Einmal mehr musste Indien mit fast leeren Händen von einer Olympiade nach Hause reisen – einmal Silber und viermal Bronze betrug diesmal die Ausbeute. Dennoch will das Land die Spiele von 2036 in Indien veranstalten, um sich als kulturelle Grossmacht feiern zu lassen.
Am Ende waren es hundert Gramm Lebendgewicht, die Vinesh Phogat von einer Goldmedaille trennten – und sie wogen schwerer als das Edelmetall. Im zweitägigen Final des Freistil-Ringens in der Kategorie unter fünfzig Kilogramm hatte Phogat bereits zwei Kämpfe gegen die Kubanerin Guzman Lopez gewonnen. In den verbleibenden drei Runden am zweiten Tag fehlte Phogat noch ein Sieg, um den Final zu erreichen.
Das Reglement verlangte, dass die Athletinnen am zweiten Tag erneut gewogen werden mussten. Phogat hatte nach dem erfolgreichen ersten Tag wieder gegessen und getrunken, und ihr Gewicht nahm sofort um fast drei Kilogramm zu, nicht zuletzt weil ihr «natürliches Gewicht» auf 55 Kilo geschätzt wird. Die ganze Nacht schwitzte sie sich durch – mit Saunagängen, extremen Kraftübungen in warmen Kleidern, dem Verzicht auf Wassereinnahme. Sie liess sich die Haare schneiden, und sogar ihr Leibchen wurde noch kürzer geschnitten. Es war alles vergeblich – die Waage zeigte 50,1 Kilo an.
Globales Prestige
Drei Tage vor dem Ende der Spiele, die in Indien auf geringes Interesse gestossen waren, zündete der olympische Funke doch noch und entfachte landesweit ein Feuer von Zorn, Trauer und Protesten. Sogar der Premierminister mischte sich ein und verlangte von der Jury, ein Auge zuzudrücken (kennzeichnend für ein Land, in dem eine Drei wenn nötig auch eine gerade Zahl ist). Es war kein Trost, als ein Jury-Mitglied mit dem Hinweis reagierte, der Zweite des Hundert-Meter-Lauf-Finals habe nicht protestiert, als er mit fünf Tausendstel Sekunden Rückstand auf den zweiten Platz verwiesen wurde.
Im Fall von Vinesh Phogat war es noch schlimmer. Statt einer Silbermedaille wurde sie aus dem Wettkampf ausgeschlossen und reiste nach Hause. Am Ende gewann das bevölkerungsreichste Land der Welt gerade einmal fünf Medaillen – vier bronzene und eine einzige Leichtathletik-Silbermedaille für den Speerwerfer Neeraj Chopra.
Für einen Staat, der gern als kommende Weltmacht auftrumpft, lässt sich mit einem solchen Palmarès wahrhaftig kein Staat machen. Hatte nicht das Gastgeberland Frankreich soeben gezeigt, wie sehr sich mit Sport eine gewaltige Portion Soft Power anhäufen lässt, ein globales Prestige, das sich über den Transmissionsriemen der Wirtschaft auch in politische Macht ummünzen lässt? Gerade Narendra Modi lässt keine Gelegenheit aus, um die 3000-jährige Kultur Indiens als beste Voraussetzung für den Rang der führenden Soft-Power-Nation zu preisen.
Dies ist auch der Grund, warum der Premierminister die Losung ausgegeben hat, die Olympischen Sommerspiele von 2036 nach Indien zu bringen. Es ist wohl kein Zufall, dass in Ahmedabad, der grössten Stadt von Modis Heimatprovinz Gujerat, bereits grossflächig Landreserven gebildet werden und erste Stadien in Planung sind.
Kein Ruhmesblatt
Bisher galt es als selbstverständlich, dass ein Land eine aktive und vielfältige Sportkultur aufweisen muss, um für die Durchführung der Spiele ernsthafte Chancen zu haben. Die kümmerliche Medaillen-Ausbeute, die indische Sportler und Sportlerinnen alle vier Jahre nach Hause bringen – in 120 Jahren bis 2012 waren es 35 – sind kein Ruhmesblatt für die Nation. Selbst in Sportarten, in denen Indien früher regelmässig Gold erntete – etwa Landhockey –, muss es seit vielen Jahren mit dem zweiten oder (wie in Paris) dem dritten Rang vorlieb nehmen.
Nun soll aber eine neue olympische Disziplin Abhilfe schaffen. Bereits bei den nächsten Sommerspielen in Los Angeles wird auch Cricket dabei sein. Zwar ist Indien nur eine der führenden Cricket-Nationen. Doch hier kann das Land endlich seine Bevölkerungsgrösse in die Waagschale werfen. In keiner anderen Sportart – einschliesslich Fussball – und nirgendwo sonst gibt es so viele fanatische Fans wie in Indien.
Klingende Namen
Endlich kann das Land seine Soft-Power-Ambitionen in eine harte wirtschaftliche Währung monetisieren. Die Regierung Modi weiss nur zu gut, dass das Internationale Olympische Komitee auch ein Marketing-Gigant ist. Wenn Modi also die Chance bietet, dem IOK eine zusätzliche Milliarde Menschen an die Bildschirme zu bringen, werden aus den fünf olympischen Ringe plötzlich fünf … bare Münzen. So ist es denn nicht verwunderlich, dass Indien bereits heute im obersten Gremium des IOK vertreten ist – und zwar durch eine Frau mit einem illustren, diamantenbestückten Namen: Nita Ambani.
Die Frau des reichsten Inders Mukesh Ambani hat nun ein Jahr lang die Hochzeit ihres Sohnes gefeiert, mit gigantischen Festen in Indien und Celebrity Partys überall auf der Welt, die insgesamt gut und gern 500 Millionen Dollars gekostet haben. Mit Hilfe eines obszönen Finanz-Exhibitionsimus – Nita trug an einem Abend Schmuck im Wert von 435 Millionen US-Dollar auf ihrem Körper – und klingenden Namen wie Zuckerberg, über Beyonce, Sarkozy, Infantino, Blair, Boris Johnson, Hillary Clinton und so weiter – hielt sie sich und ihre Familie immerhin weltweit in den Klatschspalten.
Klirren der Champagner Gläser
War es gut investiertes Geld? Betrachtet man die Scharen illustrer Gäste, die sich während der Pariser Spiele in einem speziell errichteten Pavillon in der Nähe des Bois de Boulogne um Frau Ambani drängten, beginnt man daran zu glauben. Sie nannte ihn «India House», die Bezeichnung, die Indiens Regierung für eine Reihe ihrer Botschaften verwendet. Und es sah genau so aus, als wäre sie die offizielle Botschafterin. «India has arrived», rief sie in das Klirren der Champagner-Gläser hinein, um damit die Kampagne für die Olympia-Kandidatur von 2036 zu lancieren.
Lässt sich mit viel Geld der Zuschlag für die Organisation einer Olympiade kaufen? Was für die FIFA recht ist, sollte für das IOK billig sein. Gerade die Ambanis, die ihren Reichtum u. a. ihren guten Kontakten mit der Regierung verdanken, haben bewiesen, dass sie willig sind, hoch zu pokern. Doch lassen sich damit auch Spitzensportler züchten, die nötig wären, so dass Indien in den beiden nächsten Spielen Medaillen zuhauf abräumen kann, um überhaupt in die Ränge eines offizielle Kandidaten zu kommen?
Das Beispiel der Freistil-Ringerin Vinesh Phogat aus einem Dorf in Rajasthan zeigt, dass es auch in einem Land mit knapp anderthalb Milliarden Menschen genügend Talente gibt, aus denen weltbeste Sportler geformt werden können. Doch der Seitenblick auf Neeraj Chopra, der bei den Spielen von 2020 in Tokio als erster indischer Leichtathlet Gold nach Hause brachte (und in Paris die Silbermedaille gewann), ist ein Hinweis, dass es dafür auch eine intakte physische und organisatorische Infrastruktur braucht. Chopra hat die letzten sechs Jahre nämlich mit Trainings in der Schweiz verbracht.