindus, hat sie ermutigt, auf die Strasse zu gehen.
Auch die perfide Bemerkung des Premierministers – „Man braucht nur ihre Kleider anzuschauen um zu wissen, wer (hinter den Protesten) steckt“ – hält sie nun nicht mehr zurück. Dahinter steckt aber auch die Einsicht, dass Schweigen und ein passives Wahlverhalten ihnen nichts gebracht hat; es hat die Einschüchterungspolitik nur noch ermutigt und Modi seinen Erdrutschsieg gebracht.
Seit den siebziger Jahren hat das Land keine Protestwelle von dieser landesweiten Breitenwirkung und Hartnäckigkeit erlebt. Sie hat auch die Oppositionsparteien ermutigt, ihre Kritik an der Modi-Regierung zu verstärken. Alle elf Bundesstaaten, die nicht von der BJP kontrolliert werden, haben erklärt, die landesweite Kontrolle des Bürgerrecht-Status („NRC – National Registry of Citizenship“) nicht durchführen zu wollen.
Plötzlich schweigt der Innenminister
Nun haben sich auch die regionalen Koalitionspartner Modis gegen diesen „Spaltpilz“ ausgesprochen. Es ist ein Zeichen, dass das neue Bürgerrechtsgesetz und die Volksbefragung an den Urnen Folgen haben könnten. Selbst die Regierungspartei versucht inzwischen, den Ton zu dämpfen. Die Partei hat ihren einzigen Muslim im Kabinett an die Front geschickt, um „Inklusivität“ zu demonstrieren (M. A. Naqvi ist ein nichtgewähltes Mitglied des „Oberhauses“). Er versicherte, der NRC sei „ein ungeborenes Baby“; die ganze „Aufregung“ lohne sich nicht.
Innenminister Shah, der die diskriminierende Zielsetzung seiner Migrationspolitik unverfroren ausspricht, hüllt sich plötzlich in Schweigen. Stattdessen tweetete er diese Woche Bilder seiner Teilnahme an einem Treffen zur Feier des 150. Geburtstags von Mahatma Gandhi. Es war die Tageszeitung Indian Express, die ihn darauf aufmerksam machte, dass Indiens Landesvater, wäre er am Leben, statt an einer Feier wahrscheinlich an einem Protestmarsch teilgenommen hätte.