Kalkutta ist eine Stadt für Frühaufsteher, denke ich am ersten Tag einer kleinen Ostindien-Reise. Morgens um Sechs ist der ‚Maidan‘ bereits voller Spaziergänger. Vor 200 Jahren war diese riesige Grünfläche im Stadtzentrum noch das Glacis unter den Mauern des britischen Fort Williams, das jeden Angreifer zum Freiwlld der Geschützbatterien machte.
Heute donnern vollbesetzte Busse schon frühmorgens durch die breiten Avenuen, die den ‚Maidan‘ durchschneiden. Jeder Spaziergänger ist gewarnt, wenn er das Fussgängersignal anschaut. Es ist ein Strichmännchen, dessen Arme und Füsse wie wild vor und rückwärts zucken: ‚Spute Dich, wenn Dir das Leben lieb ist‘.
Auch in Katna, einem kleinen Dorf nahe der Grenze zu Bangladesch, wecken uns am frühen Morgen nicht nur Vögel und anderes Federvieh. Es ist auch das Schnattern der Schulkinder auf dem Schulweg durch die Reisfelder, denn um Sieben ist Schulbeginn in der ‚Jagriti-Schule‘.
Zweitausend Kilometer lange Zeitzone
Ist es wie Arbeitseifer, der die Leute so früh aus den Federn holt? ‚Arbeitsame Inder‘ – ist das nicht ein Oxymoron? Oder sind es die Bengalen, die im Unterschied zu ihren Mitbürgern in Delhi und Bombay nicht warten können, ihre Hemdsärmel aufzurollen. Kaum, denn ausserhalb des Gittertors des Oberoi-Hotels bleibt der Schmutz des Vortags bis tief in den Vormittag unangetastet liegen.
Doch das Vorurteil des arbeitsscheuen Inders gehört in denselben Abfallkorb wie das Cliché des arbeitswütigen Deutschen oder Schweizers. Für die frühmorgendliche Munterkeit der Bengalen schlägt die simple Tatsache zu Buche, dass ganz Indien eine einzige Zeitzone darstellt. Sie reicht von der Grenze zu Pakistan bis zu jener von Burma, zweitausend Kilometer weiter östlich – etwa die Distanz zwischen Irland und dem Ural. Wenn in Delhi die Beamten ihren Nachmittagstee schlürfen, brennen in Imphal im Grenzstaat Manipur bereits die Strassenlampen, und über die Dörfer Ostindiens legt sich ein Rauchschleier, das untrügliche Zeichen, dass in den Hütten das Abendessen auf dem Feuer steht.
Zeit ist Geld
Bei der Festlegung der Zeitzonen nach der Unabhängigkeit von 1947 – fünfeinhalb Stunden vor GMT, eine halbe Stunde nach Bangladesch, eine halbe vor Pakistan – beschloss das Parlament die ‚Indian Standard Time‘ (IST). Es war der Preis auf dem Altar einer brüchigen nationalen Einheit. Die Abkoppelung Pakistans hatte dem Land vorgeführt, dass die zivilisatorische Einheit des Subkontinents von tiefen Bruchlinien durchzogen war. Die neugewonnene politische Einheit durfte nicht durch die Schaffung neuer Trennlinien – zwei Zeitzonen etwa – gefährdet werden.
Es war die Zeit, als für das ausgehungerte Land Produktion wichtiger war als Produktivität. Solange sich das Land entwickelte, war es unwichtig, wie viel Zeit dies in Anspruch nahm, umsomehr als der Faktor Arbeit denkbar billig war. Inzwischen gilt aber auch für Indien immer mehr die Gleichung ‚Zeit ist Geld‘. Und eine einzige Zeitzone verschwendet, so die Kritiker der IST, produktive Ressourcen, ähnlich wie vor der europäischen Aufteilung in Sommer- und Winterzeit; nur verlangte im Fall Indiens nicht die Jahreszeit, sondern die Geografie eine Differenzierung.
Wie die USA oder die EU
Kürzlich meldete sich der Regierungschef von Assam zu Wort und verwies auf die wirtschaftlichen Verluste, die die frühe Abenddämmerung seinem Bundesstaat bringt. Die Tee-Produktion ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor von Assam. Wegen der frühen Abenddämmerung, so Herr Gogoi, hört die Arbeit in den Teegärten bereits um vier Uhr auf, statt eine Stunde später. Die verlorene Stunde lasse sich nicht durch das frühe Morgenlicht kompensieren, denn der Arbeitsbeginn der Schulen und der öffentlichen Verwaltung sei national festgelegt und richte sich nach den Bedürfnissen im Westen Indiens.
Das Echo im Land war positiv, und Leitartikel rieten der Regierung, dem Vorschlag Assams Folge zu leisten, umsomehr als sich das wirtschaftliche Ungleichgewicht des Landes ohnehin immer mehr zugunsten der westlichen Hälfte verschiebt. Allein der Verbrauch elektrischer Energie, der am frühen Abend Spitzenwerte aufweist, würde sich um 18% senken, wenn es im Osten eine Stunde länger Tag sein darf.
Doch bald meldeten sich auch die Experten zu Wort. Sie anerkannten, dass andere Wirtschaftsräume von subkontinentaler Grösse, etwa die USA und die EU, die Schwierigkeiten unterschiedlicher Zeitzonen (Umstellung der Uhren, unterschiedliche Bürozeiten) gut bewältigten. Warum also nicht ein Industriestaat wie Indien?
Übergewicht des Westens
Weil in Indien industrielle Strukturen noch lange nicht die Norm sind, lautete die Antwort der Wissenschafter. Und sie zitierten das Beispiel der Eisenbahnen, für die unterschiedliche Zeitzonen eine logistische Herausforderung darstellt. Viele Züge werden immer moch manuell abgefertigt, und die Kontrollen von Station zu Station laufen häufig noch über Telefonverbindungen. Zudem seien ein Grossteil der Eisenbahn-Trassen einspurig, was die Gefahr von Zusammenstössen weiter erhöhe.
Dies gilt gerade für die Regionen im zentralen Indien, wo die Zeitgrenze im Fall von zwei Zeitzonen überquert würde und deshalb ein Vor- und Nachstellen der Uhren nötig wäre. Es sind nicht dünnbesiedelte Regionen, mit natürlichen Scheiden wie Berge oder Wüsten. Sie sind im Gegenteil dicht bevölkert und arm.
Dazu kommen politisch-wirtschaftliche Argumente. Das Übergewicht des Westens würde sich noch verstärken. Die meisten Wirtschaftszentralen der nationalen und internationalen Firmen liegen nämlich in der Westregion, und deren Arbeitszeiten würden sich gegenüber ihren Filialen im Osten durchsetzen. Was bedeuten würde, dass die effektiven Arbeitszeiten und die in Arbeitsverträgen garantierten immer mehr auseinanderklaffen würden. Mit anderen Worten: man würde in Kalkutta eine Stunde länger arbeiten.
Solomonischer Vorschlag
Was tun? Im ‚Indian Express‘ behaupteten zwei Wissenschafter, es gebe einen Ausweg aus dem Dilemma. Die einheitliche Zeitzone müsse beibehalten werden, hiess es salomonisch, aber sie müsse geändert werden. Wie das? Indem die ohnehin unschöne Zeitdifferenz von fünfeinhalb Stunden zu Greenwich für das ganze Land auf sechs Stunden erhöht wird. Damit würde der Osten des Landes eine halbe Stunde gewinnen und könnte so Arbeits- und Tageszeit besser aufeinander abstimmen. Im Westen des Landes würde der halbstündige ‚Verlust‘ kaum wahrgenommen.
Es ist nicht wahrscheinlich, dass die Neuerung in der nahen Zukunft durchgeführt wird. Verglichen mit den meisten anderen Ländern hat Indien immer noch viel Zeit. Alles hier dauert länger, vom Grossen bis zum Alltäglichen. Ich erinnere mich an eine deutsche Delegation, die 1971 nach Bombay gekommen war, um über die Finanzierung einer Brücke über die Hafenmündung zu verhandeln. Nun soll sie, ein halbes Jahrhundert später, bis 2018 gebaut werden. Und wer einen Termin hat, muss nicht nervös werden, wenn er sich verspätet – dem Gesprächspartner wird‘s nicht besser gehen. Seit einigen Wochen trage ich eine Uhr, die ‚Ish-Watch‘ heisst. Sie gibt nur noch vier Zeiten an: ‚twelve-ish, three-ish, six-ish und nine-ish‘. Sie passt mir ausgezeichnet. IST? ‚Indian Stretchable Time!‘.