Reisende kennen das Gefühl. Man ist am neuen Ort, befolgt dessen Verhaltensregeln, und ist dennoch nicht angekommen. Gefühle und Erinnerungen sind noch woanders, die Träume ebenfalls. Erst die genaue Zeitungslektüre wird bei mir nach langer Abwesenheit zum Punkt, wo ich wirklich ankomme. Ich folgte dem Ritual des Vorjahres, wählte das Datum, die Zeitung: Indian Express, 1.Oktober 2015. Was fand ich vor?
Ich wusste es bereits aus Gesprächen mit Freunden und Familie. Dennoch war es ein Schock, als ich am Stichtag dem Express auf den Leib rückte: Die Beziehungen zwischen den Religionsgruppen, namentlich zwischen Hindus und Muslimen, haben sich in einem Jahr dramatisch verschlechtert. Präziser: Immer unverfrorener lassen Hindus die Minderheit(en) spüren, wer Herr im Haus ist.
„They shall be hanged by their neck“
Zugegeben – es war ein Zufall, dass just am Vortag das Urteil über die Eisenbahnanschläge von 2006 verkündet wurde. 189 Menschen waren damals ums Leben gekommen, als in fünf Vorortszügen von Bombay Dampfkochtöpfe explodierten, von den fünf Angeklagten zur Hauptverkehrszeit unter Bänken platziert. Das Urteil fiel entsprechend hart aus: „They shall be hanged by their neck till they are dead“, zitierte der Express den traditionellen Richterspruch.
Man mag mit der Todesstrafe für Terrorakte einverstanden sein oder nicht; aber dies war nicht die Frage, worauf die zweite Titelgeschichte einging. Dort nämlich berichtete der Terror-Experte der Zeitung, dass die Bestraften möglicherweise gar nicht die Attentäter waren. Neben der Anklage gegen Mitglieder des islamischen Studentenverbands SIMI durch die Anti-Terror Squad hatte die Kriminalpolizei in drei Bundesstaaten eine andere Verschwörergruppe als wahrscheinliche Attentäter ausgemacht. Ein Mitglied der Indian Mujaheddin hatte in der Haft gestanden, die Attentate verübt zu haben, und detailliert über Vorbereitung und Durchführung ausgesagt.
Das Publikum wollte Blut sehen
Das Gericht gab sich gar nicht die Mühe, die beiden Fälle gegeneinander abzuwägen. Es liess die zweite Version mit ihren anderen Verdächtigen einfach beiseite. Es ging auch nicht auf den Einwand der Verteidigung ein, der Schuldspruch basiere allein auf der umstrittenen Methode einer Narkoanalyse.
Einmal mehr erhebt sich der Verdacht, schrieb der Express, dass der Einzelrichter der Wahrheitsfindung aus dem Weg ging. Stattdessen pickte er die usual suspects einer radikalen – aber wohl kaum terroristischen – Organisation heraus. Bereits vor einigen Monaten wurde für ein anderes Attentat ein Mann namens Yakub Memon gehängt, obwohl alle Anzeichen darauf hinwiesen, dass nicht er, sondern sein Bruder der Hauptschuldige war. Aber dieser lebt in Pakistan, und das Publikum wollte Blut sehen.
Kuhfleisch im Kühlschrank
Es war die dritte Schlagzeile des Tages, die solchen Verschwörungstheorien Gewicht gibt. ‚A BJP Leader blames the Victim, lautete sie kryptisch. Doch jede Express-Leserin wusste gleich, worum es ging: Zwei Tage zuvor war in einem Dorf namens Bisara – eine Fahrstunde ausserhalb Delhis – ein Mob in das Haus eines Muslims eingedrungen, schlug alles kurz und klein und schleppte Mohammed Akhlaq und seinen Sohn ins Freie. Sie wurden mit Schlagstöcken und Steinen so schwer zugerichtet, dass der Vater starb und der Sohn in einem Spital in Delhi im Koma liegt.
Der Anlass: In einem Dorftempel hatte der Hindu-Priester verkündet, Akhlaq verstecke in seinem Kühlschrank Kuhfleisch. Dies sei für die Hindus eine schwere Verletzung ihrer religiösen Gefühle. Sie dürfe nicht hingenommen werden.
Hasskampagnen gegen Muslime
Es war aber nicht diese haarsträubende Logik, die der Artikel aufs Korn nahm, sondern die Reaktionen der Regierungspolitiker bis hinauf zu Narendra Modis Kabinettskollegen. Statt die Lynchjustiz ohne Wenn und Aber zu verurteilen, nahmen sie den Mob in Schutz. Die Opfer seien verantwortlich, denn die Würde einer Kuh sei den Hindus eben wichtig – obwohl nicht einmal klar war, ob tatsächlich Kuhfleisch im Kühlschrank lag.
Der Bagatellisierung folgte gleich die nächste Drohgeste: Falls die Klageschrift auf Mord laute, werde die Partei eine Massenkampagne gegen Minderheiten-Appeasement starten. Auf der Meinungsseite des Express erklärte der Leitartikler dann den Kontext dieser Strategie: Vor zwei Jahren war in derselben Region eine Hasskampagne gegen Muslime losgetreten worden, mit zahlreichen Toten und verbrannten Siedlungen. Provinzwahlen standen an, und die BJP versprach sich aus einer Polarisierung der Wähler Stimmengewinne – mit Erfolg. Nun stehen Lokalwahlen bevor, und erneut wolle die Hindu-Partei, so sei zu befürchten, mithilfe dieser Saat des Hasses eine üppige Wahl-Ernte einbringen.
Albtraum zuhause
Ein dritter Artikel auf Seite Eins markierte einen weiteren Punkt auf dieser Fieberkurve. In Maharashtra und Goa weigerten sich die BJP-Regierungen, eine Hindu-Organisation zu suspendieren. Sie wird des Mords an drei älteren Akademikern – alle Freidenker – verdächtigt.
Insgesamt widmete diese Zeitungsausgabe der religionspolitischen Verschärfung des Klimas ein Dutzend Texte. Es waren nicht annähernd so viele wie die Berichterstattung der Vortage über die ‚triumphale’ USA-Visite von Narendra Modi. Am 1.Oktober sprach die Medienkorrespondentin des Express diese „Overkill“ an. Ist es nicht merkwürdig, fragte sie maliziös, dass die Begeisterung für den Premierminister steige, je weiter weg er von seiner Heimat ist? Der Spezial-Jet, der ihn jeweils in die Ferne trägt, führe sinnigerweise den Titel Dreamliner. Zuhause herrsche derweil der Albtraum von „Dürre und Dengue“.
Rituelle Ächtung des eigenen Kots
Am 2.Oktober feierte Indien Mahatma Gandhis Geburtstag. Er war auch der erste Jahrestag von Modis Reinlichkeitskampagne Swachch Bharat, Anlass für die Zeitung, das vom Premierminister vorgegebene Zwischenziel zu überprüfen. Das Resultat sei ernüchternd, fand sie: Nur zwei von eintausend Städten hätten eine umfassende Abfallentsorgung erreicht, und von den 52 Millionenstädten befinde sich keine darunter.
Auch bei der Errichtung von Toiletten hinken die Zahlen hinterher: Nur ein Fünftel der angestrebten 2.5 Millionen Latrinen sind ausgehoben worden. Doch der Express-Bericht kritisierte vor allem die gewählte Methode, um Reinlichkeit zu messen. Denn gerade auf dem Land besässen Millionen von Menschen Toiletten – sie erleichterten sich aber weiterhin auf dem freien Feld. Der Grund: Die rituelle Ächtung des direkten Umgangs mit dem eigenen Kot.
Tod durch den Strang
Eine Geschichte im Innern des Blattes berührte mich besonders. Sie trug den seltsamen Titel: Hand an der Gurgel, fünf Finger. Sie berichtete von den Familien der Terror-Verurteilten in Bombay. Sie wurden am Tag der Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal verbannt. Doch einige fanden im Treppenhaus eines Nachbargebäudes Fenster, von wo aus die Verurteilten zu sehen waren, als sie abgeführt wurden.
Der Reporter berichtete über die Gesten, die kurz nach dem Urteil über den Innenhof hinweg ausgetauscht wurden: Eine Hand am Hals, die andere erhoben, mit gespreizten Fingern, gestikulierte einer der Verurteilten, Sohail Sheikh. Trotz Handschellen war die Nachricht unmissverständlich: ‚Tod durch den Strang für fünf von uns’.
Treppenhaus geräumt
Im andern Gebäude zeigte ein Mann mit einer Hand auf einen Jungen, mit der anderen strich sein Zeigefinger über die Oberlippe. Will sagen: ‚Dein Bub ist fast erwachsen, er hat einen Schnauz’. Sein Vater Zamir sah es, lächelte, dann strich er sich mit beiden Händen über die Wangen: ‚Er soll sich einen Vollbart wachsen lassen’.
Asif, ebenfalls auf dem Weg in die Todeszelle, legte, so gut es eben ging, beide Unterarme übereinander und bewegte sie hin und her, als wiege er ein Kind in den Schlaf: Er wollte wissen, wie es dem Baby gehe. Doch in diesem Augenblick schritt die Polizei ein und räumte das Treppenhaus.