Am 1.Dezember übernahm Indien die Präsidentschaft der G-20-Länder. Trotz der kurzen Amtsdauer will die Regierung die Chance nutzen, um international endgültig ihren Grossmacht-Status einzufordern.
Einhundert historische Bauwerke leuchteten in der ersten Dezemberwoche jede Nacht in den Nationalfarben Orange, Weiss, Grün auf und umrahmten das blaue Logo des G-20-Staatenverbunds. Es war Teil einer gross angelegten Image-Kampagne, um Indiens Präsidentschaft im Gremium herauszustreichen.
Es ist erst das fünfte Mal, dass eine Vertreterin des globalen Südens diese Ehre zuteil wird, nachdem 2008 der Zusammenschluss von zehn Industrie- und zehn Schwellenländern von einem Finanzminister-Treffen zu einem Gipfeltreffen aufgewertet worden war. Der Zufall will es, dass die Führungstroika mit Indien als Vorsitzendem, Indonesien als dem letztjährigen und Brasilien als nächstem Präsidenten erstmals mit Schwellenländern besetzt wird.
Mehr als ein «Talking Shop»
Bereits beim letzten Gipfel in Bali Mitte November hatte die indische Delegation klargemacht, dass es mit dem Vorsitz mehr vorhat als nur einen kurzen Stafettenlauf. Es kann dabei auf den Rückenwind zählen, den die Einrichtung der G-20 in den letzten Jahren erfahren hat. Aus einem der zahlreichen periodischen «Talking Shops» verwandelt sie sich allmählich zu einem effizienten Konstrukt der Weltdiplomatie. Es ist keine feste Institution mit einem Verwaltungsapparat, sondern sie nutzt die administrativen Strukturen der Präsidentschaft, die jedes Jahr wechselt.
Auch inhaltlich hat die G-20 seit einigen Jahren begonnen, den ökonomischen Rahmen aufzubrechen und drängende globale Probleme aufs Tapet zu bringen. Wenn es eines zusätzlichen Beweises bedurft hätte, dass ökonomische Zielsetzungen aufs engste mit politischen, sozialen und Umwelt-Faktoren verquickt sind, dann liefert dies neben Klimakrise und Pandemie seit diesem Frühjahr der Ukraine-Krieg.
Das Leitthema des Indonesien-Gipfels – Recover Together, Recover Stronger – hatte zumindest in der Tagesordnung noch einen wirtschaftlichen Fokus. Doch der Konferenzverlauf zeigte rasch, dass die weltumspannenden Krisen von Erderwärmung, Krieg und Gesundheitskatastrophe systemisch verwoben sind und gewaltige Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung nehmen.
Mehrheit gegen Moskaus Ukraine-Krieg
Genau diese Verzahnung wurde in den verschiedenen G-20-Foren in Bali aufgenommen und bildete die Leitschnur des Abschluss-Communiqués. Selbst beim einzigen offen ausgetragenen Streitpunkt der russischen Militär-Aggression kam es zu einer klaren Aussage. Obwohl sich China gegen einen Erwähnung gesträubt hatte, gelang es Indonesien und Indien, einen Text durchzusetzen, der in der Formulierung gipfelte, dass «die meisten Mitgliedstaaten» den Krieg verurteilten.
Zwar fehlte am Ende die Einstimmigkeit, aber im Gegenzug wurde der Textentwurf verschärft – von «vielen» Mitgliedstaaten zu den «meisten». Ausgerechnet Indien hatte laut indischen Medienberichten diese Änderung vorgeschlagen. Sie interpretierten dies als Bemühen Indiens, den Ruf loszuwerden, es stehe quasi in Äquidistanz zu den beiden Konfliktparteien. Delegationsmitglieder verwiesen immer wieder auf eine Aussage Premierminister Modis vor einigen Monaten. «This is no time for war» hatte er bei einem multilateralen Treffen in Zentralasien dem russischen Präsident ins Gesicht gesagt.
Ob sich Indien in seinem G-20-Präsidialjahr als Vermittler in Position bringen will, wie indische Berichterstatter vermuteten, bleibt vorläufig Spekulation. Immerhin war es Indien gelungen, China buchstäblich zu «neutralisieren», das vergeblich versucht hatte, den abwesenden russischen Präsidenten vor einer Verurteilung zu schützen. Am letzten Wochenende liess die Regierung in Delhi verlauten, dass das alljährliche Spitzentreffen zwischen Präsident Putin und Premier Modi abgesagt wurde – wegen «Terminschwierigkeiten» des Letzteren.
In seiner Abschlusserklärung erwähnte Premierminister Modi einen weiteren Punkt des Communiqués, der eine verstärkte politische Rolle der G-20 und ihres Präsidiums legitimiert. Er fordert eine tiefgreifende Reform der multilateralen Sicherheitsarchitektur (sprich: der Uno), da diese den Herausforderungen von heute nicht mehr gewachsen sei.
Modis Vorliebe für wohlklingende Slogans
Indien fordert seit langem eine solche Reform, u. a. auch eine stärkere Vertretung des Globalen Südens in den internationalen Entscheidgremien. Genau diese Gewichtsverteilung ist mit der paritätischen Besetzung der G-20-Mitgliedschaft gelungen. Im Gegensatz zur Uno besteht sie aus einer selektiven Mitgliedschaft. Die grössere Entscheidungsfähigkeit geht allerdings auf Kosten einer mangelnden demokratischen Legitimation. G-20-Mitglieder kontern diesen Vorwurf mit Statistiken: 85 Prozent des globalen Wirtschaftsprodukts werde von G-20-Staaten erarbeitet, sie bestritten 75 Prozent des Welthandels und machten zwei Drittel der Weltbevölkerung aus.
Das Thema, das Indien seinem Präsidialjahr an die Flagge hängt, trägt implizit diesen universalen Vertretungsanspruch mit: One Earth, One Family, One Future. Der Premierminister, bekannt für seine Vorliebe für wohlklingende Slogans, beeilte sich, hinzuzufügen, dass Indien mehr als nur Floskeln liefern werde. Als Vertreter des Südens – und eines Landes, das die global grösste Zahl armer Menschen aufweist – werde er der akuten Nahrungsmittelkrise oberste Priorität einräumen, gefolgt von der Energiesicherheit. Beide Krisen könnten nur bewältigt werden, wenn die entsprechenden Finanzinstrumente bereitgestellt würden. Und die Klammer dieser beiden Klumpenrisiken bilde der Krieg, wie dies die blockierten Nahrungs- und Düngemittel in den ukrainischen Häfen dramatisch verdeutlicht hätten: «Today’s fertilizer shortage is tomorrow’s food crisis.»
Das Klischee der «One Family» wird von Narendra Modi oft bemüht, um ein Mäntelchen über die vielen Rissstellen der indischen Gesellschaft zu ziehen. Besonders in internationalen Foren wird er nicht müde, die Familie als Indiens stärkste Institution zu preisen. Das mag durchaus zutreffen, wie dies allein schon im gesellschaftlichen (und ökonomischen) Gewicht der Hochzeitsindustrie zum Ausdruck kommt.
Widersprüche in Sachen Familien-, Friedenspolitik und Klimapolitik
Das Gegenbild ist aber auch die Tatsache, dass in indischen Familien ebenso systematisch gestritten wie geliebt wird. Die indische Justiz ist deshalb so überladen, weil gemäss Schätzungen in zwei von drei Rechtsfällen über Familienstreitigkeiten verhandelt wird. (Nur etwa fünf Prozent sind Scheidungsklagen.) Es mag sein, dass auch die Welt-Familie ähnlich zerstritten ist. Aber ob Indien dank seiner einschlägigen Erfahrung mit den internationalen Familienfehden besser zurechtkommt, darf bezweifelt werden.
Ein ähnliches Paradox bildet die Friedenspolitik, die Modi bei Indiens einjährigem Auftritt auf der Weltbühne voranbringen will. Es ist fast unvermeidlich, dass sich die Regierung dabei bei Mahatma Gandhi und seiner Philosophie des gewaltlosen Widerstands bedient. Der Premierminister geht auch im Rahmen der G-20-Präsidentschaft mit dem Image des Friedensapostels hausieren. Dabei muss er sich unvermeidlich die Frage gefallen lassen, ob er in seiner Sozial- und Innenpolitik nicht gerade das Gegenteil dieser Philosophie vorexerziert.
Ebenso krass wirken die Zielkonflikte in der Klimapolitik zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit (wobei Modi hier in guter Gesellschaft ist – predigen die reichen Länder doch ähnlich unverfroren Wasser und trinken Wein dabei). Die indische Regierung behilft sich des Wortpaars von naher und ferner Zukunft, um aus der logischen Schlinge zu schlüpfen: Mittelfristig müssen wir klimaneutral werden, kurzfristig müssen wir wachsen, und das heisst: Kohlekraftwerke bauen, Kochgas und Treibstoff subventionieren, und das Land mit Autobahnen zubetonieren.
Ehrgeiziges Gastgeberland
In den nächsten Wochen und Monaten werden in Indien rund 2500 Delegierte aus den G-20-Ländern erwartet. Sie sollen neben dem Thema Klima über weitere sechs globale Problembereiche Entscheidungshilfen für den nächsten Gipfel erarbeiten. Der Premierminister hat den ganzen Regierungsapparat in Delhi und in den Bundesstaaten aufgefordert, den G-20-Besuchern – und damit der Welt – das Bild eines gastfreundlichen, sauberen, demokratischen Musterstaats vorzuführen.
Eine Reihe der Vorbereitungstreffen werden in Provinzstädten durchgeführt. Offiziell soll damit der föderalistische Geist demonstriert werden, den die grösste Demokratie der Welt auszeichnet. Böse Zungen argwöhnen, dass die «Megacities» – vor allem Delhi – ausgelassen werden, weil viele Delegierte sonst gar nicht anreisen würden.
«Das sind Fake-News»
Auch Mumbai, meine indische Wohnheimat, hat bei der anhaltenden Windstille über der «Arabien Sea» so viel toxische Gase in die Luft gemischt, dass es vergangene Woche sogar Delhi mit dem höchsten AQI-Index den Rang abgelaufen hat. Am Donnerstag berief der Chefminister von Maharashtra vor dem malerischen «Gateway of India» Medien und Verwaltung in ein Riesenzelt, wo er im Hinblick auf die G-20-Treffen gleich 500 Projekte lancierte.
Ich sah zu, als eine Kavalkade von Autos vorbeifuhr, während sich in den abgeriegelten Nebenstrassen Staus bildeten, Touristen aus Taxis und Bussen stiegen und in einer Wolke von Abgasen das Weite suchten. Ein frustrierter Besucher fuchtelte mit der «Times of India», in der ein Inserat bekanntgab, der «Gateway» werde an diesem Tag wieder offen sein. Er reichte das Blatt durch den Gitterzaun einer Polizistin. Sie schaute kurz hin und quittierte strengen Blicks: «Das sind ‘Fake News’.» Mit den 500 Projekten wird’s ähnlich sein.